Der zornige Jude

Alle Bilder: Twentieth Century Fox

Strangelove, oder wie wir lernen, Magneto zu lieben - Matthew Vaughns sehr gelungener "X-Men: First Class" erzählt von den zwei Seiten Amerikas

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X-Men-reloaded - statt die Geschichte der Mutanten-Superhelden einfach weiter fortzuschreiben, erzählt Matthew Vaughns Film X-Men: First Class jetzt sehr gelungen ihre Vorgeschichte und Anfänge und platziert die Superhelden in der Kennedy-Ära zur Zeit der Kuba-Krise. Der Film spielt dabei auch mit den Stilelementen der heute altmodisch anmutenden Sixties-Moderne: Als die Männer noch Hüte trugen und Frauen kurze Röcke; als Fernseher rund waren, schwarz-weißes Rauschebild hatten, Autos eine Chromleiste, der Rest Ecken und Kanten. Zum überaus hübschen Production Design kommen Hardboiled-Dialoge - und Kalter-Kriegs-Jargon sorgen endgültig dafür, dass man sich hier immer wieder mal in Stanley Kubricks Dr. Seltsam oder einen frühen James Bond versetzt fühlt. Und am Ende des Films wissen wir endlich, wie die X-Men eigentlich die X-Men wurden.

Für lange Sekunden sieht alles aus, wie in einem Film der Sechziger Jahre. Die Leinwand faltet sich auf, öffnet immer neue Bilder, die durch schwarze Rahmen in drei Streifen oder unterschiedlich große Rechtecke unterteilt sind. Diese Rahmen sind immer in Bewegung, sie vergrößern und verengen, schneiden vorhandene Bilder entzwei, oder verknüpfen sie durch ihr Verschwinden. Dies ist, etwa in der Mitte des Films, ein virtuoser Kinomoment voller Eleganz und Musikalität. Und die Rahmen sind keineswegs als Anspielung auf Comic-Bilder gemeint: Vielmehr darf man sie als Verbeugung vor der im Sechziger-Jahre-Kino kurze Zeit modischen, dann leider fast verschwundenen Splitscreen-Technik verstehen, die etwa einem Werk wie The Thomas Crown Affair einen ganz eigenen Charme verleiht.

Diese Sequenz, immerhin mehrere Minuten lang dauert, erzählt von der Erziehung der X-Men. Sie spielt in der Schule des Charles Xavier, der bald nur noch "Professor X" heißen wird. In Comic und Film ist das der Ruhepol und Rückzugspunkt der Handlung, hier ist es der Ort der Initiation: wie im Grunde jede Schule der Schauplatz eines Optimismus, der an die Verbesserungsfähigkeit des Menschen durch Bildung und Erziehung glaubt, an Aufklärung. Hier lernen junge Mutanten den sozialverträglichen Umgang mit ihren sonderbaren Kräften, die ihnen selbst unheimlich und fremd sind, ebenso wie das Akzeptieren der eigenen Andersheit. Von selbst ist nichts davon vorhanden - "wir müssen trainieren, wir alle." hatte Xavier zuvor noch erklärt, und sich selbst ganz bewusst eingeschlossen.

Das Ziel dieser Ausbildung ist Beherrschung der Fähigkeiten, Kontrolle über sie. Und Selbst-Bewusstsein und die - demokratische - Tugend des Stolzes. "Beast! Never forget: Mutants are proud." sagt Mystique einmal. Die X Men müssen werden, was und wer sie sind. Und wir lernen die X-Men alle genauer kennen: Mystique, Beast, Banshee, Havok. Gesprochen werden hier übrigens viele Sprachen. Außer Englisch auch deutsch, russisch, französisch.

Um so weniger Utopie, um so stärker wuchs das Verlangen nach Fantasy

X-Men: First Class ist ein Prequel zu den drei X-Men-Filmen, deren erste beide (von Bryan Singer inszenierte) zu den besten Comic-Verfilmungen überhaupt gehören. Nach dem künstlerischen Flop des dritten ist Singer nun wieder an Bord, diesmal als Produzent. Gemeinsam mit ihm erzählt Regisseur Matthew Vaughn wie alles begann. Es war Tim Burtons erster Batman-Film aus dem Jahr 1989, der den Anstoß zur heute immer noch andauernden Welle der Comicverfilmungen lieferte. Auf dem Fall des Eisernen Vorhangs folgte dann das vermeintliche Ende der Utopien - und um so weniger Utopie, um so stärker wuchs das Verlangen nach Fantasy, nach dem Retro-Charme der zumeist in der Nachkriegszeit entstandenen Comic-Welten: Auf die erste Batman-Welle folgten 11 bzw. 14 Jahre später dann Bryan Singers X-Men und X-Men 2 - kleine Meisterwerke, die sich mühelos mit der gleichzeitigen Spider-Man-Franchise messen konnten. Beide kamen aus dem Hause Marvel, ähnlich wie die diversen Helden der folgenden Kino-Comics: Daredevil, Wolverine, Ironman, Fantastic Four um nur die wichtigsten zu nennen.

Freiheitliche Mythologie: Vervielfältigung des Heroismus

Mutanten. Freaks. Davon handeln die X-Men, in zahllosen, so umständlich wie episch verzweigten Marvel-Comics seit den frühen Sechzigern, wie in mittlerweile fünf Kinofilmen seit dem Jahr 2000 (X-Men Origins: Wolverine von Gavin Hood mitgerechnet). Ihre Helden sind Außenseiter, "Andere", die aussehen wie Menschen, aber durch irgendeine, gar nicht immer leicht bemerkbare Besonderheit von ihnen unterschieden sind: Diese Mutanten verfügen über - jeweils individuell höchst verschiedene - übermenschliche Fähigkeiten, wobei jede Mutation auch mit spezifischen Schwächen verbunden ist. Das Grundszenario jeder Story dreht sich jenseits des oberflächlichen Gut-Böse-Schemas primär um Fragen des sozialen Zusammenlebens unterschiedlicher Lebensformen, um Individualität und Multikulturalität - X-Men unterscheiden sich vom Rest der Comic-Helden in mancher Hinsicht: Nicht einer steht hier im Mittelpunkt, sondern es sind sehr viele Helden, und nur gemeinsam können sie siegen. Mit dieser Vervielfältigung des Heroismus waren Comic und Filme in den letzten Dekaden viel erfolgreicher als die verklemmten Einzelgänger Spider-Man und Batman. Trotzdem sind die X-Men zutiefst liberale und humanistische, den Individualismus feiernde Fantasy, die primär vom Anderssein und dem Umgang mit ihm handelt.

Gerade im politischen Kontext der Bush-Ära mit ihrer Terror-Paranoia und der massiven Einschränkung von Bürgerrechten erschien die freiheitliche Mythologie der X-Men als Gegenentwurf. Zudem ist der Stoff durch direkte historische Verweise auf Judenverfolgung und Kommunistenhatz in der amerikanischen Freiheitsgeschichte verankert.

Dies ist auch einer der besonderen Vorzüge dieses Films: Denn die heimliche Hauptfigur des Films ist klarerweise Magneto: Das Prequel setzt vor dem ersten "X-Men"-Film an, und erzählt, was in dessen Vorspann nur kurz angedeutet war: Magneto wuchs als Kind in einem jüdischen Ghetto auf, musste die Ermordung seiner Eltern erleben, und wurde selbst im KZ von einem perversen Mengele-artigen Nazi-Arzt gequält. Magneto hieß ursprünglich Erik Lehnsherr, und hat beschlossen sein Leben nach 1945 dem Nie wieder! zu widmen. Er ist ein zorniger Jude, einer der sich wehrt und rächt. Er jagt und killt Nazis, wie sonst nur die Inglourious Basterds, "Who are you?" fragt einer von ihnen vor seinem Tod. Magnetos Antwort: "Let me say, I am Frankensteins Monster. And I am looking for my creator." Magnetos Trauma ist, dass er die eigene Mutter nicht retten konnte. Er hasst darum auch seine Kräfte, die im entscheidenden Moment versagt hatten. Zorn und Ärger, Wut und Schmerz sind nötig, um Magnet-Kräfte zu entfalten. Im KZ hat ihm der Arzt gesagt: "Die Gene sind der Schlüssel, die das Tor zu einer neuen Zeit öffnet, zu einer neuen Zukunft. Evolution ... Das einzig Gute bei den Nazis ist, dass sie mit ihren Methoden scheinbar Erfolg haben." Magnetos Härte ist daher zu einem guten Stück Identifikation mit dem Aggressor.

Als junger Mann trifft er dann Anfang der 60er den genialen Wissenschaftler Charles Xavier (James McAvoy), der sich bald als ihm ebenbürtiger Mutant mit telepathischen Fähigkeiten entpuppt. Diese anfängliche Freundschaft zwischen Charles "Professor X" Xavier und Erik "Magneto" Lehnsherr, die in eine tiefe Rivalität mündet (aber nie ganz endet), bildet die Erzählachse. In diesem Film stehen beide zusammen. Diese Freundschaft im Augenblick, in dem der amerikanische Traum seine Unschuld verlor, steht metaphorisch für die zwei Seiten Amerikas: Das Offene, Integrative, Optimistische - und das Pessimistische, im Grunde Ängstliche, sich Abschottende.

Magneto und seine Gruppe sind hier eindeutig keine Schurken. Auch Magneto führt mit seinen Mitteln einen Kampf um Anerkennung. Nur hat er resigniert und setzt sich zur Wehr. Das belegt seine letzte Rede am kubanischen Strand: "The real enemy is out there. I feel their guns moving in the water; their metal targeting us. Americans, Sowjets, humans, united in their fear to the unknown. Mutants, we want the same thing! The society won't accept us, the humans played their hand, it's time to play ours. Who is with me?".

Und man darf nicht übersehen, dass X schon früh im Film Prinzipien von Magneto übernimmt. Er sieht ein, dass man nur mit Vernunft und Güte nicht weiterkommt. "We can avenge" sagt Magneto, "Shaw has an Army. We need ours." Und X widerspricht nicht, sondern beginnt die Schule zu gründen: "We have to train. all of us."

Kinder des Atomzeitalters

So gibt es unter den Mutanten zwar zwei Gruppen, aber nicht die "Guten" und die "Bösen", sondern die "Guten", die mit den Menschen in Frieden und Harmonie leben wollen, und die nicht-ganz-so-Guten, die sich von ihnen eher aus Frustration über Ablehnungen und fehlende Toleranz trennen. Der Apparat und die Gesellschaft sind hier schon eher repressiv: "In times like this, security is more important, than liberty." sagt ein Politiker, ein General opfert eigene Leute als Kollateralschaden. So machen Singer und Vaughn auch aus diesem Film einen untergründigen Kommentar zur Verfassung Amerikas. Und zwar einer, der auch für die Guerilla der freiheitlichen Handlungsanweisungen parat hat: "Anonymity will be the first line of defense." Lernt unerkannt gehen!

Bald nach der Begegnung mit Xavier begegnet Magneto auch dem wieder, der ihn einst quälte: dem Arzt Sebastian Shaw (Kevin Bacon), der in einem versteckten Labor Mutanten kommandiert, mit denen der wahnsinnige Wissenschaftler seine tückischen Welteroberungspläne verwirklichen will. Und dann bricht auch noch die Kuba-Krise aus, und der Welt droht ein Atomkrieg ... Die X-Men sind also weiterhin in jeder Hinsicht Kinder des Atomzeitalters. Und Kinder Kennedys.

Der zornige Jude (9 Bilder)

Neben dem Charme der Retro-Ästhetik, die mitunter Erinnerungen an Kubricks Dr. Strangelove aufkommen lässt, ist die schönste Überraschung dieser verjüngten X-Men die Begegnung mit einer ganzen Riege neuer Darsteller: Natürlich hat man James McAvoy (Xavier) und Michael Fassbender (Magneto) schon gesehen, aber noch nie so gut, und auch bei Rose Byrne (Moira McTaggert) kann man auf weitere Karrieresprünge wetten, während die aus Mad Men bekannte January Jones als Emma Frost ein bisschen enttäuscht. Jennifer Lawrence (Mystique) muss man ebenfalls erwähnen. Sie ist zurzeit bei uns in Auf brennender Erde zu sehen (wo sie sich neben Charlize Theron nicht zu verstecken braucht), und auch noch in Winter's Bone. So verbindet dieser Film Schauwerte mit Tiefgang, Action mit Intelligenz - was will man mehr vom ersten Blockbuster des Sommers?

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