Griechenland: Ratlose Panik macht sich breit

Bank Run, Verunsicherung und immer neue Hiobsbotschaften

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Es heißt, dass viele Köche den Brei verderben würden. Im Fall Griechenlands muss man sich fragen, ob die Kochkünstler sich nicht zumindest auf ein Gericht einigen könnten. Der eine kocht Brei und setzt auf den Schuldencut, während der andere wiederum gerade davor warnt und offensichtlich gerne eine Schlachtplatte servieren möchte. Die Opfer solcher Politik wehren sich. Sie gehen allabendlich auf die Straße (Spanische Verhältnisse nun auch in Griechenland?).

Nein zur globalen (Finanz)Regierung. Foto vom 29.5. Bild: Wassilis Aswestopoulos

Geradezu stündlich wechseln sich Hiobsbotschaften mit Dementis und Durchhalteparolen. Jeder Experte möchte unbedingt seinen Senf zum Thema geben. Manche schießen dabei über das Ziel hinaus. Die österreichische Die Presse hat zum Beispiel entdeckt, dass das Land seit Anno Domini 1800 in einer ständigen Staatspleite steckt. Selbst ein Blick in die nicht immer hoch angesehene Wikipedia hätte den Autoren gereicht, um zu sehen, dass Neugriechenland frühestens erst seit dem Beginn der Befreiungskriege 1821 existiert.

Während einige Medien über einen baldigen Tod der griechischen Wirtschaft spekulieren, vermelden andere bereits die Diskussionen über neue Rettungskredite. Mal heißt es das der seit Dominique Strauss Kahns politisch führungslose Internationale Währungsfond nun aus der Griechenlandrettung aussteigen möchte. Tatsächlich ziehen sich die IWF-Manager ohne politische Führung hinter ihr internes eisernes Regelwerk zurück. Die Griechenlandrettung war von Anfang an keine Aktion zur Stützung des Landes, sie diente vielmehr dazu, den Euro als Zahlungsmittel zu sichern.

Fällt die IWF als Zahler aus, dann müsste die EU eingreifen und zwölf Milliarden Euro aufbringen. Ansonsten droht eine europaweite Kettenreaktion der ins Griechenlandgeschäft involvierten Banken. Die Folgen einer solchen Entwicklung sind offensichtlich nicht so gering, wie es politische Optimisten und Opportunisten gern verkünden. Denn wenn die Griechen eine Umschuldung bekommen, dann wollen die Iren erst recht eine haben. Die übrigen europäischen Pleitekandidaten werden diesem Beispiel bestimmt auch folgen wollen. Welcher Politiker könnte seinen Wählern ein anderes Vorgehen verkaufen?

Ratlose Panik macht sich breit und Europas Börsen reagieren regelmäßig mit einbrechenden Kursen auf griechische Horrorszenarien.

Eigentore als sich selbst erfüllende Prophezeihungen

Bis vor wenigen Wochen wurden Gerüchte über schlechte Entwicklungen von den verantwortlichen Akteuren des Krisenmanagements als "zielgerichtete Verunsicherung seitens der Spekulanten" dementiert. Sehr oft wählen griechische Politiker scharfe Worte gegen die ausländische Presse. Gern wird nebulös von bösartigen Märkten und Ratingagenturen gesprochen. Dass die Politik selbst solchen Agenturen Tür und Tor öffnete verschweigt man lieber.

Auf jede Negativmeldung wird mit Klagedrohungen reagiert. Geklagt wird bereits gegen das Focus Magazin, wegen der Berichterstattung des letzten Jahres. Die Münchner hatten Betrüger in der Eurozone vermutet. Der Prozess dazu findet im Juni statt.

Auch Anzeigen gegen das Nachrichtenmagazin Der Spiegel sollten, so tönten griechische Politiker im Fernsehen, gestellt werden. Die Staatsanwaltschaft wurde schon eingeschaltet. Allerdings scheitert in diesem Fall das Einschlagen des juristischen Wegs daran, dass sich in letzter Zeit die im Spiegel vermeldeten Hiobsbotschaften mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit selbst bestätigen. Im Fall des Spiegels war es ausgerechnet Euro-Chef Jean Claude Juncker, der als Lügner in der Eurozone überführt wurde. Was der Luxemburger mit seiner Entschuldigung, er habe gelogen, um die Märkte nicht zu verunsichern, anrichtete ist ihm wohl selbst kaum bewusst. Denn nun glaubt niemand mehr etwas.

Oft verursachen die Polit- und Bankprofis selbst das Desaster. Die EU-Kommissarin Maria Damanaki, deren Zuständigkeitsbereich in Fragen des Fischfangs liegt, schlug am vergangenen Freitag Alarm. Ihr erschien es ratsam, alle Welt noch einmal auf einen drohenden raschen Eurozonenaustritt Griechenlands hinzuweisen. Am Abend zuvor hatte Finanzminister Papaconstantinou bei einem Interview mit dem Journalisten Alexis Papachelas ein weiteres Horrorszenario gemalt. Vor laufender Kamera wählte er dramatische Worte, um darauf hinzuweisen, dass Griechenland nur noch Geld für wenige Wochen hätte.

Würde sich also die fünfte Rate der IWF-EU-Kreditzahlung verzögern, dann würden im Land am 15. Juli alle Lichter ausgehen. Der Minister verschwieg jedoch, dass die IWF-Kredite niemals in Griechenland ankommen. Die Gelder werden sofort für die Schuldentilgung überwiesen. Nur buchungstechnisch erscheinen die fraglichen Beträge auf Konten der griechischen Regierung. Ergo müssten auch ohne die Kreditmilliarden noch Gelder für die Aufrechterhaltung des Staats in der Kasse sein.

Die Dramatik am Freitag wurde dadurch verstärkt, dass Premierminister Georgios Papandreou den Staatspräsidenten Carolos Papoulias bat, alle parlamentarischen Parteichefs zum Rapport einzuberufen. Der Kommissar für Wirtschaft und Währung Olli Rehn hatte die Auszahlung der fünften Rate an eine Einigung der politischen Parteien gebunden. Die Parteien hatten zuvor bereits mehrfach ihre Zustimmung zum wirtschaftlichen Kurs von Premier Papandreou verweigert.

Bei der bisher größten Versammlung am 29.5. gab es bis zu 100.000 Demonstranten. Bild: W. Aswestopoulos

Bank Runs und der Kampf ums Image

Auch Griechen verfolgen die internationale Presse. Glücklich, wer die Originalsprache der jeweiligen Autoren beherrscht. Artikel europäischer Zeitungen werden von der einheimischen Presse regelmäßig ausgeweidet und mit der üblichen hellenischen Dramatik ausgestattet. Was am Ursprung eventuell eine mit einem Kurzinterview versehene Kurzmeldung über eine Griechenlandberichterstattung war, wird so leicht in eine Endzeitprophetie verwandelt. Je näher eine Kultur am Orient ist, umso anfälliger ist sie für emotionale Reaktionen. Nicht umsonst sind Verschwörungsszenarien ein fester Bestandteil in griechischen Politikdiskussionen.

Das ewige Herumgeeiere um die fünfte Rate verunsichert das bereits brachliegende hellenische Wirtschaftsleben nur noch mehr. Die inländischen Banken müssen daher in Zeiten der Krise immer weitere Aderlässe hinnehmen. Allein im Mai wurden 32 Milliarden Euro aus griechischen Banken abgezogen. Die Banken verweisen jedoch darauf, dass ihrer Kenntnis nach die nun abgezogenen Gelder nicht nur als Spareinlage im Ausland landen. Vielmehr müssten viele Kunden, mit ihrem Ersparten den Lebensunterhalt bestreiten.

Während Papoulias und Papandreou stundenlang auf die versammelte Opposition einredeten begannen die Griechen einen kleinen Bank Run. Nahezu jeder versuchte noch ein paar Euros in die Tasche zu bekommen. Konten und Kreditkarten wurden überzogen, um an Geldautomaten noch rasch etwas Bargeld abzuheben. Das gesamte Brimborium um die nahende Rückkehr der Drachme und die Dramatik die in den Medien widerhallte war zu viel für die Griechen.

Die Banken waren mit dem Wiederauffüllen der Terminals überfordert. Die Bilanz des panischen Wochenendes soll laut Medienangaben 1,5 Milliarden Euro betragen. Egal ob es sich bei der Summe mal wieder um eine der üblichen Übertreibungen handelt, die wirtschaftliche und marktpsychologische Wirkung ist fatal.

Am Samstag verkündete Papandreou frech, er brauche gar keine Zustimmung der Opposition. Er würde alles ganz einfach allein machen. Man fragt sich, warum er dann solch einen Lärm um die logischerweise ausbleibende Stützung seitens der Opposition machte.

Das entnommene Geld fehlt nun den Banken für ihr kurzfristiges Alltagsgeschäft. An Stützungsfonds möchte keine der derart bedrängten Banken rangehen. Denn das wiederum würde das Image des Geldhauses stören. Die Banken haben sich anders auf solche Situationen vorbereitet. Sie verweigern in weiser Voraussicht massenhaft Kredite und versuchen, Kontoabhebungen oder Kontoauflösungen zu verhindern. Dies betrifft auch Kredite, die ausreichend gedeckt wären. Ob der potentielle Kreditnehmer durch die Verweigerung der Liquidität geschäftsunfähig ist, interessiert nicht. Es geht den Banken ums eigene, kurzfristige Überleben, das regelrechte Austrocknen der Wirtschaft interessiert da kaum. Wenn es für Banken wirklich eng wird, dann springt der Staat ein.

Europas Politik im "Trial-and-error"-Spiel

Kritiker der euphemistisch als Sparpolitik bezeichneten Methodik mahnten an, dass die Rettung überschuldeter Staaten und deren Gläubigerbanken nicht durch eine von Steuererhöhungen begleitete Kappung von Löhnen und Gehältern bewerkstelligt werden kann. Derartige Maßnahmen lösen in der Regel Rezessionsspiralen aus (Wenn "Verrückte" in Europa regieren).

Gerade am Beispiel Griechenland zeigt sich, wie Recht die Zweifler haben. Das Land hat eine einzigartig chaotische Wirtschaftsstruktur. Einem Heer von Niedriglohnempfängern steht eine elitäre Gruppe systematisch Begünstigter gegenüber.

Diese Begünstigten stellen die Klientel der sich abwechselnden Regierungsparteien dar. Sie bevölkern die hoch bezahlten Jobs der Staatsbetriebe. Und sie sind Hauptlieferanten des Staats und der staatlichen Betriebe. Als Lobby haben sie Zugriff auf private Rundfunkstationen und somit auf politische Meinungsbildung. Wundert es da, dass gegen Privatisierungen Sturm gelaufen wird?

Es ist außerordentlich schwierig, an die von dieser Klientel hinterzogenen Steuern heranzukommen. Noch schwieriger, wenn nicht gar hoffnungslos ist es, in rezessiven Wirtschaftszeiten, die in der Vergangenheit gemachten Steuergeschenke an die Einflussreichen und Vermögenden rückgängig zu machen. Für solch eine Herkulestat müsste ein potentieller Etatretter sowohl den langfristigen Rückhalt seiner ausländischen Kreditgeber als auch die volle Unterstützung der Bevölkerung haben.

Seit sechs Tagen füllt sich allabendlich der Syntagma Platz. Der typisch griechische Fluch mit der offenen Hand wird tausendfach wiederholt. Bild: W. Aswestopoulos

Steuerschraube anziehen, funktioniert nicht

Das von griechischen Politikern gern angeführte Argument, man werde fehlende Gelder durch Bekämpfung der Steuerhinterziehung eintreiben ist eine Chimäre. Ein Mythos, den die Politik selbst miterschaffen hat und der über mediale Kanäle allseits das Bild der böswilligen, steuerflüchtigen Hellenen prägte.

Alle Jahre wieder verpflichten die wechselnden Finanzminister des Landes Freiberufler dazu, Ablassscheine zu kaufen. Gemessen am gemeldeten Umsatz, ergänzt durch Schätzungen und Auswertung der Lebensverhältnisse der Steuerpflichtigen wird staatlich festgelegt, was noch zu zahlen ist. Nach erfolgter Ablasszahlung, im griechischen Peräosi genannt, ist jegliche vorherige Schuld beglichen.

Die letzte Peräosi fand im vergangenen Jahr statt. Dadurch konnte die Einnahmenstatistik des griechischen Fiskus noch einmal geschönt werden. Der prüfende IWF lobte die positive Entwicklung. Allerdings ist der Preis für diese kurzfristig wirkende Kosmetik hoch. Denn da bei dem Peräosi-Verfahren alle Freiberufler und Unternehmer über einen Kamm geschert werden, wurden ehrliche Steuerzahler ebenso belastet wie die notorischen Verweigerer. Wer also brav seinen Obolus entrichtet hatte, durfte zur Belohnung noch einmal ran. Als Reaktion darauf sank die Steuermoral nur noch mehr.

In Folge dessen versucht Premier Papandreou mit seinem Finanzminister Papaconstantinou verzweifelt über Verbrauchssteuern, die notwendigen Gelder einzutreiben. Die stete Erhöhung dieser Abgaben erhöht die Inflation und würgt den Konsumgütermarkt immer mehr ab.

Als Konsequenz dieser Wirtschaftspolitik gibt es außer einer exorbitanten Arbeitslosenzahl von knapp 16 Prozent und massenhaft schließenden Einzelhandelsläden nunmehr 80.000 Haushalte ohne Stromanschluss. Die Menschen können schlicht, die zusammen mit der Stromrechnung erhobenen kommunalen und sonstigen Steuern, nicht mehr bezahlen. Denn auch diese stiegen in Zeiten der Lohn- und Gehaltskürzung. Sie werden ebenso wie weitere Verbrauchssteuern pauschal und nicht leistungsbezogen erhoben.

Papandreou erhält Schelte von allen Seiten

Während in Europa die ratlosen Politiker und Experten um mögliche Auswege aus dem griechischen Paradoxon ringen, müssen sie ihrer einheimischen Klientel ein Opferlamm bringen.

Mehr und mehr gerät dabei Papandreou selbst in die Schusslinie. Es hilft ihm nicht, dass der OECD ihm bescheinigt, er habe einen Sparrekord aufgestellt. Vergessen sind die Lobreden vom vergangenen Jahr. Die für ihre Griechenlandkritik bekannte Bild feierte noch im letzten Jahr die Quadriga-Preisverleihung an den Griechenpremier. Vielleicht ist es ein schlechtes Omen, dass Papandreou seinen Preis gemeinsam mit einem gewissen Herrn von Guttenberg erhielt.

Im Land selbst ist der Rückhalt für den Sozialistenchef noch geringer. Die eigene Partei revoltiert, parteinahe Gewerkschaftsverbände treten in die Opposition und das Volk geht auf die Straße. Noch nie hat ein amtierender, griechischer Premier solche Mengen an öffentlichen Beschimpfungen über sich ergehen lassen müssen. Der Premier ist noch nicht ausgeknockt. Allerdings ist er zumindest schwer angeschlagen.

Die Wutbürger als politisch amorphe Masse

Die Demonstranten eint derzeit der Hass auf das politische System. Was danach kommt, das muss sich zeigen. Zunächst soll Papandreou gestürzt werden und möglichst Hollywood reif in einem Helikopter fliehen. Am Besten nimmt er dabei, so wünschen sich die Menschen in Sprechchören, den IWF mit.

Parallel zu den Demonstrationen finden basisdemokratische Diskussionsrunden statt. Politische Parteien aller Couleur versuchen bisher erfolglos einen Zugang zu den Wutbürgern zu erlangen.

Auf dem Prüfstand steht die Bewegung am Dienstagabend. Der greise Komponist und Expolitiker Mikis Theodorakis hat zu einem Happening an Hauptgebäude der Athener Universität aufgerufen. Zusammen mit den Autoren der seit 1974 gültigen Verfassung möchte er Kritik und Lösungsvorschläge präsentieren. Er hatte vor wenigen Monaten eine Bürgerbewegung, Spitha = der Funke, gegründet.

Der Ex-Kommunist Theodorakis schlägt nun neben linken Parolen auch betont patriotische Töne an. Dies stört eine nicht zu unterschätzende Zahl der Wutbürger, bringt aber auch Zulauf von rechts und links. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Experiment der Protestler entwickelt. "Es gibt uns erst seit sechs Tagen", meinte einer der Demonstranten in einer Talkshow, "wer kann da schon jetzt Lösungen und Ergebnisse erwarten?"

Und was wird aus dem Euro?

Die Frage nach der Zukunft des Euro rückt so für viele Griechen immer mehr in den Hintergrund. Sie möchten statt der währungspolitischen Sanierung zunächst eine Reform des politischen Systems erreichen.

Die Eurozonenpolitiker indes müssen ihre Problemlösung auch noch finden. Entweder entschließt man sich endlich zu einem politisch motivierten Handeln oder man findet immer weiter Zahlungswillige, bis der Ernstfall einer Sackgasse schlussendlich eintritt.

Noch scheint es jedoch nicht so weit zu sein. Finanzminister Papaconstantinou verkündete im Laufe des Montags stolz, dass die fünfte Rate sicher sei. Er habe es in zähen Verhandlungen geschafft, die Kreditgeber zu überzeugen. Seltsam ist bei diesem Spiel nur, dass sich in Kürze wieder alle Experten über Hiobsbotschaften wundern werden.