Das normalisierte Drogenparadies am Ende Europas

In Portugal ist der Konsum aller Drogen seit zehn Jahren entkriminalisiert. Die Erfahrungen sind positiv

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Weitgehend ignoriert von der europäischen Öffentlichkeit läuft in Portugal seit zehn Jahren ein denkwürdiges drogenpolitisches Experiment. Seit 2001 stehen der Erwerb und Gebrauch jedweder Droge zum persönlichen Vergnügen oder der Ruinierung der Persönlichkeit nicht mehr unter Strafe. Damals vermuteten Drogenexperten, dass Portugal zum El Dorado des unkontrollierten Rausches werden würde. Die Realität sieht heute anders aus.

Aber zunächst zur Vorgeschichte der drogenpolitschen Wende. In der portugiesischen Bevölkerung spielen der Genuss und Missbrauch illegaler Substanzen bis heute keine übermäßig große Rolle. Im Jahr 2001, dem Jahr der großen Reform, hatten nur 7,8 % der Bürger zwischen 15 und 64 jemals irgendeine psychoaktive Substanz probiert. In Großbritannien beispielsweise waren das im selben Jahr 34 %. Auf der anderen Seite gilt das Land als Einfallstour für allerlei Spezialitäten aus aller Welt, primär, um danach weiter transportiert zu werden. Kokain kommt aus Südamerika, Heroin aus Spanien, Haschisch aus Marokko, Marihuana aus Südafrika.

Ausgeprägt war seit den späten 80er Jahren allerdings der Heroinkonsum. Kurz vor der Jahrtausendwende hatte das Land zudem die höchste Quote an HIV-infizierten Drogennutzern in ganz Europa. Die Reform der Drogengesetze ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Portugal suchte zum einen nach Möglichkeiten, den Kontakt zu den Konsumenten aufrecht zu erhalten, zum anderen nach Wegen abseits der üblichen Bestrafung.

Gesundheitsorientierung vor Strafe zu setzen, darüber wird in Portugal schon seit Mitte der 70er Jahre diskutiert. Die aktuelle Entkriminalisierung ist keine drogenpolitische Spielwiese akzeptanzverliebter Alt-68er, sondern eine Reaktion auf die fatalen Probleme mit AIDS. Es ging von Anfang an darum, mehr verelendete Heroinkonsumenten in Therapie zu bringen und zugleich Polizei und Gerichte zu entlasten. Darauf weist auch der Leiter der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, Tim Pfeiffer-Gerschel, gegenüber Telepolis hin:

Es gab über viele Jahre einen parteienübergreifenden Konsens, Drogenkonsum unter einer public health-Perspektive zu betrachten und gleichzeitig eine in sich geschlossene Politik und Strategie voranzutreiben, die sich innerhalb internationaler Rahmenbedingungen bewegt.

Tim Pfeiffer-Gerschel

Seit dem 1. Juli 2001 steht nun der Erwerb und Gebrauch jedweder Droge zum persönlichen Vergnügen oder der Ruinierung der Persönlichkeit nicht mehr unter Strafe. Sie landen als Vergehen gegen die öffentliche Ordnung vor einem regionalen Gremium der CDT (Comissões para a Dissuasão da Toxicodependência). Dieses Gremium besteht aus einem Rechtsexperten, einem Sozialarbeiter und einem Arzt. Es kann durchaus Bußgelder verhängen oder die Mitarbeit in einem sozialen Dienst verordnen, primäres Ziel aber ist es, den Delinquenten, falls nötig, in eine therapeutische Maßnahme zu überführen.

In der Praxis dürfen Konsumenten nicht mehr als 10 Tagesdosen mit sich führen, das sind 0,1g Heroin, 0,1g Ecstasy, 0,2g Kokain oder 2,5g Cannabis. Überschreiten sie diese Menge, werden sie der normalen Gerichtsbarkeit überführt.

Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet

Nach Verabschiedung der neuen Gesetze zeigten sich die Vereinten Nationen entsetzt. Man malte das Bild vom florierenden Drogentourismus und sprach davon, dass damit die internationalen Drogenabkommen, die auch Portugal unterzeichnet hat, verletzt würden.

Dann, 2004, bereiste eine UN-Delegation aus Mitgliedern des International Narcotics Control Board Portugal und fand erste Anzeichen dafür, dass sich das Land weder in eine dauerkiffende Hippie-Kommune noch in eine MDMA-lastige Rave-Party verwandelt hatte. Man brauchte ein paar Jahre, um den Schock zu verarbeiten, erst im Weltdrogenbericht 2009 kommt man für Portugal zu dem Schluss: "Es scheint, als hätten sich eine Reihe von drogenbezogenen Problemen verringert."

Bislang herrscht auf nationaler wie internationaler Ebene viel Rauch, aber wenig Feuer in der Diskussion um die Möglichkeiten der rechtlichen Behandlung des Drogenkonsums. Dabei ist Portugal durchaus ein Exempel dafür, was passiert, wenn Menschen mit mehr oder weniger abstrusen Vorstellungen ihrer Freizeit- und Lebensgestaltung nicht mehr ob ihres Hobbys oder ihrer Krankheit behördlich verfolgt werden.

Seit Jahrzehnten werden in der drogenpolitischen Diskussion aber die alten Rivalen "Prohibition" und "Legalisierung" gegeneinander ausgespielt. Dabei bezweifelt heute kaum noch jemand, dass das eine mit dem liberalen Staat kaum vereinbar, das andere unter den Bedingungen der Konsumgesellschaft kaum funktionieren kann.

Auch statistisch gesehen ist der Drogenkonsum-Dammbruch ausgeblieben

Wie sieht es nun aus in Portugal? Ein paar Zahlen: Jedes Jahr landen rund 6.000 Fälle vor den landesweit 18 Gremien der CDT. 94 % davon sind Männer, 47 % sind zwischen 16-24 Jahre alt, 31 % zwischen 25-34. In fast allen Fällen ging es um Cannabis oder Heroin. Über 40 % der Fälle gehen auf das Konto der großstädtischen Distrikte von Lissabon und Porto.

Die portugiesischen Experten sind sich nahezu einig über den Erfolg der neuen Politik: Man hält es für gut, dass Drogenkonsumenten nicht mit der Polizei, den Gerichten oder gar dem Strafvollzug in Berührung kommen, sondern mit Experten, die den persönlichen Fall betrachten und aus einem Maßnahmenbündel entscheiden können. Das Kalkül scheint aufzugehen: Therapiebedürftige Dauerkonsumenten werden durch die CDTs an soziale Einrichtungen vermittelt, die vielen Gelegenheitskonsumenten aber, beispielsweise von Cannabis, werden in Ruhe gelassen. Rund 68 % aller vor den CDTs landenden Fälle werden eingestellt.

Interpretiert man die Statistiken weiter, scheint es, als ob der befürchtete Drogenkonsum-Dammbruch ausgeblieben ist. Zwischen 2001 und 2007 stieg in Portugal die Lebenszeitprävalenz ("hat jemals im Leben konsumiert") für alle psychoaktiven Substanzen um 4,4 Prozentpunkte an, und zwar von 7,6 % auf 12,0 %. Dies kann einerseits als probierlustige Reaktion auf die als Freigabe empfundene Entkriminalisierung zurückgeführt werden. Autoren wie Caitlin Hughes und Alex Stevens, die die Effekte der Neuausrichtung in Portugal untersucht haben, weisen darauf hin, dass auch in den Nachbarländern Spanien und Italien die Lebenszeitprävalenz in diesem Zeitraum angestiegen ist.

Insgesamt stieg der Konsum von illegalen Drogen in Portugal bis 2003 leicht an, um danach wieder abzufallen. Auch dieses Phänomen war allerdings in den Nachbarländern Spanien und Italien zu beobachten. Der problematische Konsum scheint dagegen sukzessive abgenommen zu haben. Zudem beruhigte sich die Szene in den Strafvollzugsanstalten, dort verringerte sich die drogenbezogene Kriminalität erheblich.

Aussagekräftiger als die Lebenszeitprävalenz ist ohnehin die Antwort auf die Frage, ob eine psychoaktive Substanz im letzten Monat eingenommen wurde. Die beliebteste illegale Droge, Cannabis, erlebte keinen Boom. 2001 hatten 2,4% der befragten Portugiesen sie im letzten Monat geraucht, dieser Wert hatte sich 2007, auch unter den jüngeren Konsumenten, nicht erhöht. Auch bei Ecstasy und den Amphetaminen und ebenfalls bei den legalen Mitteln Alkohol und Tabak blieben die Werte nahezu auf einem Niveau.

Glaubt man den Zahlen der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle EMDAA, hat sich der Zugang zu illegalen Drogen nicht vereinfacht. Der Bericht 2009 über die nationale Drogensituation in Portugal, der direkt bei der EBDD landet, kommen zu dem Schluss:

Considering the legal status of drug use in Portugal it is interesting to realize that drug use did not increase among young people, but instead the trend seems to be in the direction of the decrease either in the number of users (prevalence) or in the intensity of use (lower level of intensive use-more than 20 times in last 12 months) among the users.

Von Portugal Entkriminalisierung lernen

In Deutschland wird die kleine Revolution im Süden Europas weitgehend ignoriert. Weder Wissenschaft noch Parteien haben die drogenpolitische Moderne bislang thematisiert. Vielleicht auch, weil bei aller Zahlenspielerei unklar ist, in wie weit die Gesetze überhaupt Einfluss auf das Konsumverhalten haben. Kulturell bedingte Moden scheinen eine mindestens ebenso große Rolle zu spielen. Seit kiffende Gangsta-Rapper für viele Jugendliche nicht mehr die Leitkultur bilden, hat auch der Drang zum Bong erheblich nachgelassen. Nach Portugal ist allerdings klar, dass eine Entschärfung der Verfolgung nicht zu einem grundlegend anderem Konsumverhalten animiert.

So bleibt festzustellen, dass die portugiesische Reform den verelendeten Heroingebrauchern am meisten geholfen hat. Deren drogenbedingte Todesfälle gingen in Portugal signifikant zurück. Die zweite Erkenntnis: Der Begriff der "Entkriminalisierung" muss kein politisches Schreckgespenst sein, sondern könnte zukünftig eine Palette von Möglichkeiten beinhalten, wie rechtlich und kulturell mit den Gebrauchern und Genießern von illegalen Drogen umgegangen wird. Dafür allerdings müssten die politischen Akteure überhaupt den Gestaltungs- und die Wissenschaft den Forschungswillen aufbringen. Es wundert doch sehr, dass niemand sich aufmacht heraus zu kriegen, wie die Effekte einer Entkriminalisierung sauber zu messen sind.

Insgesamt ist es wissenschaftlich enorm schwierig, kausale Effekte isolierter Bestandteile komplexer Strategien nachzuweisen, hierzu fehlen noch überzeugende methodische Konzepte.

Tim Pfeiffer-Gerschel

Positiv sei, dass Portugal die Evaluation und daraus abzuleitende Anpassungen des Vorgehens zum Teil seiner Strategie gemacht habe. Damit sei gewährleistet, dass es in regelmäßigen Abständen eine kritische Betrachtung und Diskussion hinsichtlich des Status quo und der Veränderungen gibt. "Hier kann man sicherlich von Portugal lernen."

Das nächste Experiment hat jedenfalls schon begonnen. In Tschechien steht seit Anfang 2010 der Besitz bestimmter Mengen Drogen nicht mehr unter Strafe, sondern gilt als Ordnungswidrigkeit. Wer bis zum 15 Gramm Marihuana, ein Gramm Kokain oder anderthalb Gramm Heroin bei sich trägt, landet nicht mehr vor dem Richter, muss aber mit einer Geldstrafe rechnen.