Nach Baku. Geil!

Eine Welt für sich: Der Eurovision Song Contest im Selbstversuch

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Der Eurovision Song Contest ist eine Welt für sich. Im Fernsehen nimmt er eine Sonderstellung als oft belächeltes, in die Schmuddelecke gestelltes, paillettenbesetztes Etwas dar, das viele ablehnen und doch sehr viele Menschen anschauen. Der Eindruck vor Ort unterscheidet sich noch einmal erheblich vom Fernseherlebnis, ist nochmals eine andere Welt.

Vor der Arena reihen wir in ein Stadionpublikum ein, das von den scheppernden Durchsagen begrüßt wird: "Herzlich Willkommen bei der größten Show der Welt", schnarrte die Stimme und man fühlte sich ein wenig, als hätte man eine Bösewichtzentrale bei James Bond betreten. Bei näherem Hinsehen offenbart sich das Publikum als ungewöhnliche Mischung: Viele Gäste tragen nationale Embleme auf dem Kopf oder als Fahne über die Schultern.

Viele Engländer laufen auch in merkwürdigen Fracks mit Union-Jack-Muster, Menschen aus aller Herren Länder haben Pappperücken aufgesetzt, die eine zu Berge stehende Frisur, das Markenzeichen der irischen Jedwards, die als Favoriten ins Rennen gingen, darstellen. Einige Frauen tragen Abendgarderobe, die meisten Jeans und T-Shirt. Insgesamt überwiegend Männer. So viele, dass die Schlange beim Klo länger ist als bei den Frauen.

Lena. Bild: Daniel Kruczynski. Lizenz: CC-BY-SA-2.0

Der erste Eindruck vom Zuschauerraum in der Arena ist überwältigend - ein Raum dessen Dimensionen man gar nicht richtig ermessen kann, weil sich das Erlebnis von Weite innerhalb eines geschlossenen Zimmers so stark von der gewohnten Erfahrung unterscheidet. Man sieht sich um, macht ein paar Fotos, wohl wissend, dass das Raumerlebnis auf der Digitalknipse nicht einzufangen ist, dann kommt der Einpeitscher, der erst das ganze Publikum und dann jedes im Finale vertretene Land mit den üblichen Ritualen begrüßt. Ungefähr so: "Can I hear that a little bit louder? Yeah, that sounds better" - oder so ähnlich jedenfalls.

Und es ist nett

Was dann folgte, war ja im Fernsehen zu sehen. Eine perfekte Show mit visuellen Effekten enormen Ausmaßes. Die Diodenwand mit 60 x 18 Metern Fläche setzt die Songs aus 25 Ländern grafisch in Szene. Die Moderatoren machen ihre Sache gut. Es geht hin und her durch Europa und musikalisch quer durch den Gemüsegarten.

Die Stimmung in der Halle kocht bei den meisten Liedern. Häufig steht die ganze Halle auf, viele klatschen oder singen mit, die Länder werden abgefeiert wie beim Einzug der Nationen bei der Eröffnung der olympischen Spiele. Fast alle Interpreten wirken erleichtert, wenn sie ihr Lied vorgetragen haben und hopsen winkend von der Bühne wenn die Scheinwerfer verloschen sind. Aus der benachbarten Männergruppe, die sich als langjährige Fans entpuppen, die dem Eurovision Song Contest über den ganzen Kontinent hinterherreisen, werden die Beiträge und Interpreten schonungslos kommentiert.

Bei Griechenland heißt es "Boah, ich hass' dieses Lied so - bitte, letzter Platz", bei Anna Rossinelli aus der Schweiz: "Schau mal der Bassist - der schönste Mann des Abends. Mann, ich könnt auf die Bühne springen!"

Insgesamt fällt es mir als Neuling beim Eurovision Song Contest schwer die Distanz zu wahren, die man gewohnt ist, wenn man die Show am Fernsehen verfolgt. Zu sympathisch, freundlich, sportlich wirkt das Ganze, als dass man Lust bekäme, sich über einzelne Beiträge lustig zu machen, wenn auch bei Weitem nicht alle Musik dem eigenen Geschmack entspricht.

Was ist schon dabei, wenn die Spanier ein Volksliedchen singen, die ganze Halle aufsteht, die Arme schwenkt und man selbst eben auch ein bisschen mitklatscht? Oder wenn man plötzlich den simplen Refrain eines stampfenden Popsongs mitgrölt? Warum eigentlich soll man sich das nicht einmal erlauben, denke ich, und mache nach einer Weile eben einfach mit. Und es ist nett.

Nach einem Kurzauftritt von Jan Delay, der sympathisch und cool rüberkommt, aber irgendwie aus dem Rahmen fällt, einfach weil er nicht zur Comunity gehört, geht es zum liturgischen Höhepunkt des Abends: der Punktevergabe.

Der große Unterschied zwischen TV-Welt und der Welt in der Halle

Und hier stellt sich nun in besonderer Weise heraus, wie sich Fernseh- und Hallenwelt voneinander unterscheiden: was in der Halle funktioniert hat, die Spanier etwa, fällt beim Fernsehpublikum durch. Umgekehrt: Raphael Gualazi, der Musiker aus Italien, erreichte das Hallenpublikum nicht, schob sich aber während der Abstimmung zur Überraschung aller Eurovisions-Experten auf den zweiten Platz.

Anna Rossinelli aus der Schweiz, bei den Fans höchst beliebt und frenetisch bejubelt, fällt durch, die Griechen, von vielen belächelt, von manchen gar verachtet, schieben sich in die Top Ten. Jegliche Nachbarschaftshilfe wird im Saal mit Buhrufen quittiert. Als sich Aserbaidschan als möglicher Sieger absetzt, ist die Freude im Fanblock groß:

Ja! Bitte Aserbaidschan! Da wollte ich schon immer mal hinreisen. Nach Baku. Geil!

Dann wird der Siegersong gesungen, währenddessen verlassen viele bereits den Saal und eilen zu den Parkplätzen. Anschließend das Fachsimpeln vor den Toren der Arena. Man ist sich einig: ein Jahrgang voller Überraschungen. Die Reihenfolge der Lieder habe eine große Rolle gespielt. Finnland wäre viel weiter vorne gelandet, wenn Paradise Oskar sein Lied nicht zum Auftakt des Abends gesungen hätte. Allgemein Erleichterung, dass nicht die Iren das Rennen gemacht und den Trashstatus des Wettbewerbs untermauert haben.

Das Versagen der Google-Prognose

Die eingeschworenen Fans wirken etwas erschöpft. "Das ist immer so. Viele, die jetzt schon die ganze Woche da waren, sind froh, dass es jetzt auch vorbei. Viele sind auch enttäuscht, weil sie irgendwelche anderen Favoriten hatten. Aber das legt sich in ein paar Tagen. Die ganzen Eindrücke müssen jetzt erst einmal verarbeitet werden", kommentiert Klaus Woryna, Präsident des Fanclubs OGAE e.V. die Stimmungslage.

Auf der Pressekonferenz die üblichen Fragen: "How does it feel to be the winner of..." Am Computer fällt mein Blick noch auf das Google-Ranking und hier tun sich ähnliche Diskrepanzen auf wie zwischen dem Saal- und dem Fernseherlebnis. Google zählt die Suchanfragen der teilnehmenden Länder, ausgenommen der Anfragen aus dem jeweils eigenen Land und vergibt an den meist Gesuchten Interpreten 12 Punkte, an den am zweithäufigsten Gesuchten 10 Punkte und so fort.

Die Suchrelevanz wird also als Indikator für die Zustimmung interpretiert. Damit hatte Google in den vergangenen beiden Jahren den Sieger vorhergesagt. In diesem Jahr liegt das Google-Ranking falsch.

Screenshot

Mehr als das. Die Zuordnung von Suchhäufigkeit und Beliebtheit scheint nicht mehr zu funktionieren. Und neben der Welt in der Halle, die sich von der Welt vor dem Bildschirm unterscheidet, tut sich noch eine dritte Welt auf, die wiederum mit den beiden anderen Welten wenig zu tun zu haben scheint.

Eine vierte Welt gibt es freilich auch noch: die Welt derjenigen, die das Ganze nicht im Geringsten interessiert. Doch es liegt meist etwas Verbissenes in der strikten Ablehnung dieses freundlichen Europawettbewerbs.

Als ich mich auf dem Weg nach Hause frage, was mir eigentlich bleiben wird von diesem Abend beim Eurovision Song Contest, denke ich, dass es wenig ist, was in mir weiterarbeiten wird. Es war ein Zirkusabend, ein Varieté mit eine Vielzahl von Nummern, die keine weitere Bedeutung haben, als eben unterhalten zu wollen. Dann frage ich mich, ob der Abend dieses Versprechen nach Unterhaltung eingelöst hat. Und diese Frage kann ich eindeutig mit Ja beantworten. Und das reicht ja eigentlich auch.

Claas Triebel ist Autor und Psychologe. Gemeinsam mit Clemens Dreyer hat er das Buch "Ein bisschen Wahnsinn - Wirklich alles zum Eurovision Song Contest geschrieben", das in diesem Jahr im Verlag Antje Kunstmann erschienen ist.

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