Militant gleich gewaltbereit?

War der Widerstand gegen den Gipfel von Heiligendamm die Geburtsstunde einer neuen radikalen Linken?

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Die militante Linke in Deutschland erstarkt und findet wieder mehr Zulauf. Das ist der Befund eines dem Spiegel zugespielten "Lagebild gewaltorientierter Linksextremismus", der eigentlich geheim bleiben sollte und von den Verfassungsschutzämtern von Bund und Ländern erstellt wurde.

Solche Meldungen sind nun wahrlich kein Geheimnis. Steht doch ganz offiziell unter der Rubrik Linksextremismus auf der VS-Homepage:

Die Zahl der als gewaltorientiert eingestuften Personen sei zwischen 2005 und 2010 um über 20 Prozent gewachsen und liege erstmals bei 6800, so das "VS - Vertraulich" eingestufte Lagebild. Demnach haben Linksradikale im ersten Quartal 2011 deutlich mehr Delikte begangen als im gleichen Zeitraum des Vorjahrs.

Im Gegensatz zur Bundesanwaltschaft sehen die Verfassungsschützer bei den Aktionen der neuen militanten Linken keine terroristischen Dimensionen.

Neue Datei und verstärke Überwachung

Nach Angaben des Berichts wurde vom Verfassungsschutz eine neue Datei "gewaltbereite Linksextremisten" eingerichtet, in der bereits 767 Personen gespeichert sind. Welche Kriterien dafür ausschlagend sind, wurde nicht benannt. In der Vergangenheit reichte schon eine Personalienfeststellung bei einer Polizeikontrolle, um in ähnlichen Dateien zu landen und beispielsweise im Vorfeld von großen Politgipfeln mit Einschränkung der Bewegungsfreiheit konfrontiert zu werden.

Die Überwachung der linken Szene sei von den Verfassungsschützern in der letzten Zeit erheblich ausgeweitet worden, so der Spiegel. Eine Übersicht der Wohnorte von potentiell Verdächtigten soll erstellt werden. Dass der vor einigen Monaten enttarnte, in die studentische Heidelberger Linke eingeschleuste LKA-Beamte Simon Brommer alias Simon Brenner (Grenzüberschreitende Spitzel) Teil dieser verstärkten Überwachung war, ist anzunehmen (Spitzeln ist Pop).

Eine entscheidende Frage bleibt offen. Wer ist gemeint, wenn der VS von der militanten Linken redet? Steine werfende Jugendliche, Autobrandstifter oder, wie in vielen europäischen Nachbarländern, Linke, die auf der Straße aktiv sind und nicht nur Mitgliedsbeiträge für eine Organisation bezahlen? Die Gleichsetzung von militant gleich gewaltbereit in dem VS-Bericht wird schon daraus deutlich, dass die Adjektive verwendet werden, ohne dass die Begriffe genauer differenziert und abgegrenzt werden. Dabei gibt es gute Argumente, die nicht nur in diesem VS-Bericht getätigte Engführung von gewaltbereiter und militanter Linker zu hinterfragen.

So war der Rückgang von Straßengewalt am 1. Mai 2011 in Berlin-Kreuzberg gerade nicht ein Indiz für einen Rückgang von politischer Militanz, wie in vielen Medien kommentiert wurde. Vielmehr hatten als militante Linke verstehende Gruppen ihren Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit mit Mieter- und Erwerbsloseninitiativen sowie linken Gewerkschaftlern gesetzt und auch versucht, diese Organisationsprozesse auf der Demonstration Ausdruck zu verschaffen. Die medial vielbeachtete Randale hatte dagegen in den vergangenen Jahren mehr mit den Genuss von harten Getränken auf dem vom Bezirk Kreuzberg gesponserten Myfest als mit dem Agieren militanter Linker zu tun.

Zäsur Heiligendamm?

In dem Lagebericht werden die Proteste gegen das G-8-Treffen in Heiligendamm 2007 (Durchbruch bei Heiligendamm) als "Zäsur in der Entwicklung des deutschen Linksextremismus" bezeichnet. Mit autonomen Vollversammlungen könnte die linke Szene nach Ansicht der Verfassungsschützer ihre langewährenden Organisationsprobleme überwunden haben und auch neue Sympathien jenseits des eigenen Milieus gewinnen.

Solche Autonomen Vollversammlungen gibt es in Hamburg, Berlin und anderen Städten. Sie werden im Internet ausführlich vor- und nachbereitet. Diese Offenheit der autonomen Szene findet bei den Verfassungsschützern allerdings keine besondere Beachtung. Dabei haben die in dem Bericht erwähnten Proteste gegen den G8-Gipfel in großen Teilen der außerparlamentarischen Linken zu einer Verstärkung der spektrenübergreifenden Bündnisarbeit und auch für eine größere Offenheit in der politischen Arbeit vieler linker Gruppen geführt. Die im Internet veröffentlichten Protokolle der Autonomen Vollversammlungen sind dafür ein Beispiel. Aber auch die Kampagnen Castor Schottern, Block Brokdorf und die Blockaden von rechten Aufmärschen sind eine direkte Weiterentwicklung der linken Aktivitäten zum Gipfel in Heiligenddamm.

Diese Aspekte der Zäsur von Heiligendamm werden aber weder im VS-Bericht noch in der sich darauf beziehenden Berichterstattung in den Medien angesprochen. Vielleicht weil man damit schwerer neue Dateien und erweiterte Überwachungsmethoden rechtfertigen kann, als mit der Gleichsetzung militanter und gewaltbereiter Linker?