Netzzukunft und IPv6

Internetpionier Vinton Cerf auf interplanetarischem Erkundungstrip

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Kurz vor dem weltweitenIPv6-Tag hat für die Internetgrößen der Countdown bereits begonnen. In Potsdam etwa nahm Google-Vordenker Vinton Cerf, bekanntermaßen ein Verfechter des neuen Netzstandards, die Zukunft des Internetprotokolls in Visier. Er fordert nicht nur dessen rasche Einführung, sondern plädiert auch für eine Wiedergeburt von technisch wie finanziell aufwändigen amerikanischen Raumerkundungsprogrammen.

Dass sich der Miterfinder des Internets gegen das "Zwei-Klassen-Web" mit unterschiedlich gestaffelten Tarifmodellen je nach Geldbeutel der Kunden ausgesprochen hat, nachzulesen etwa im Social Media Blog, diese Nachricht verkam fast zur Randnotiz. Immerhin war das eine kaum verhalten formulierte Kritik an den Telekommunikationskonzernen.

Vom Cloud Computing, also den direkt in die Wolke verlagerten Datenbaustellen, hält Vinton Cerf übrigens rein gar nichts, erklärte er in einem Interview mit der Wochenzeitung Zeit: Cloud Dienste sind nutzlos. Diese sieht er als eine Art von Informationsgrab an, weil sich die einmal in die Wolke eingespeisten Daten dort nicht mehr heraus holen oder auf andere Systeme übertragen ließen.

Dies führt direkt zu der brennenden Frage: Entwickelt sich das Internet zu einer neuen Black Box, bei der viel rein geht, man aber nie genau weiß, was hinten rauskommt? Wer die Antwort weiß, der werfe den ersten Stein. Im persönlichen Fokus von Vinton Cerf steht derzeit ohnehin ein anderes Thema, das neue Datenverkehrsregelwerk Internet-Protokoll Version 6 (kurz: iPv6). Es soll das bisher gültige Protokoll ablösen, dessen Netzanschlussadressen (IP-Adressen) im Lauf dieses Jahres vollständig ausgeschöpft sein werden.

Passend dazu erfolgte der Besuch des Internetpioniers in Deutschland rund zwei Wochen vor dem weltweiten IPv6-Tag. Denn am 8. Juni soll ein 24-stündiger Probelauf stattfinden, in dessen Rahmen die weltweit größten Websites über die nächste Generation des Internetprotokolls erreichbar sein werden - parallel zum bisherigen Standard. Einen solchen Test habe es in dieser Größenordnung bislang noch nicht gegeben, lassen die von den Nutzerzahlen euphorisierten Internetgiganten durchklingen.

Mit der IPv6-Demo wollen Inhalte-Anbieter und Netzprovider wie Google, Yahoo!, Facebook, Akamai und Limelight Networks laut offizieller Lesart die Technologie auf ihre Alltagstauglichkeit hin untersuchen, um dadurch unerwartete Fehler und Probleme aufzuspüren. Aus Sicht der Wirtschaft hält sich der Hype über die nahende Umstellung bislang jedoch in Grenzen.

Interplanetares Internet

Noch gleicht die Umstellung für viele Zaungäste einem komplexen Wendemanöver im Orbit. Und damit wären wir beim Thema der Zukunftsvisionen: Die hierzulande kaum bekannte Seite des Internetpioniers ist nämlich die, dass Vinton Cerf tatsächlich als technischer Berater für die TV-Kultserie "Mission Erde - Sie sind unter uns" agierte. In der zwischen 1997 und 2002 ausgestrahlten amerikanischen Fernsehserie aus der Feder von Star-Trek-Erfinder Gene Roddenberry hatte er sogar einmal einen Gastauftritt als Stabschef des US-Präsidenten.

Hierzulande fiel der Erfolg der Weltraumserie allerdings ziemlich bescheiden aus. Vom Flug durch die Galaxie zu träumen, ist freilich weiter erlaubt, sofern man festen Boden unter den Füßen hat. Kaum hatte Cerf den Flieger in der bundesdeutschen Hauptstadt verlassen, fand er sich flugs im Hörsaalgebäude des Hasso Plattner-Instituts für Softwaresystemtechnik GmbH (HPI) in Potsdam wieder. Dort wurde der Vizepräsident und "Chief Internet Evangelist" von Google nämlich mit dem HPI Fellowship Award ausgezeichnet.

Unzählige Preise entgegenzunehmen, das ist der 67-Jährige aber ohnehin längst gewöhnt. Vinton Cerf ist nämlich einer der auch heute noch prägenden Protagonisten aus der ersten Netzentwicklergeneration, von der vor allem jene Menschen profitieren, die soziale Netzwerke heute so selbstverständlich nutzen wie früher Technikverwöhnte das Festnetztelefon. Der US-Mathematiker und Informatiker hatte immerhin in den Jahren zwischen 1976 und 1982 gemeinsam mit Robert Kahn das Internetprotokoll TCP/IP entwickelt (Der Geburtstag des Internet).

Das damalige Vorhaben unter dem Namen Arpanet war ein Projekt der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Es ist ein geschichtliches Paradoxon: Ohne den Forschungsdrang des militärisch-industriellen Komplexes wäre das Internet möglicherweise heute noch eine Zukunftsvision für Spezialisten in hermetisch abgeschlossenen Kommunikationsabteilungen (Über die Entstehung des Internet und die Rolle der Regierung). Aber von der ersten Mondfahrt durfte via Teflonpfanne auch die gesamte Menschheit profitieren, obwohl nach wie vor hartnäckig das Gerücht kursiert, dass dieses Kochwerkzeug gar kein Abfallprodukt der US-Raumfahrtbehörde NASA gewesen sein soll.

Bei seinem Deutschlandtrip kommt der Mathematiker denn auch immer wieder auf gerade dieses Lieblingsthema zu sprechen, das er frei übersetzt als interplanetarischen Erkundungstrip bezeichnet. Damit gemeint ist allerdings nicht die derzeit wenig realistische Besiedlung von entfernten Galaxien, wie dem Planeten Mars durch die Erdbewohner. Angesichts der drastischen Sparmaßnahmen im US-Raumfahrtprogramm wären ohnehin starke Zweifel an einer kurzfristig anberaumten größeren Weltraum- oder gar Odyssee zum Mars angebracht.

Vielmehr solle die Menschheit, so Cerf, die große Herausforderung der Netzentwicklung zum Anlass nehmen, eine zukunftsweisende Internetkommunikation zu entwickeln, die alte Wahrnehmungsmuster verlasse und bisherige Vorstellungsgrenzen sprenge. Was könnte damit gemeint sein? Immerhin gibt es für diese Vision bereits einen Namen: Die von Cerf als Interplanetary Internet "InterPlaNet" (IPN) bezeichnete virtuelle Erkundungsmission dient ihm nicht nur als symbolisches Leitbild für ebenso leistungsfähige wie sichere Internetarchitekturen. Fest steht für Cerf: Das gewöhnliche Internetprotokoll reicht nicht für Verbindungen im All, etwa zu Weltraumsonden, die den Mars ansteuern.

Das Widersprüchliche an der vermeintlich (un)sicheren Netzkommunikation ist allerdings, dass der prägende Einfluss des Militärs das Netz in seiner aktuellen Form überhaupt erst möglich gemacht hat. Man mag es somit als pikante Fußnote der Geschichte werten, dass jetzt ausgerechnet Vinton Cerf erneut die anfällige Domain Name System Security (DNSSEC) als eines der Hauptargumente für die rasche Umstellung auf die neue, weil deutlich zuverlässigere Version iPv6 ansieht, gerade weil er die Vorläuferversion als nicht manipulationssicher einstuft.

Neue Anwendungen machen neues Protokoll notwendig

Der Experte macht auch handfeste wirtschaftliche Gründe geltend. Den Trend zu sensorbasierten Netzwerken im Smart Home sieht der Experte dabei aus eigener Erfahrung als einen Treiber für die rasche Einführung des neuen Standards an. Es müsse nämlich ausgeschlossen sein, dass der Hacker von nebenan die Haussteuerung selbst neu konfigurieren könne. Dass derartige Eingriffe von außen auch auf Basis des neuen Protokolls keineswegs ausgeschlossen sind, lässt der Chefvisionär von Google jedoch unbeantwortet.

Es gebe zudem weitere handfeste Argumente für den zügigen Umstieg, etwa durch intelligente Tools zum Stromsparen und andere zukunftsweisende Innovationen, wie sie beispielsweise durch Smart Grids erst möglich seien. Kurzum: Der Experte outet sich als aktiv bekennender Fan von iPv6. "Die Macht des Internets liegt im kollaborativen Designprinzip und freien Netzzugang", umreißt er sein Forschungscredo.

Neue Herausforderungen, denen das bisherige Netzprotokoll IPv4 nicht mehr gerecht werden könne, sei auch der Trend zu mobilen Endgeräten - und schlussendlich eben auch, seit längerem bekannt, das überbordende Domain-System. Derzeit befinden sich laut IANA das alte Protokoll IPv4 und die neue IPv6 im Parallelbetrieb. Das Auslaufen der Adressen im asiatischen Raum sei bereits voll im Gange, gibt Cerf zu bedenken.

Cerf macht den Trend am weiteren allgemeinen Fortschritt fest. Neue Applikationen wie iChat oder Skype, Twitter und Webex, sie liefern laut dem Internetexperten genügend Gründe, die im Netz eine große Bandbreite und hohe Prozesspower erfordern, und die nur der neue Standard IPv6 liefern könne. Schaue man sich allein die Zahl der Downloads auf Youtube an, so werde die Relevanz der Umstellung auf iPv6 mehr als deutlich, bilanziert Vinton Cerf.

Natürlich lässt Vinton Cerf als Vertreter von Google die unternehmensspezifischen Interessen nicht ganz außen vor. Schließlich soll der Nutzer bequem und ruckelfrei vor jedem kleinen mobilen Endgerät irgendwo im Nirwana die (inter)planetarischen Anwendungen des Suchmaschinengiganten betrachten dürfen, wie Google Moon, Google Mars oder Google Sky.

Und gerade hier wird die Sympathie des Pioniers für bahnbrechende Ideen an der Grenzlinie zwischen Science Fiction und Realität wieder deutlich. Denn auch das satellitengestützte amerikanische Kommunikationssystem (TDRSS) sei eine wertvolle Blaupause für IPv6, ebenso wie das "In-Space-Routing" der amerikanischen Weltraumbehörde NASA.

Angesichts der interplanetarischen Zukunftsvision, die Cerf trotz der radikal gekürzten US-Raumfahrtprogramme mit ungebremstem Optimismus weiterhin vertritt, gerät ein bodenständiges Argument für die Umstellung auf IPv6 fast zur Nebensache: Nämlich für möglichst störungs- und latenzfreie Protokolle zu sorgen, damit die Internetnutzer sich auf Basis der neuen Protokollvariante IPv6 möglichst ungehindert im Netz tummeln können.