Gaddafi in der Sackgasse

Während der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag am Haftbefehl gegen den libyschen Führer arbeitet, denkt die Nato an eine Ausweitung des Bombardements

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die libyschen Rebellen kontrollieren Misrata, die Nato bombardiert weiter und will ihren Einsatz weiter verstärken. Gaddafi gerät immer mehr unter Druck und bietet wieder einmal einen Waffenstillstand an. Indessen arbeitet der Internationale Gerichtshof (ICC) an einem Haftbefehl gegen Gaddafi. Mit Moral hat das alles wenig zu tun. In Syrien und Bahrain lässt die internationale Gemeinschaft die Machthaber weiter gewähren, obwohl hunderte von Menschen getötet und tausende willkürlich verhaftet wurden.

In Tripoli bebte wie gewohnt die Erde, die Fensterscheiben wackelten bedenklich, wie Journalisten aus der libyschen Hauptstadt berichteten.

Nato: Keine Atempause für Gaddafi

Die Nato setzt ihre Bombenangriffe fort. Hauptangriffsziel war Tajura, ein Vorort Tripolis. Dicke Rauchwolken waren von weitem zu sehen. In der Hauptstadt befand sich auch Abdul Ilah Khatib, der Spezialgesandte der UN, um mit der libyschen Regierung über einen Waffenstillstand zu verhandeln, der humanitäre Hilfe ermöglichen soll.

Premierminister Baghdadi Mahmudi versicherte ihm, man sei dafür "offen und bereit mitzumachen". Falls der Waffenstillstand tatsächlich zustande kommen sollte, lange wird er allerdings nicht dauern. Die Nato will der libyschen Armee keine große Atempause geben und vor allen Dingen keine Zeit, sich zu regruppieren. Im Gegenteil: Man will den militärischen Einsatz verstärken, um zu verhindern, dass Gaddafi möglicherweise an der Macht bleibt.

Das meinte General David Richards, der oberste britische Militär und plädierte für die Ausweitung des Bombardements:

Gegenwärtig greift die Nato keine Infrastruktureinrichtungen an. Wollen wir aber den Druck auf das Gaddafi-Regime verstärken, müssen wir ernsthaft überlegen, unsere Angriffsziele auszuweiten.

Sollte die Nato den Empfehlungen General Richards folgen, wäre das endgültig ein Bruch mit der UN-Resolution 1973, die die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen und den Schutz der libyschen Zivilbevölkerung vorsieht. Die Zerstörung der Infrastruktur eines Landes trifft in erster Linie die Bevölkerung.

Gleichzeitig erhöhen Angriffe auf zivile Ziele, wie Telekommunikation oder Verkehrswege, das Risiko, dass am Konflikt Unbeteiligte verwundet oder getötet werden. Die Nato nahm bisher die libysche Infrastruktur kaum ins Visier, trotzdem sind bei den Bombardierungen von militärischen Einrichtungen Zivilisten ums Leben gekommen.

Zivile Opfer

Man mag den Angaben der libyschen Behörden über die Zahl der Toten und die geschilderten Umstände misstrauen, aber Opfer sind bei derart vehementem Beschuss nicht zu vermeiden. Wenig Zweifel gibt es an dem gewaltsamen Tod von neun Imamen, die am vergangenen Sonntag in Brega beerdigt wurden.

Sie waren auf einer Friedenstour von Westlibyen in Richtung Benghazi, der Hauptstadt der Opposition. "Wir kennen die Vorwürfe, dass es bei diesem Luftangriff zivile Opfer gegeben haben soll", hieß es in einem Statement der Nato.

Obwohl wir die Behauptungen nicht unabhängig überprüfen können, bedauern wir jeden Verlust von Leben unschuldiger Zivilisten.

Der übliche Kommentar in Kriegzeiten zu sogenannten Kollateralschäden. "Unabhängig verifiziert" werden, konnte bisher eine Reihe von Rebellen, die von der Nato "aus Versehen" getötet worden waren.

Gaddafi ohne Ausweg

Bei den Angriffen der Nato-Kampfflugzeuge fielen in den letzten Tagen auch erneut Bomben auf die Residenz Gaddafis, ein großes wie unübersichtliches Areal in Tripoli. Der Diktator trat im libyschen Fernsehen auf, bei einem Treffen mit Stammesführern in einem Nobelhotel der libyschen Hauptstadt.

Einen Tag später meldete sich noch einmal per Telefon beim Staatssender , um zu zeigen, dass er lebt und unverletzt geblieben ist. Kurz nachdem der italienische Außenminister behauptet hatte, Gaddafi habe Tripoli wahrscheinlich verlassen und sei bei einem der Nato-Angriffe verwundet worden.

Ich sage den feigen Kreuzfahrern, dass ich an einem Ort lebe, an dem sie mich nicht erreichen und ermorden können. Selbst, wenn sie meinen Körper töten, meine Seele wird in den Herzen von Millionen weiterleben.

Das ganz normale Pathos eines von der Realität entfremdeten Diktators, der sich in einer Sackgasse befindet. Einen Ausweg gibt es für ihn nicht mehr. Die Chance auf ein Leben im Exil hat er verpasst. Der ICC stellte einen Haftbefehl gegen ihn und seinen Sohn Saif al-Islam aus. Die Anklage: Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Nach Einsicht von mehr als 1200 Dokumenten und der Vernehmung von über 50 Zeugen sei Chefankläger Luis Moreno-Ocampo zu dem Ergebnis gekommen, dass die libysche Armee "ausgedehnt und systematisch" die Zivilbevölkerung angegriffen habe. Vater und Sohn, sowie Geheimdienstchef, Abdullah al-Sanussi, seien dafür hauptverantwortlich.

Eine etwas dürftige Liste, auf der normalerweise auch Khamis Gaddafi, ein weiterer Sohn des Diktators, nicht fehlen sollte. Seine Elitetruppen waren es, die unter seinem Kommando in Tripoli das Feuer auf Demonstranten eröffneten. Sicherlich trifft es keine Unschuldigen, aber die Anklage des ICC ist, wie schon oft zuvor, selektiv und folgt den Interessen der USA und der EU.

Der Gerichtshof hätte schon längst ein Ermittlungsverfahren gegen Vertreter der Bush-Administration oder auch gegen den ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair für die unrechtmäßige Invasion im Irak einleiten können - ein Beispiel von mehreren.

Warum nicht Sysrein oder Bahrain?

Die Frage bleibt, warum hat der ICC noch keine offiziellen Ermittlungen gegen das Regime in Syrien aufgenommen oder zumindest angekündigt. Dort ist Präsident Bashar Assad gerade dabei das zu tun, was Gaddafi in Libyen machen wollte: Die brutale Säuberung von allen Kritikern .

Ganz ähnlich verhält es sich in Bahrain. Dort wurde der Wunsch nach Demokratie von der Machthaberfamilie al-Khalifa mithilfe saudi-arabischer Truppen "in Blut ertränkt". Demonstranten wurden erschossen, hunderte verhaftet, Ärzte hat man gefoltert, die im Krankenhaus verletzte Regimegegner behandelten, Moscheen zerstört und Schulen gestürmt.

Freundlicher Empfang für die Rebellen und Geldschwierigkeiten

Dazu gibt es auch weder eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die den Schutz von Zivilisten vorsieht, noch übt die USA Druck auf ihren Verbündeten am Golf aus. Für die libysche Delegation der Übergangsregierung aus Benghasi gab es dagegen in Washington einen großen Bahnhof. Ihr wurde finanzielle Unterstützung zugesprochen, schließlich würden sie für das libysche Volk sprechen.

Allerdings reichte es für eine offizielle Anerkennung noch nicht. Auf die hatte die Rebellendelegation insgeheim gehofft, denn als Rechtsnachfolger der Gaddafi-Regierung wäre es leichter gewesen, zumindest an einen Teil des Vermögens der eingefrorenen Konten zu gelangen. Das wäre ein großer Schritt aus dem drohenden Bankrott gewesen.

Alleine in den USA sind rund 20 Milliarden Euros des libyschen Staates blockiert. Weltweit sollen insgesamt 120 Milliarden Euro auf Eis liegen. Gelder, die nicht so einfach "locker" gemacht werden können. Wie in den USA ist das Vermögen an komplizierte Besitzverhältnisse in privaten Firmen gekoppelt. Der libysche Finanzminister Abdulhafi Zlitni hatte Recht, als er bereits im April siegesgewiss sagte:

Unser Geld kann man uns nicht so einfach wegnehmen.

Dazu braucht es eine neue, gewählte Regierung, die weltweit als Vertreter Libyens anerkannt wird. Aber wer weiß, was nach dem Sturz Gaddafis passiert. Die politische Landschaft in Libyen muss sich erst noch formieren. Organisationen der Zivilgesellschaft gab es bisher nicht. Wer oder was die neue Regierung bildet, ist völlig unklar.

Ebenso ungewiss ist, ob die internationale Gemeinschaft mit dem Ergebnis demokratischer Wahlen zufrieden sein wird. Sollten Islamisten oder andere radikale Kräfte den Urnengang gewinnen (wie etwa in Palästina 2006 ), sieht alles ganz anders aus.

In Benghasi wird nun überlegt, wie man es der Staatengemeinschaft leichter macht, die Rebellen offiziell anzuerkennen. Seit dem Wochenende laufen Beratungen, wie man eine akzeptable Regierung bilden kann "Ziel ist es eine exekutive und legislative Verwaltung des Landes zu bilden", erklärte Mustafa Abdel-Jalil, der Vorsitzende der momentan 31-köpfigen Übergangsregierung. Man möchte ein Interimsparlament, in dem ganz Libyen vertreten ist.