Afghanistan: Afghanische Sicherheitskräfte werden zu einer Bedrohung für die Zivilbevölkerung

Schutz von Zivilisten und das Einhalten von Menschenrechten spielen weiterhin keine Rolle in den Konzepten der NATO

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Drei kürzlich erschienene Berichte unabhängiger Organisationen belegen: Afghanische Sicherheitskräfte werden zu einer Bedrohung für die Zivilbevölkerung. Immer mehr Menschen werden im US-Militärgefängnis in Baghram rechtswidrig eingesperrt. Das gezielte Töten von Verdächtigen kann leicht Unschuldige treffen.

Ausbildung von ANA-Rekruten. Bild: Isaf

Die im November von der NATO beschlossene Strategie der Übergabe hat zum Ziel, die westlichen Streitkräfte bis 2014 aus Afghanistan abzuziehen. Die Ausbildung schlagkräftiger und zuverlässiger afghanischer Sicherheitskräfte soll die Grundlage für Sicherheit und Stabilität bilden. Doch knapp drei Jahre vor dem anvisierten Abzugstermin belegen kürzlich veröffentlichte Berichte unabhängiger Organisationen, dass Menschenrechte und der Schutz von Zivilisten weiterhin wenig Bedeutung für die NATO und deren Strategie haben.

Oxfam befürchtet eine massive Zunahme von Menschenrechtsverletzungen, je mehr die afghanische Polizei (ANP) und Armee (ANA) eigenständig Operationen ausführen. Ein Grund dafür ist, dass bei der Anwerbung der Soldaten bzw. Polizisten eher auf Masse anstatt Klasse gesetzt wird. Rekruten sind oft Analphabeten oder Mitglieder von kriminellen Banden. Auch dauert die Ausbildung der Einheiten nur wenige Wochen. Fragen von Ethik, der afghanischen Verfassung oder von Menschenrechten, spielen im Lehrplan weiterhin keine Rolle.

Milliarden von Dollar wurden in den letzten zehn Jahren in die Reform des Sicherheitssektors investiert. Effektive Institutionen, die Fehlverhalten der Sicherheitskräfte untersuchen oder bestrafen, gibt es weiterhin nicht. Selbst wenn es zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen kommt, werden die Ergebnisse in den meisten Fällen unter Verschluss gehalten. Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass die Bevölkerung in Angst vor denen lebt, die sie eigentlich beschützen sollten. Besonders gefürchtet ist die Lokale Afghanische Polizei (ALP). Deren Mitglieder rekrutieren sich aus lokalen Milizen und stehen in enger Verbindung zu regionalen Warlords.

Laut Oxfam werden Kinder von Streitkräften sexuell missbraucht und als Soldaten rekrutiert. Exzessive Gewalt gegen Zivilisten ist an der Tagesordnung. Gut 98% der Gefangenen gab an, misshandelt worden zu sein. Besonders problematisch sind die nächtlichen Razzien ("Night Raids"), die zusammen mit NATO-Verbänden durchgeführt werden. Statistisch gesehen sterben dabei pro gesuchtem vermeintlichem Aufständischen drei unbeteiligte Zivilisten. Vier weitere werden verhaftet.

Trotz der wiederholten Bekenntnisses zu den Menschenrechten scheint dies die NATO nur wenig zu interessieren. Der jüngste US-Bericht zur Evaluation der Streitkräfte untersuchte lediglich die Fähigkeit der ANA, im Kampf zu bestehen. Inwieweit deren Vorgehen die grundlegendsten Menschenrechte verletzt wurde nicht hinterfragt. Ein hoher Vertreter der britischen Armee äußerte im Dezember 2010 die Ansicht, die NATO könne nicht kontrollieren, wie die Afghanen kämpfen.

Rekruten bei der Eröffnung des ANA-Ausbildungszentrums ANA im Camp Shorabak. Bild: Maj Dale Clarke/MOD

Anstatt sich lediglich auf die militärischen Fähigkeiten zu beschränken, wäre der Aufbau einer eher zivilen Polizei notwendig. 2007 sollte diese Lücke durch das von den Deutschen geführte Programm EUPOL geschlossen werden. Die Bundesregierung verweist immer wieder auf die Erfolge dieser Art der Polizeiausbildung. In der Realität jedoch sind deren Anstrengungen viel zu zaghaft, um erkennbare Erfolge zu erzielen. Ein Bericht der EU vom 16. Februar 2011 zu EUPOL hält es für unwahrscheinlich, bis 2014 eine effektive zivile Polizei in Afghanistan zu etablieren.

Oxfam weist darauf hin, dass der korrekte Umgang der Sicherheitskräfte mit der Zivilbevölkerung nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine politische Komponente hat. Denn ohne vertrauenswürdige staatliche Institutionen wird es keine Akzeptanz gegenüber dem NATO-Einsatz oder der afghanischen Regierung geben.

Das Wahren der Menschenrechte ist aber auch bei den westlichen Truppen selbst weiterhin ein Problem. So bestehen auch nach der Ära Bush Militärgefängnisse, welche nicht den minimalsten internationalen Standards entsprechen.

Im Gefängnis auf der Militärbasis in Baghram hat sich die Anzahl der Gefangenen seit 2008 verdreifacht. Nach einem Bericht von Human Right First (HRF) besitzt die Mehrheit der 1.700 Insassen zwar das Recht, sich über ihre Verhaftung zu beschweren. Allerdings wird ihnen das Recht vorenthalten, von einem Anwalt vertreten zu werden oder den Grund der Verhaftung zu erfahren. Gerichtsverfahren werden zum Teil mit geheimen Beweisen und unbekannten Zeugen geführt. Wo es angebliche Beweise gibt, sind diese sehr dürftig. HRF berichtet von einem Fall, bei dem ein Mann verurteilt wurde, weil in einem Haus in der Nachbarschaft Material zum Bombenbau gefunden wurde. Beweise die ihn in Zusammenhang mit diesem Haus hätten bringen können, wurden nicht präsentiert.

Auch bei gezielten Tötungen wird geschlampt

Auch wenn es um die gezielte Tötung von vermeintlichen Taliban-Mitgliedern geht, werden keine sorgfältigen Untersuchungen vorgenommen, wie das Afghanistan Analyst Network (AAN) okumentiert. Bei einem von Kate Clark analysierten Fall wurden durch eine Verwechslung ein lokaler Politiker und zahlreiche weitere Zivilisten bei einem Luftangriff getötet. Fahrlässig hatte man unterstellt, dass der Lokalpolitiker Zabet Amanullah der Taliban-Kommandant Muhammad Amin sei.

General Petraeus räumte ein, dass solche Fehler passieren, weil die US-Geheimdienste auch nach fast 10 Jahren Krieg überhaupt nicht verstehen, wie die lokalen Strukturen in Afghanistan funktionieren. Wie die Autorin belegt, hätte wenig Recherche genügt, um zu erkennen, dass Zabet Amanullah eine reale Biografie hatte. Auch wusste der Geheimdienst von einem Telefonat zwischen Zabet Amanullah und Muhammed Amin. Also hätte Zabet mit sich selbst telefonieren müssen. Die Folgen des Irrtums waren verheerend. Am 2.September 2010 bombardierten US-Kampfjets während einer Wahlkampfveranstaltung den Konvoi des Politikers. Zehn Minuten später schlägt eine zweite Bombe ein. Weitere Zivilisten, die herbeigeeilt waren, um den Verletzten Hilfe zu leisten, kamen dabei ums Leben. Nach dem Angriff kreisten US-Hubschrauber über dem Ort. Anstatt den Verwundeten zu helfen, schossen sie noch einmal in die Menge.

Experten sind sich einig, dass die Häufung oben genannter Vorfälle nicht dazu führt, die "Herzen" der Bevölkerung zu gewinnen. Die NATO beteuert immer wieder, in Zukunft Zivilisten besser schützen zu wollen. Auch nach fast 10 Jahren Krieg scheint dies nicht zu gelingen. Wie die New York Times berichtet, wurden vergangene Woche wieder zwei Kinder bei Aktionen der NATO getötet. Die ISAF entschuldigte sich in einer Pressemeldung.

Und gestern kam es zu blutigen Protesten in der Stadt Talokan. Die Isaf hatte gemeldet, vier bewaffnete Aufständische, darunter zwei Frauen, getötet zu haben, die Afghanen scheinen überzeugt zu sein, dass es sich um Zivilisten gehandelt habe. Mehr als 2000 Menschen zogen mit den aufgebahrten Leichen wütend vor ein Camp der Bundeswehr, sie sollen teilweise bewaffnet gewesen sein. Die Bundeswehr spricht davon, dass das Camp des Provincial Advisory Team (PAT) Talokan mit Handgranaten und Molotowcocktails angegriffen worden sei. Afghanische Polizisten sollen daraufhin geschossen haben. 12 Menschen starben, um die 65 wurden verletzt, darunter auch afghanische Sicherheitskräfte und 3 deutsche Soldaten.