Wie Herr Kayseri bei einer Incentive-Veranstaltung

In der Türkei tauchten Sexvideos von Politikern auf, die der regierenden AKP bei dem Wahlen am 12. Juni eine verfassungsändernde Mehrheit bringen könnten

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Die derzeit wichtigsten Parteien in der Türkei sind die religiös orientierte Regierungspartei Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP), die kemalistische Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), die mit 97 der 542 Sitze größte Oppositionspartei ist, und die nationalistische Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), die im Parlament 70 Sitze hält. Die Piratenpartei (Korsan Partisi) nimmt - wie viele andere kleinere und nicht in erster Linie regional orientierte Gruppierungen - an den am 12. Juni anstehenden Wahlen nicht teil und hätte wegen des Mehrheitswahlrechts und der Zehn-Prozent-Sperrklausel auch schlechte Chancen.

Eine vierte bedeutende Partei war die 2009 verbotene kurdische Partîya Cîvaka Demokratîk (DTP). Sie trat bei den Wahlen 2007 mit unabhängigen Kandidaten an, die Direktmandate errangen, und konnte so trotz Sperrklausel mit 21 Abgeordneten in die Nationalversammlung einziehen. Auch bei den Wahlen im Juni treten in kurdisch dominierten Gebieten wieder zahlreiche unabhängige Kandidaten an. Die Wahlkommission wollte der erneuten Bildung einer kurdischen Parlamentsfraktion einen Riegel vorschieben, indem sie zehn der chancenreichsten Kurden wegen alter Ermittlungsverfahren eine Kandidatur verweigerte. Auch, wenn sich dieses Verbot als nicht haltbar erwies, sorgte der Versuch für eine Verschärfung der Spannungen im Südosten des Landes und eine kurdische Wahlboykottdrohung.

Damit die AKP in den Wahlen eine verfassungsändernde Mehrheit bekommt, würden ihr jedoch nicht nur die Sitze der kurdischen Abgeordneten, sondern auch solche der MHP helfen. Und gegen sie könnte die Rechnung insofern eher aufgehen, als im Web seit einigen Wochen Videos führender Parteimitglieder auftauchen, in denen sich diese zu benehmen scheinen, als wären sie Herr Kayseri von der Hamburg-Mannheimer bei einer Incentive-Veranstaltung in Budapest. Schaden fügten der MHP nicht nur die daraus folgenden zehn Rücktritte zu, sondern auch die ausgiebige Berichterstattung der türkischen Medien über den Skandal. Lag die Partei in Meinungsumfragen vorher bei 14 Prozent, so muss sie jetzt fürchten, die Sperrklausel nicht mehr zu überspringen.

Obwohl ein angebliches Bekennerschreiben auftauchte, in dem sich anonyme innerparteiliche Gegner des derzeitigen MHP-Chefs Devlet Bahçeli selbst der Tat bezichtigen, gehen viele türkische Medien davon aus, dass die AKP und die von ihr kontrollierten Sicherheitsorgane bei der Veröffentlichung der Videos zu einem für die Regierung so günstigen Zeitpunkt durchaus ihre Hände im Spiel gehabt haben könnten. Anhaltspunkte dafür geben ihnen unter anderem die verhältnismäßig gute Qualität der offenbar mit versteckten Überwachungskameras gefertigten Aufnahmen und die Tatsache, dass es im letzten Jahr einen ähnlichen Skandal bei der zweiten ernst zu nehmenden Oppositionspartei CHP gab.

Mediengerüchten zufolge wurden die Videos mit deutschen, zyprischen, niederländischen, portugiesischen und amerikanischen IP-Nummern ins Web gestellt. In der MHP selbst kursieren Verschwörungstheorien, in denen unter anderem der amerikanische Präsident Barack Obama als Drahtzieher gehandelt wird. Bahçeli selbst sprach von einer Spur in die USA mit finanziellen Verbindungen zur AKP und kritisierte den der Regierungspartei angehörenden Staatspräsidenten Abdullah Gül, der mit der Untersuchung der Vorgänge bis nach der Wahl warten will.

Ministerpräsident und AKP-Führer Recep Tayyip Erdogan wies jede Beteiligung an der Herstellung und Veröffentlichung der Videos weit von sich und meinte stattdessen, der Sicherheitsapparat würde alles dafür tun, dass sich die schmutzigen Videos nicht weiter verbreiten. Sollten er und seine Partei eine verfassungsändernde Mehrheit erhalten, dann befürchten türkische Bürgerrechtler, dass es zukünftig noch deutlich mehr Zensur- und Überwachungsmöglichkeiten geben wird.

Den bereits jetzt bekannten Plänen der Partei nach sollen ab 22. August (bisher nur für Cafés vorgeschriebene) Internetfilter auch für Privathaushalte verpflichtend sein. Der Internetrechtsexperte Yaman Akdeniz von der Istanbuler Bilgi Universität meinte gegenüber der österreichischen Zeitung Die Presse, dass diese auch Inhalte ohne Rechtsgrundlage mit blockierten. Konkret davon betroffen wären danach nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern auch Seiten von Anbietern wie der BBC, Google, Facebook, eBay, Amazon oder der Kurden-Eintrag in Wikipedia.

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