"Der Dschihad zerfasert"

Terrorismusexperte Thomas Rid über die Bedeutung von Al-Qaida nach dem Tod von Bin Laden und vernetzte Terrororganisationen

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Thomas Rid ist Politikwissenschaftler und "Terrorismusforscher". Zusammen mit Marc Hecker hat er in War 2.0 - Irregular Warfare in the Information Age untersucht, wie das Netz und besonders soziale Medien die Kriegsführung verändern. An der Universität Konstanz beschäftigt sich Rid mit der Rolle von "Abschreckung" in asymmetrischen Kriegen und bei der Aufstandsbekämpfung. Er sieht Al-Qaida in der Krise: die Organisation habe den Höhepunkt ihrer Macht überschritten.

Ihrer Ansicht nach ist Al-Qaida deutlich geschwächt. Bedeutet das: "Entwarnung - die Gefahr von Terroranschlägen ist gebannt!" ?

Thomas Rid: Nein, im Gegenteil! Die Anschlagsgefahr könnte jetzt, nach der Ausschaltung von Bin Ladin, kurzfristig sogar noch größer geworden sein. Da sind sich Geheimdienste und mit jenen Experten einig, die vor allem islamistische Internetforen beobachten. Vergeltungsschläge sind durchaus möglich. Die Extremisten möchten womöglich zeigen, dass sie noch einsatzfähig sind. In die Enge getrieben, könnte Al-Qaida noch unberechenbarer werden - aber die Dschihadisten sind in die Defensive geraten.

Wieso?

Thomas Rid: Zunächst haben sie jetzt sowohl ein symbolisches und personelles Problem. Wenn Bin Ladin bisher eine seiner Videobotschaften produzierte, war ihm die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sicher: Das Weiße Haus reagierte, Spitzenpolitiker aller Couleur nahmen Stellung. Er wird Al-Qaida als medienwirksame Symbolfigur fehlen. Außerdem haben die Kader um Bin Ladin wohl nun Angst davor, dass die Amerikaner die in Abbottabad gefundenen Informationen nutzen, um als nächstes sie anzugreifen. Praktisch bedeutet das, dass sie unter noch höheren Sicherheitsvorkehrungen als bisher operieren müssen.

Noch wichtiger ist meiner Ansicht nach aber die ideologische Schwächung. Die arabischen Revolutionen und Jugendaufstände in Tunesien, in Ägypten, im Jemen und Syrien erreichen möglicherweise genau das, was die Dschihadisten immer gewollt und wofür sie vergeblich gekämpft haben - den Sturz des "nahen Feindes", der autoritären Regime im Nahen Osten, ohne dass sie in irgendeiner Weise daran beteiligt wären.

In der Forschung zu Terrorismus und politischer Gewalt steht ein Begriff im Zentrum: der cause, der Beweggrund. Jede militante Bewegung braucht eine politische Zielstellung, die sie zusammenhält. Sie kommt Al-Qaida gegenwärtig abhanden. Sie bringen zwar massenhaft Menschen um, stürzen Flugzeuge in Hochhäuser - aber sie erreichen nichts! Es fehlt ihnen ein umsetzbares politisches Projekt. Wohl nur verwirrte Extremisten glauben wirklich daran, dass es möglich sein könnte, wieder ein Kalifat zu errichten.

In den Medien hat sich für die Dschihadisten der Ausdruck "Terrornetzwerk" eingebürgert. Wie würden Sie Al-Qaida bezeichnen? Als "Organisation" oder "Bewegung"?

Thomas Rid: Beides. Über eben diese Frage wird ja seit langem eine wissenschaftliche Debatte geführt. Die zwei bekanntesten gegensätzlichen Positionen sind die von Marc Sageman, der den modernen dschihadistischen Terror als "führerlos" bezeichnet, und die von Bruce Hoffmann, der sagt, dass Organisationsstrukturen weiterhin existieren und wichtig sind. Beide haben recht; insofern ist die Frage falsch gestellt. Al-Qaida lebt von der Aktivität von unten und von einem horizontalen Netzwerk, aber es existiert durchaus eine Führungsebene. "Al-Qaida" ist gleichzeitig eine strukturierte Organisation mit einem harten Kern und eine ideologische Bewegung, ein verschwommenes Umfeld ohne klare Ränder.

Sie sprechen von einer "Selbstlimitierung" durch die Netzwerkstruktur Al-Qaidas und weisen darauf hin, dass die eigenartige Organisationsstruktur jetzt an ihre Grenzen stößt. Inwiefern?

Thomas Rid: Ich versuche das mit dem Long Tail-Effekt zu erklären. Eigentlich kommt dieser Begriff aus der Wirtschaftswissenschaft; er besagt, dass durch das Internet auch Nischenprodukte eine ausreichend große Käuferschaft finden und rentabel werden können. Für einen Online-Versand wie Amazon beispielsweise lohnt es sich, Bücher bereitzustellen, die äußerst selten verlangt werden. Wir übertragen diese Idee auf politische Ideen und Taktiken: Politische Formen, die bisher nicht gangbar waren, werden durch die globale Reichweite des Netzes möglich. Andererseits bleiben sie aber am extremen Ende der Nachfragekurve kleben.

Aus den dschihadistischen Terror bezogen heißt das, es wird immer irgendwo Extremisten geben, die sich von dieser Ideologie angezogen fühlen. Sie werden sich weiterhin zusammenschließen und aktiv werden. Gleichzeitig aber werden sie nicht in der Lage sein, "die Machtfrage zu stellen", wie es beispielsweise revolutionäre Bewegungen in den 1960er, 1970er Jahren konnten. Diese rückten ihr Projekt vom gesellschaftlichen Rand in die Mitte und übernahmen irgendwann die Staatsmacht. Al-Qaida kann das nicht.

Es wird keinen Mao des Dschihads geben!

Einverstanden: Irgendwo auf der Welt wird es immer Menschen geben, die sich für etwas so Abseitiges wie Al-Kaida begeistern. Aber warum folgt daraus, dass sich die Massen nicht doch unter bestimmten Umständen für ihr Projekt begeistern können?

Thomas Rid: Durch den Long Tail-Effekt ist sozusagen der Weg in die Realpolitik verstellt. Es wäre ja auch für Al-Qaida attraktiv, sich pragmatischer zu verhalten, wenn man dafür wachsen, Macht gewinnen kann. Aber politische und auch operative Kompromisse sind wegen der Organisationsstruktur fast unmöglich. Denken Sie zum Beispiel an das Anbar Awakening im Irak 2006, 2007. Damals wandten sich viele Sunniten von Al-Qaida ab wegen deren extrem gewalttätigen und sektiererischen Vorgehens. Aber selbst wenn einzelne Al-Qaida-Führer es für kontraproduktiv halten, Schiiten umzubringen, macht der stetige Zulauf von neuen Extremisten es den Pragmatikern wohl schwer, eine neue, abgemilderte Linie durchzusetzen.

Solche Schwierigkeiten lassen sich verallgemeinern: Eine dezentrale Netzwerkstruktur erlaubt terroristischen Gruppierungen, ständig neue Mitglieder zu gewinnen, Menschen, die sich sozusagen selbst rekrutieren. Damit wird es aber auch schwieriger für den harten Kern, das Netzwerk zu steuern. Von den rund 190 Menschen, die seit 2008 in Europa wegen ihrer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurden, gehörte laut Europol ein großer Teil kleinen autonomen Zellen an und konnte keiner bereits bekannten terroristischen Vereinigung zugerechnet werden.

Genau diese "Selbstmobilisierung" macht es den Führungen immer zunehmend schwer, militärische und politische Strategien durchzusetzen. Das heißt, der Organisation entgleitet tendenziell die Kontrolle über ihre Anhänger und Sympathisanten. Der Dschihad zerfasert, die Bewegung differenziert sich aus. Das lässt sich bereits seit einiger Zeit beobachten, etwa in islamistischen Internetforen, die von einer Reihe von Wissenschaftlern, zu denen ich nicht gehöre, gut dokumentiert sind . Dort hatte Osama Bin Ladin schon lange vor seinem Tod einen Großteil seiner Autorität als geistiger Führer eingebüßt.

Bedeutet diese Zersplitterung das Ende der Bewegung?

Thomas Rid: Nein, aber sie wird diffuser, weniger steuerbar. Es wird keinen Mao des Dschihads geben! Ich vermute, dass die Durchschlagskraft und die Qualität der Anschläge weiter sinken könnte, auch wenn sie wahrscheinlich nicht aufhören werden.

Ihrer Ansicht nach wird Al-Qaida von drei unterschiedlichen Strömungen getragen: von "lokal agierenden islamischen Aufständischen", von einem "mit organisiertem Verbrechen kombinierten Terrorismus" und schließlich von Muslimen in der "westlichen Diaspora". Sie beschreiben, wie sich Teile der ersten beiden Gruppen von Al-Qaida abgewandt haben.

Thomas Rid: Eine Bemerkung vorab: Ich finde, als Experte für Terrorismus, politische Gewalt, Al-Qaida etc. muss man ehrlich sein und sagen, was man weiß und was nicht. Niemand weiß, wie stark die unterschiedlichen Strömungen sind. Wir wissen nicht einmal, wie viele Al-Qaida-Anhänger es genau in Afghanistan oder im Jemen gibt. Aber ich vermute, dass die Bedeutung von Aktivisten aus westlichen Ländern für den globalen Dschihad wachsen wird. Auch die Verstrickung mit organisierter Kriminalität könnte zunehmen.

Die eigentliche Organisation muss hierarchisch funktionieren

Sie erwähnen noch einen weiteren Schwachpunkt von "netzwerkförmigen Organisationen", den ich in diesem Zusammenhang fast amüsant finde - "die Verrohung des Tons in den Foren" und die stärker werdenden "interdschihadistischen Streitigkeiten". Es gibt offenbar die Tendenz, sich gerade mit dem eigenen Umfeld besonders kritisch auseinanderzusetzen und in Flame Wars zu zerfleischen.

Thomas Rid: Das ist richtig. Vor dem Bildschirm ist man eben weniger gehemmt als wenn man dem anderen ins Gesicht schaut. Das scheint auch auf Dschihadis zuzutreffen ...

In Ihrem Buch "War 2.0" analysieren sie die Auswirkungen des Internet auf militärische Organisationen. Kann man sagen, dass das Netz grundsätzlich Hierarchien abflacht - weil sich der Informationsfluss nicht mehr auf die Dienstwege beschränken lässt?

Thomas Rid: Für militärische Organisationen jeder Art sind soziale Medien einerseits Teil der Öffentlichkeitsarbeit, andererseits ein Mittel für die horizontale Kommunikation, beispielsweise als Lernplattform. Dieser Einsatz ist aber nicht unproblematisch. Über die Netzwerkstrukturen darf man nicht vergessen, dass die eigentliche Organisation funktionieren muss - und zwar hierarchisch. Für irreguläre Kämpfer ist die Versuchung von Netzwerkstrukturen natürlich besonders groß. Die Taliban sind übrigens jetzt auch auf Twitter, auf Englisch.

In Ihrem kürzlich erschienen Artikel in der Zeitschrift Internationale Politik plädieren Sie für eine andere Art der Terrorabwehr und bringen den Begriff der Abschreckung ins Spiel. Was heißt das konkret?

Thomas Rid: Die Terrorismusbekämpfung geht immer noch davon aus, man könne das Problem ein für allemal beseitigen. Das ist eine Illusion! Wie die Kriminalität ist politische Gewalt heute ein Phänomen, dass man nur kontrollieren und managen kann, aber nicht komplett ausschalten. Es geht um Eindämmung, um Isolierung. Es wäre meiner Ansicht nach schon ein Fortschritt, Abschreckung als Kommunikationsstrategie zu verstehen. Das bedeutet, wir gehen nicht mehr davon aus, dass wir die andere Seite auszuschalten können, sondern versuchen, ihr Handeln zu beeinflussen. Das bedeutet auch Deeskalation. Ich denke da etwa an den Krieg in Afghanistan.

Aber wie schreckt man einen Selbstmordattentäter ab, der ohnehin bereit ist, sein Leben zu opfern?

Thomas Rid: Als ich gerade für ein Jahr in Israel geforscht habe, ist mir aufgefallen, dass dort die Geheimdienste und Streitkräfte durchaus auf Abschreckung setzen, auch Abschreckung von Selbstmordattentätern. Wer sprengt sich in die Luft? Es sind überwiegend sehr junge Leute, ohne viel Bildung, ohne Ausbildung. Oftmals kommen sie gar nicht selbst in Kontakt mit den mächtigeren Drahtzieher, die die Bomben bauen und die Initiative ergreifen. Hinter jedem Selbstmordanschlag steht eine ganze "Lieferkette", und die Hintermänner haben sehr wohl etwas zu verlieren.

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