Vom Sturm überrascht

Zum Nakba-Tag haben palästinensische Demonstranten versucht, Israels Grenzen zu überwinden

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Nachdem im Internet zum Marsch auf die Grenzen aufgerufen worden war, fanden sich hunderte, möglicherweise tausende Demonstranten zum Marsch auf die Grenzen zu Israel ein. Die Armeen Syriens, des Libanon, Jordaniens und Israels versuchten, die Menschen mit Waffengewalt aufzuhalten, mindestens elf Demonstranten wurden dabei getötet, und unzählige verletzt; für einige Stunden geriet die Region an den Rande eines Krieges.

Die Menschenmengen kamen unerwartet, und sie kamen zu einer denkbar ungünstigen Zeit für fast jeden, der in der Region etwas zu sagen hat: In Syrien, wo mindestens mehrere hundert, möglicherweise auch einige Tausend palästinensische Demonstranten versuchten, die Waffenstillstandslinie zu den von Israel kontrollierten Golanhöhen zu überschreiten, ist das Militär derzeit damit beschäftigt, einen seit Monaten dauernden Aufstand niederzuschlagen.

Im Libanon bemüht sich derweil gerade die Regierung mehr oder weniger gut, das Land vor einem neuen Bürgerkrieg zu bewahren. Im Gazastreifen hat die radikalislamische Hamas vor einigen Wochen ihre seit mehreren Jahren währende Feindschaft mit der Fatah-Fraktion des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas beigelegt (siehe Ohne die Hamas wird es nicht gehen). Und in Israel muss die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu nahezu täglich ihre Mehrheit neu berechnen.

Unvorbereitete Sicherheitsapparate

So beschäftigt war jeder mit sich selbst, dass selbst die Medien der Region von den Massen überrascht wurden. Dies begannen am Morgen des 15. Mai 2011 - gemäß dem christlichen Kalender der 63. Jahrestag der Gründung des Staates Israel und nach palästinensischer Lesart der Gedenktag der Nakba, dem arabischen Wort für Katastrophe - damit, auf die Grenzen (zu jenen Ländern, mit denen es einen Friedensvertrag gibt) und Waffenstillstandslinien (zu jenen Ländern und Gebieten, mit denen sich Israel im Kriegszustand befindet) zu zumarschieren.

Und trafen allerorten auf einen komplett unvorbereiteten Sicherheitsapparat: In Syrien waren die Grenztruppen durch den Militäreinsatz im Landesinneren stark ausgedünnt; auf den Golanhöhen schoben nur die üblichen israelischen Kampfeinheiten Dienst. Israels Polizei, die für solche Einsätze ausgebildet ist, hingegen hatte einen Großteil ihrer in dem dünn besiedelten Gebiet ohnehin geringen Kräfte nach Jerusalem beordert, um dort dabei zu helfen, während der alljährlichen Proteste am Nakba-Tag für Ordnung zu sorgen.

Angehörige der im Norden Israels stationierten Militäreinheiten berichten, man habe mehr als eine Stunde auf Anweisungen des Generalstabs gewartet; als dann der Befehl kam, sich so gut wie möglich zurückzuhalten, waren die ersten Schüsse bereits gefallen: Die Soldaten seien von den Demonstranten bedroht worden, so die offizielle Begründung, die sich nicht überprüfen lässt.

Die Kommandeure der Schutztruppen der Vereinten Nationen, die an den Waffenstillstandslinien mit dem Libanon und mit Syrien weitere Kriege verhindern sollen, bemühten sich derweil, Kontakt zu den jeweiligen Regierungen herzustellen, um offene Kampfhandlungen zu verhindern. Die Blauhelme vor Ort versuchten währenddessen, die oft minderjährigen Demonstranten davon abzuhalten, den Grenzzaun zu den Golanhöhen zu überwinden. Denn: Das Gelände ist stark vermint. "Selbst ohne Kriegsausbruch ist es ein wirklich riesiges Wunder, dass es hier kein Blutbad gegeben hat", sagt ein österreichischer Angehöriger der UN-Mission auf dem Golan.

..auch in Gaza und im Westjordanland

Im Libanon hatte das dortige Militär indes die Anweisung erhalten, mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Demonstranten zu nah an den Grenzzaun gelangten. Das Besondere daran ist, dass die eigentliche Herrscherin im Süden des Libanon, die Hisbollah, die Soldaten gewähren ließ. Aus gutem Grund: Sie ist nun an der Regierung in Beirut beteiligt und hat derzeit nach Ansicht von libanesischen Medien kein Interesse an einer Konfrontation mit Israel.

So waren am Ende des Tages mindestens sechs Demonstranten aus dem Libanon und fünf Demonstranten aus Syrien tot und eine unbekannte Zahl von Menschen verletzt, wobei nicht nur das israelische Militär, sondern auch libanesische und syrische Soldaten auf die Demonstranten feuerten. An den israelischen Kontrollpunkten im Westjordanland und am Grenzzaun zum Gazastreifen, wo es ebenfalls Versuche gab, die Absperrungen zu durchbrechen, gab es hingegen keine Todesopfer. Hier war statt des israelischen Militärs die Polizei zuständig, die Tränengas und Gummipatronen einsetzte, um die Menschenmengen zurückzudrängen.

Doch auch hier gab es deutliche Hinweise darauf, dass die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (im Westjordanland) und der Hamas (im Gazastreifen) ebenfalls von den Protesten unvorbereitet getroffen wurden oder sie zumindest unterschätzt hatten: In Gaza waren bereits die ersten Demonstranten bis an den israelischen Zaun gelangt, als Einheiten der Hamas-Polizei damit begannen, Absperrungen aufzubauen und die Menschen zurückzudrängen, und auch im Westjordanland errichteten palästinensische Polizeieinheiten eilends Kontrollpunkte, um die Menschen aufzuhalten.

"Wir können nicht wegen jedem Twitter-Posting mobil machen"

Israels Regierung habe mit Provokationen und Anschlägen am Nakba-Tag gerechnet, berichteten die Medien des Landes am Montag. Doch dass es zu einem Sturm auf die Grenzen kommen könnte, darauf habe es keine Hinweise gegeben - und das, obwohl in sozialen Netzwerken wie Facebook und anderen vielfach zu diesen Märschen aufgerufen worden war. Wenn Israel den palästinensischen Flüchtlingen und deren Nachkommen ihr Recht auf Rückkehr verweigert, dann sollten diese Menschen ihr Recht mit den Füßen durchsetzen, so das dort hundertfach wiederholte Credo.

"Selbstverständlich haben wir diese Aufrufe mitbekommen", sagt ein Sprecher des israelischen Militärs:

Aber es gab sonst keine Hinweise darauf, dass dies eine organisierte Sache sein könnte, und im Internet steht so vieles. Wir können nicht wegen jedem Twitter-Posting mobil machen.

Mögliche Szenarien

Wer hinter dem Aufruf steckt, lässt sich derzeit nicht nachvollziehen. In Frage kommen zwei Szenarien: Entweder wollten eine oder mehrere Gruppierungen oder Organisationen die derzeitige Lage in den arabischen Ländern dazu nutzen, um selbst an Einfluss zu gewinnen oder um die Revolutionsbestrebungen in einzelnen Staaten zu unterstützen.

So würden, in der Theorie, Kampfhandlungen zwischen den Armeen Syriens und Israels den Umsturzbestrebungen in Syrien in die Hände spielen, weil das dortige Militär dann gleichzeitig gegen Israel und seine eigenen Demonstranten kämpfen müsste. Auch im Gazastreifen, wo die Hamas in den vergangenen Monaten wiederholt gegen Gruppierungen vorgegangen ist, die sehr viel radikaler sind als sie selbst, wäre der Sturm auf die Grenze eine eindrucksvolle Machtdemonstration der kleinen Radikalen gewesen.

Die zweite Möglichkeit ist eine Art "Flashmob" - ein Aktionsaufruf einzelner Internetnutzer aus gegebenem Anlass, der sich zu einer recht großen Sache entwickelt hat, ohne dass die Urheber sich der möglichen Konsequenzen bewusst sind oder den weiteren Verlauf überhaupt kontrollieren können. Dafür spricht, dass die Demonstranten allerorten nicht organisiert angereist sind, sondern sich erst vor Ort, an den Grenzen, zusammen gefunden haben.

Bislang war im Nahen Osten alles berechenbar, einordbar, analysierbar..

Es ist dieses Szenario, das den Machthabern auf allen Seiten derzeit am meisten Angst macht. Bislang war im Nahen Osten alles berechenbar, einordbar, analysierbar. Die Ereignisse am Sonntag haben die Region für wenige Stunden an den Rand eines Krieges gebracht, und wenn es tatsächlich so sein sollte, dass dies auf Grund der Laune von ein paar Internetnutzern geschehen ist, dann werden die am Nahostkonflikt Beteiligten ihre Handlungsweise von Grund auf ändern müssen.

Statt mit altbekannten Feinden, die man einschätzen kann, weil man sie seit Jahren beobachtet, und die nach politischen und strategischen Erwägungen handeln, könnte man es nun mit Unbekannten zu tun haben, die ohne Rücksicht auf Politik und Strategie handeln, und die man vor allem nicht einschätzen kann. Die Politik auf allen Seiten müsse nun endgültig lernen, damit zu leben, dass die Ereignisse in der Region nicht mehr so vorhersehbar sind, wie sie es bis vor kurzem waren, kommentiert die israelische Zeitung Ha'aretz: "Der ,Arabische Frühling" ist nun auch im Nahost-Konflikt angekommen."

"Wir müssen damit rechnen, dass dies nur der Anfang ist", bereitete Israels Verteidigungsminister Ehud Barak die Öffentlichkeit am Montagmorgen auf weitere Überraschungen vor; kurz darauf kündigte Premierminister Benjamin Netanjahu an, eine Kommission bilden zu wollen, die mögliche Versäumnisse des Sicherheitsapparates aufarbeiten und Instrumente schaffen soll, die Situationen wie die am Sonntag möglichst frühzeitig verhindern.