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Gedanken zu Telepolis

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Polis

Die Gegenwart, so sagt man uns, wird vom Urban Millenium markiert - von einer Epochenschwelle. Seit 1950 hat sich die städtische Bevölkerung mehr als vervierfacht, so dass schon seit Beginn des neuen Jahrtausends mehr Menschen in Städten leben als auf dem Land. 2025 sollen es fünf Milliarden sein. Das könnte eng werden.

Die größte aller Städte ist von Raumnot aber nicht betroffen: Sie beansprucht erst gar keinen, vielleicht, weil sie weiß, dass "Beratern" wie McKinsey und Konsorten im geographischen Raum ohnehin nur etwas sehen können, das parzelliert werden kann. Die größte aller Städte ist die Telepolis - eine Stadt aus schwerelosen Bits und Bytes, regiert von einer virtuellen Öffentlichkeit, den Netzbewohnern.

Telepolis heißt seit 15 Jahren ein Online-Magazin, das sich mit netzpolitschen Fragen beschäftigt, mit Urbanismus, Geopolitik, Copyright und Copywrong, mit Datenvorratsspeicherung und Mediengesetzen. Einer seiner Gründer, der Philosoph Florian Rötzer, hat mit dem Begriff Telepolis eine Entwicklung zu kennzeichnen gesucht, die sich folgendermaßen umschreiben ließe: Städte, künstliche Welten aus Stein, haben für ihre Umwelt stets die Aufgabe der Vernetzung durch räumliche Verdichtung besessen. Städte bündeln Macht.

Doch heute finden die großen urbanen Herausforderungen längst nicht mehr in den urbanen Zentren statt, sondern an deren wild wuchernden Rändern, in den Banlieues, welche die alten Stadtkerne mehr und mehr als musealisierte Inseln integrieren. Man fahre nach Heidelberg, nach Salzburg oder ins brasilianische Salvadore.

Aus moderner Stadtpolitik resultierte eine soziale Stadtflucht, die aber mittlerweile von einer "vergeistigten" Stadtflucht überflügelt wird: Funktionen, die bislang noch die Notwendigkeit von städtischer Struktur begründeten, wandern ebenso wie die öffentliche Sphäre in die Computernetze aus. Mit anderen Worten: Telepolis ist die "interaktive Stadt am Netz" (Rötzer); ist elektronisches abstract zu den Urbildern aus Fleisch und Stein; ist Kapitale der sich seit langem abzeichnenden Nonstop- und Realtime-Gesellschaft.

Telenovela

Was die Politik der Polis in den Fokus rückt, ist die Bedrohung des öffentlichen Raums durch seine durchgehende Kommerzialisierung. Macht Stadtluft immer noch frei? Zweifel sind angebracht, und das nicht nur im Hinblick auf Megalopolen wie Mumbai oder Sao Paulo.

In dem 1970 publizierten Buch Das Reich der Zeichen deutet der französische Denker Roland Barthes auf den Unterschied zwischen europäischen und asiatischen Städten: dort - in Tokio - Dezentralität, hier - in Paris, Rom oder Madrid - Zentralität. Aus der Zentralität leitet Barthes auf sozusagen gut französisch das Grundmuster abendländischer Metaphysik ab, das sich seiner Ansicht nach in der Dialektik von Zentrum und Peripherie geltend macht.

War die Stadt früher in königliche Achsen gegliedert, gedacht und gebaut als Monument, als Symbol der Herrschaft, als caput und Kapitale des abendländischen Körpers samt dessen nachgeordneter Glieder - so ist die Stadt heute ein multiples und amorphes Feld von Reizen, ein dekomponierter, enthierarchisierter Körper - eine Telepolis, wie sie Barthes 1970 bestenfalls erahnen konnte. Damals gab es an den Flanken der Häuser entlanglaufende Reklamen.

Heute ist die Stadt aufgeladen mit einer sprunghaft angestiegenen Zahl von Bildern und mit sprunghaft angestiegener Kommunikation - und damit zugleich ausgesetzt der Erosion des Realitätsprinzips. Kaum einer, der in der Stadt aufgewachsen ist, weiß noch, wie ein Blumenkohl aussieht: Er ist fleckig und längst nicht so weiß wie der, der gebleicht im Supermarkt liegt. Im Supermarkt liegen statt Blumenkohlköpfe nur deren Zeichen im Gemüsefach.

Um beim Beispiel zu bleiben: Tokio ist heute überall. Das urbane Feld ist entwirklicht und aufgelöst in ein Netzwerk visueller und elektrischer Luftspiegelungen.

Städte dürfen als Verursacher der spätmodernen Informationsflut gelten. Mit ihrer Entstehung haben sie eine Lebensform herausgebildet, in der die Menschen gezwungen sind, als namenlose, anonyme, Elias-Canetti-hafte schwarze Masse zu existieren. Städte waren es, die den Menschen beibrachten aufzufallen, um sich von der Masse rundum abzuheben. Man traf sich in Gasthäusern, man beobachtete sich, man hörte und verbreitete Klatsch - man fing an, soziale Informationen en gros und en masse zu produzieren.

Das Leben in der Stadt ist ein Leben mit vielen anderen und unter den Augen und Ohren vieler anderer. Es läßt Selbstdarstellung und Inszenierung zum selbstverständlichen und selbstverständlich zentralen Lebensinhalt werden. Und weil wir in der Stadt mit den anderen Lebenden leben müssen - um mit Montaigne zu sprechen -, befördert es die Produktion von Attraktivität. Wir sehnen uns danach, hervorzustechen.

Folge dieser radikalen Verschärfung der Konkurrenzsituation ist, daß aus der urbanen Stadt mit ihren lokalen Helden und ihren begrenzten sozialen Informationen, daß aus Metropolis eine entfesselte Telepolis geworden ist, eine allgegenwärtige, universelle Medienfassade: ein Display mit ständig im Fluß befindliches Zeichen, die Informationen aus allen Teilen der Welt und die Helden des globalen Dorfes in ihrem Kampf um Aufmerksamkeit repräsentieren.

Facebook. Facebook braucht Aufmerksamkeit, und darum wächst der Bedarf an Prominenz. Facebook ist jene Technik, die (Pseudo-)Prominenz produziert. Die Prominenz wiederum ist jenes moderne, hochflüssige Gold, das den traditionellen Zusammenhang zwischen Arbeit und Kapital gesprengt hat.

Telepolis

Von eigener Ironie ist es, daß die Netzzeitmitschrift Telepolis aus dem Hannoveraner Heise Verlag kommt, einem ehemaligen Adress- und Telefonbuchverlag. Denn alles, was wir heute tun - ob E-Mails oder Faxe verschicken oder ob wir im Netz recherchieren - ist eine Folge der Telefontechnik. Man kann sich das so vorstellen, als würde ein Avatar des Begründers der modernen Informationstheorie, Claude Elwood Shannons, aus dem Rauschen von Adressen und Nummern Tag für Tag semantisch tragfähige Kolumnen generieren.

Telepolis ist ein Online-Magazin, dessen Luftwurzeln in der Science-Fiction-Kultur zu suchen sind - in dem zunächst naiven Glücksversprechen eines Technizismus, wie er von Perry Rhodan, Raumschiff Orion, Invasion von der Wega und anderen Erzeugnissen der Popkultur in den 60ern und 70ern des 20. Jahrhunderts verbreitet wurde.

Dabei ist Science fiction nur die säkulare Form des christlichen Heilsversprechens - mit dem Unterschied, dass Science Fiction das Paradies vorne mutmaßt, am stets von sich selbst überstiegenen Ende des Fortschritts, statt hinten, also am Anfang, wo es das christliche Abendland hinverlegt hat, auf jenen flirrenden Sonntagnachmittag, welcher der göttlichen Erschaffung der Welt folgte.

Nachdem, wie ich nie vergessen werde, der Science-fiction-Autor Arthur C. Clarke gegen Ende der 1960er Jahre die technisch realisierte Unsterblichkeit für das Jahr 2020 oder so prognostiziert hatte, machten die 1970er solch blauäugigem Dawkinismus einen Strich durch die Rechnung, in dem sie eine andere Richtung einschlugen.

In nuce gesprochen, waren es die RAF, der Club of Rome und die Grünen, die den Perry Rhodan-Fan in ähnlicher Weise geläutert haben wie Luther den Katholizismus. Die Technikgläubigkeit wurde gewissermaßen gegen sich selbst gerichtet. Seitdem gibt es als Lebenshaltung: skeptische Technikfrömmigkeit - und die avancierteste Form davon findet man täglich in Telepolis, das längst zu einer unverkennbaren Stimme im postantiken Chor derselben geworden ist.

Die gedruckte Presse befindet sich im freien Fall - wobei sie wie ein Blatt vom Baum trudelt; langsam, in weiten Bögen, als ginge sie so graziös wie einst Grace Kelly die Wendeltreppe in einem herrschaftlichen Haus hinab. Aber keine Frage, der Weg führt in den Keller. Die Auflagen sinken, Leser wachsen keine nach, und das Anzeigengeschäft wandert ins Internet aus. Schuld wird den elektronischen Medien gegeben, aber die Wahrheit ist eine andere. Die Printmedien haben zu viele Sparrunden um die Augen. Und sie kümmern sich nur noch um die Interessen der Gattung, weniger um die des Individuums - Stichwort: Service.

Und eben hier liegt der wahre Grund für den Erfolg eines anspruchsvollen Online-Magazin wie Telepolis: Es kümmert sich nicht um die Gattung Mensch (also um Koitus, Kochen, Kewinnspiel), sondern widmet sich - wenn man bitte verstehen will, was ich meine - den Interessen des Individuums (Klavierspielen, Tagebuchführen, die Bibliothek ordnen). Mit anderen Worten: Ein Magazin für freie Geister.

Astrologie

1979, 1989, 2011. Mal sehen, was noch alles kommt. Die Erde häutet sich. Die Telepolis erblüht.