Wo die Lebenszufriedenheit hoch ist, gibt es am meisten Selbstmorde

Wissenschaftler haben den paradoxen Zusammenhang zwischen Ländern und innerhalb der USA bestätigt

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Intuitiv würde man davon ausgehen, dass die Selbstmordraten in den Ländern oder Orten, in denen die Menschen am zufriedensten oder glücklichsten sind, am geringsten sind. Wissenschaftler der University of Warwick haben nach einer Analyse von Daten aus den USA und anderen Ländern jedoch umgekehrt festgestellt, dass sich in den "glücklichsten" Ländern und US-Bundesstaaten tendenziell am meisten Menschen selbst töten.

Das scheint ein Paradox zu sein, das bislang in der Forschung noch wenig Beachtung gefunden hat. Schließlich sollte hohe Zufriedenheit die Menschen vor einem Suizid schützen. Zwar habe man etwa festgestellt, dass es in Dänemark eine ungewöhnliche hohe Selbstmordrate gibt, erklärt wurde dies aber eher anekdotenhaft beispielsweise mit den langen und dunklen Wintern, während man einem systematischen Zusammenhang zwischen Zufriedenheit und Selbstmordneigung nicht weiter nachgegangen ist. Sagen zumindest die Autoren der Studie "Dark Contrasts: The Paradox of High Rates of Suicide in Happy Places", die in der Zeitschrift Journal of Economic Behavior & Organization vorab online erschienen ist.

In einem Vergleich mit der durchschnittlichen Zufriedenheit der Menschen nach dem World Values Survey und den Selbstmordraten nach Angaben der WHO ist nicht nur in den skandinavischen Ländern die Selbstmordrate trotz großer Zufriedenheit der Menschen hoch, sondern etwa auch Island, Irland, die Schweiz, Kanada oder die USA (Deutschland liegt im mittleren Bereich). Die Verbindung hoher Lebenszufriedenheit mit hohen Selbstmordraten sei unabhängig von harten Wintern, religiösem Einfluss und anderen kulturellen Differenten zwischen Ländern.

Bestätigt wird der Zusammenhang auch durch die Auswertung von Daten in einem einzigen Land, nämlich in den USA. U.a. wurden von den Wissenschaftlern Daten einer Zufallsauswahl von 1,3 Millionen Amerikanern und eine davon unabhängige Befragung von einer Million Amerikanern nach Suizidgedanken ausgewertet. Vergleicht man den Zusammengang zwischen Lebenszufriedenheit und Selbstmordrate in den amerikanischen Bundesstaaten, so trifft man hier meist auch in den Ländern auf mehr Selbstmorde, in denen die Menschen durchschnittlich mit ihrem Leben mehr zufrieden sind. Das heißt andersherum natürlich seltsamerweise, dass in den Bundesstaaten, in denen die Menschen nicht so zufrieden oder glücklich sind, sie sich auch in aller Regel weniger selbst töten. Utah verzeichnet so die höchste Zufriedenheit, hat aber die neunthöchste Selbstmordrate, New York liegt bei der Lebenszufriedenheit weit hinten auf Rang 45 der 50 Bundesstaaten und weist die geringste Selbstmorddrate auf. Das aber zeigt auch, dass der Zusammenhang nicht ganz einfach ist, sondern dass hier andere Faktoren hereinspielen, so dass sich vom relativen Grad der Lebenszufriedenheit nicht direkt auf die Selbstmordrate schließen lässt.

Was könnte aber er Grund dafür sein, dass Menschen in Gebieten, in denen an sich eine hohe Lebenszufriedenheit herrscht, eher zum Selbstmord neigen? Die Wissenschaftler vermuten, dass Zufriedenheit oder Glück viel mit Vergleichen zwischen den Menschen zu tun haben, die an einem Ort leben. Wenn Menschen sich benachteiligt oder unglücklich in einem Gebiet fühlen, in dem die Meisten zufrieden sind oder dies zumindest sagen, dann könnte dies ihre Unzufriedenheit noch verstärken. Wenn alle unglücklich sind, würde man es demgemäß auch mit seiner Unzufriedenheit besser aushalten. Das sei auch so, wenn es um Einkommen, Arbeitslosigkeit, Kriminalität oder Fettleibigkeit geht. Wenn man sich im Strom oder in der Mehrheit wähnt, neigt man zur Konformität - auch im Negativen.