Wenn auch die App "iViagra" nichts mehr nützt

Mein Smartphone hatte die vollständige Kontrolle über mich übernommen

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Ich heiße Tom und bin ein Kind der "C64er-Generation". Doch - sie lesen richtig - ich gehörte zu jenen begeisterten Jugendlichen, die Anfang der achtziger Jahre vollständig von der Faszination der ersten Generation der Heimcomputer erfasst wurden. Für knappe 700 Deutsche Mark erstand man entweder wie ich einen Commodore C64 oder es musste halt ein Modell Sinclair ZX81 sein. Auf diese Weise hatte ich als pickliger, pubertierender, dickbebrillter 16-Jähriger mit Popper-Schnitt zwar weiterhin keinen Erfolg bei den Mädchen - aber das war auch egal, da ich mit dem einen Auge (das andere war von der Tolle bedeckt) auf dem Fernsehbildschirm sah, dass ich mein erstes "Hello World" in BASIC zu Wege gebracht hatte. Pure Erotik für einen jungen Heranwachsenden.

Wie ich jetzt erkenne, war damit der digitale Virus bei mir gepflanzt: Der Computer hatte den Stellenwert einer sozialen Bindung eingenommen - mit allen Höhen und Tiefen. Ach - zum Thema Sinclair ZX81 und Commodore C64 - die Anhänger der beiden Lager waren aufs Tiefste verfeindet. Die Diskussionen darüber, was denn die bessere Hardware sei, nahm fast schon religiöse und fanatische Züge an. Erinnert Sie das ggf. an etwas aus der Gegenwart …? Gewissensfrage - was mögen sie lieber: Äpfel, Pinguine oder Fenster? Manche Dinge ändern sich nicht.

Der digitale Virus führte mich direkt ins Informatikstudium, von dort in das aufregende Leben eines Software-Entwicklers (obwohl man damals noch ohne Schamgefühl "Programmierer" sagen durfte). Nach einigen weiteren Jahren wurde ich Manager in der IT Branche (das darf man selbst heute noch ohne Scham sagen). Was mich in all den Jahren niemals verlassen hat, ist jene Faszination und das prickelnde Gefühl sich steil aufstellender Nackenhaare, wenn ich alle 2 Jahre meinen Computer-Hardware-Zoo auf den neuesten technischen Stand gebracht habe.

Ich glaube fest an all die positiven Dinge, die man mit IT bewirken kann (die Steuerung von Atomraketen und Kampfdrohnen blenden wir mal gnädig aus). Ja, alles, was ich tue, dient schlussendlich einem höheren Zweck und zumindest mittelfristig dem Wohle der Menschheit.

Als Manager habe ich in den letzten Jahren gelernt, Kunden vom Nutzen der von mir feilgebotenen Systeme und Dienstleistungen zu überzeugen. Das geht ungefähr so: "KosteneinsparungenROINachhaltigkeit KundenbindungWachstum WettbewerbsfähigkeitGlobalisierung Mobile PaymentDigitalerMarktSozialeNetzwerke=Gut"

Nun - da es eh nur um Schlagwörter geht (kennen Sie das Spiel "Bullshit-Bingo"?), kann man die nützliche Erfindung der Verben und Adjektive in der deutschen Sprache auch gleich weglassen - unnötiger Ballast, der den Kunden nur verwirrt. Dennoch leisten wir exzellente Projektarbeit- unsere Kunden sind durchweg voll zufrieden (das kann ich ehrlich sagen). Die Argumente, die schlussendlich zum Abschluss geführt haben - wie wichtig sind sie? …oder in der Elbe rülpst ein Hering.

Soweit hat sich die digitale IT-Welt in den letzten 20 Jahren nicht verändert. Ob ich eine Softwarelösung verkaufe oder eine Waschmaschine - prinzipiell kein Unterschied (allerdings hält die Waschmaschine in der Regel länger, ist weniger komplex und kostet deutlich weniger). Und als Manager wusste ich immer - ich tue Gutes. Aber immer galt: Wenn ich am Ende des Arbeitstages die Firma verließ, begann definitiv zu 100% mein Privatleben.

Die Verführung durch das Smartphone: Ankunft im digitalen Himmel

In den letzen drei Jahren hat sich das Szenario aber gewandelt - auch ich habe mich von der Faszination der Smartphones mit ihrer fast beliebigen Erweiterbarkeit anstecken lassen - der Appetit kommt beim Essen. Die Hardware mit dem Apfel-Symbol darauf ("An apple a day keeps the doctor away") hatte es mir besonders angetan - neben dem iPhone (alle Generationen) kam noch das MacBook hinzu, und , und, und … selbstverständlich habe ich auch noch die komplette Windows-Welt zu Hause …man weiß ja nie.

Die Begeisterung führte dazu, dass ich auch in der Firma beim Rollout des iPhone als Business-Phone mithalf. Dann geht man in logischer Konsequenz weiter (die digitale Lawine ist ins Rollen gekommen): Welche Apps können wir sinnvoll für unsere Mitarbeiter entwickeln, welche Prozesse auf das Smartphone bringen, welche nützlichen Apps als Standard vorinstallieren, etc.. Dieselben Themen verkaufte ich auch bei unseren Kunden - wer selbst den Virus hat, dem fällt es recht leicht, Andere anzustecken.

Es schien mir eine Zeitlang, als hätte ich den Zustand digitaler Glücksseligkeit erreicht - sozusagen der digitale Himmel auf Erden. Ein Satz meines Lieblingsautors Douglas Adams aus dem Jahr 1979 kam mir in den Sinn1:

Jahrelang hatte man (...) auf Knöpfe drücken und an Skalenrädern drehen müssen; als dann die Technik immer raffinierter wurde, machte man die Regler berührempfindlich - man brauchte die Schaltelemente nur noch mit den Fingern anzutippen. Jetzt aber musste man nur noch mit der Hand ungefähr in die Richtung des Apparats winken und hoffen."

Großartig, Douglas Du warst ein wahrer Prophet, ich war ein Teil dieser Vision geworden und hatte mir meinen Platz im digitalen Walhalla redlich verdient.

Always on

Dann kam der Zusammenbruch. Es fing harmlos an - da ich wie ein typischer, durchschnittlicher Nutzer sein Smartphone statistisch betrachtet 24 Stunden am Tag maximal 1m entfernt von mir aufbewahrte, wurde auch mein Verstand permanent perfekt darauf trainiert, auf all die kleinen Sounds zu achten, die mein iPhone absondert. Email ist angekommen, eine SMS liegt zum Lesen bereit, eine App hat eine Push-Notification empfangen, die Batterieladung ist unter 20% … Am Anfang war das noch ein Spaß - aber dann merkte ich eine Veränderung - jedes der Geräusche versetzte mein Gehirn für eine gewisse Zeit in einen Zustand der Stase. Tendenz steigend.

Ich bekämpfte das Phänomen, indem ich die Sounds regelmäßig änderte oder auf Vibrationsalarm umstellte. Das zeigte aber keinerlei Wirkung, eher wurden die geistigen Auszeiten noch intensiver. Stellen Sie sich vor, man ist mitten im angeregten Gespräch, dann kommt der Sound und für ca. 5 Sekunden starrt man nur noch debil mit geöffnetem Mund schweigend ins Leere.

Ein weiterer Effekt stellte sich ein: Nachdem ich nun per Sound informiert war, dass eine Email für mich angekommen ist, war es unmöglich, nicht "mal kurz" zu schauen, wer da was geschrieben hat. In den Zeiten meines alten klobigen Firmennotebooks ("Generation Schlepptop") war das noch anders: Ein paar Mal am Tag Email anschauen, das war‘s auch schon.

Neben dem sich nun einstellenden manischen Verhalten sind auch die Stresszeiten bemerkenswert. Eine Email nachts um 4.00 Uhr - ich werde wach. Während ich versuche einzuschlafen, überlege ich mir, was da wohl an mich verschickt worden ist. Der Druck wird so groß, dass ich aufgebe und die Email lese. Meine Freundin findet mein Verhalten - moderat formuliert - sonderbar. Ich versuche das zu ignorieren.

Vor kurzem kam es dann zum unvermeidlichen privaten GAU. Während wir gerade als Abschluss eines feucht-fröhlichen Abends mit Freunden uns wieder zu Hause angekommen leidenschaftlich gewissen körperlichen Tätigkeiten widmeten, kam fast zeitgleich eine SMS und eine Email an. Sie ahnen was passierte: meine Leidenschaft war dahin, es ging rein gar nichts mehr. Auch das Starten der App "iViagra" konnte die Flamme nicht wieder entzünden. Oder in der Sprache der Mediziner: "Koitus Smartphonikus Interruptus".

Darauf haben wir uns getrennt (meine Freundin und ich, nicht ich und das Smartphone). Das Smartphone ist aber weit mehr als ein technischer Gegenstand - es ist ein Statussymbol. Damit meine ich durchaus nicht nur die Auswahl der richtigen Hardware - sicherlich wird niemand auf die Idee kommen, in einer Manager-Runde sein LG Optimus freiwillig vor seinen Kollegen zu zeigen. Dann können Sie auch gleich noch damit prahlen, dass Sie sich gerade einen 13 Jahre alten Lada gekauft haben. Nun - "mein Haus-meine Yacht-mein Auto-meine Kinder-mein iPhone". So ist das Leben heute halt. Ich habe soweit mit meinem iPhone alles richtig gemacht und gehöre scheinbar zu den Gewinnern.

Aber der Wettbewerb geht weiter: Wie viele und welche Apps habe ich installiert? Wie bitte - nur die "Bild-App"? Solche unverzeihlichen Patzer haben schon manchen Manager die Karriere gekostet - und ich nehme natürlich den stressigen Konkurrenzkampf an und steche meine Mitbewerber mit 140 handverlesenen Apps deutlich aus. "Wie bitte, Sie kennen Shazam wirklich nicht?". Dennoch - zwar schlage ich mich gut, aber mein digitales Leben ist damit noch um eine weitere, zeitintensive Komponente erweitert worden, ohne dass ich es verhindern konnte.

Smartphones sind die Phallus-Symbole des 21. Jahrhunderts

Ein weiterer Aspekt darf nicht unerwähnt bleiben.

Sie haben bereits erfahren, dass ich dank Smartphone nun ohne Partnerin bin. Ich kann also frei und ohne Druck vor Entlarvung sprechen: Smartphones sind DIE Phallus-Symbole des 21. Jahrhunderts.

Denken Sie mal an die Wandzeichnung in Pompeji - Gott Merkur mit Ithyphallus. Oder an den "Geflügelten Phallus" aus dem 5. Jh. v. Chr. im Archäologischen Nationalmuseum in Athen. Kennen Sie wahrscheinlich nicht. Nun, kurz erläutert, jeweils ein stilisierter riesiger Penis mit auffälliger, gekrümmter Form und Größe.

Smartphones sind nichts Anderes. Beobachten Sie eine Gruppe von Männern, die sich gegenseitig ihre iPhones zeigen - ein sichtbares Symbol von Potenz, genetischer Überlegenheit und Fruchtbarkeit. Botschaft: Nur ein iPhone-Besitzer kann gute Gene weitergeben. Es ist derselbe Vorgang: Männer aus Urvölkern im Amazonas zeigen sich im rituellen Tanz zunächst ihre Genitalien - nur der Phallusbesitzer mit der überzeugendsten Darbietung setzt sich durch und darf sich die Frau seiner Wahl aussuchen. Heute sind es die Smartphones.

Sie halten das für übertrieben? Beobachten Sie einmal, wie unterschiedlich Männer und Frauen ihr Smartphone benutzen: Der Mann umschließt das Smartphone fest mit der linken Hand und steuert alle Funktionen mit sicheren, druckvollen Bewegungen der rechten Hand. Dabei bewegt er das Smartphone langsam und fast nicht sichtbar rhythmisch vor und zurück. Im Freudschen Sinne eine Simulation des Geschlechtsaktes.

Eine Frau hingegen geht schlicht ökonomisch vor: Das Smartphone wird leicht und locker mit nur einer Hand und einem Finger bedient - dabei ist sie mindestens dreimal so schnell wie ein Mann. Hier ist das Smartphone nur ein Smartphone.

Wenn ich ehrlich bin - ich warte eigentlich auf die App "iPhallus". Hier kann eine Gruppe von Männern ihre gespeicherten genetischen Daten im direkten Duell vergleichen. Die App-Details erspare ich Ihnen - aber ein Tipp: Denken Sie an den Film "Ghostbusters": "niemals die Strahlen kreuzen …"

Der rituelle Tanz der Männer im Amazonas ist somit im 21. Jahrhundert angekommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Gesichtsbemalungen und Kriegerschmuck zusammen mit Smartphones verkauft werden. Hier gibt es ein enormes Marktpotenzial.

Und so geht es für mich weiter. Kein einziger Aspekt meines Lebens blieb bisher ausgeklammert. Mein Smartphone hatte die vollständige Kontrolle über mich übernommen - inklusive Sex. "Work Life Balance" ? Von wegen - wohl eher "Work Smartphone Balance". Und das Schlimmste daran: ich wollte es so!

Ein Gedanke - jeder von uns kennt "1984" von George Orwell. Es geht darin um Gehirnwäsche & Gedankenkontrolle. Nun - vielleicht gibt es auf jedem Smartphone eine tief im Kernel des Betriebssystems versteckte "BACK Funktion" - das hinterhältige Werk der NSA (wenn Ihnen "NSA" nichts sagt: es ist die Firma, die ursprüngliche vom berühmten "Dr. Evil" gegründet wurde, bevor sie in staatliche Hand ging). Es geht hier aber nicht um schmackhafte Plätzchen - "BACK" steht für "Brainwash and Control Kernel". Mithilfe all der gesammelten Profildaten der Smartphone-Benutzer ist es erstmalig möglich, Menschen remote über Apps zu kontrollieren. Und das ganz ohne lästige Elektroden im Hirn oder der logistisch schwierigen, flächendeckenden Verabreichung von Psychopharmaka.

"Mein Name ist Tom und ich bin ein Smartphobiker"

Nun, mein Zusammenbruch kam unvermeidlich. Ich fing nach dem Hören eines Smartphone-Sounds hemmungslos an zu weinen und steigerte mich in tiefe Angst-Psychosen. Ich träumte von 10 Meter großen Smartphones mit Greifarmen. Von winzig kleinen Smartphones, die auf käferartigen Beinen zu Tausenden mein Bett belagern und mich langsam in appetitlichen Portionen vertilgen. Das versehentliche Löschen einer App löste einen viertägigen Migräneanfall aus. Ich sah meinen Genitalbereich als Bild eines angewachsenen Smartphones mit nur einem großen roten Knopf mit der Aufschrift "Yes we can!"

Mehrfach versuchte ich, das Smartphone zu Hause zu lassen oder mich auf einen alten "Nokia-Knochen" downzugraden. Aber keine Chance - der Druck war zu groß. Ein Alkoholiker sollte auch keine Schnapsflaschen in Griffnähe haben …

Geheilt hat mich ein Zufall. Das Smartphone lag auf dem Beckenrand und rutschte versehentlich in die gefüllte Badewanne. Was folgte, war ein intensiver Schock, Selbstzweifel, Essstörungen und später der Besuch beim Gesprächstherapeuten. Über die AS Selbsthilfegruppe ("AS": "Anonyme Smartphobiker") fand ich andere Menschen in derselben Situation.

In den wöchentlichen Treffen (mein Intro: "Mein Name ist Tom und ich bin ein Smartphobiker") tauschen wir uns aus und helfen uns bei Rückfällen. An der Wand hängen deaktivierte Smartphones der Mitglieder - jedes von einem ca. 15 cm langen Nagel durchbohrt. So machen wir uns unseren gemeinsamen Gegner stets bewusst - Visualisierung ist heutzutage alles.

Nun bin ich schon ein Jahr clean. Aber es hat sehr viel Kraft und Zeit gekostet … und mein uraltes Siemens S6 liegt wirklich bleischwer in der Sakko-Tasche.

Also - überlegen Sie genau, worauf Sie sich mit der schönen neuen digitalen Welt einlassen. Lieber Bob - yes - "The Times They Are A-Changin"2 - aber ab sofort ohne mich. Mein Rat: machen Sie etwas Sinnvolles, treiben Sie Sport.

Trainieren Sie hart und werden Sie Teilnehmer bei der offiziellen Smartphone-Weitwurf-Weltmeisterschaft. Der Weltrekord steht aktuell bei 65,8 Metern.3 Nur ausgeschaltete Smartphones sind regelkonform.

Fazit: Es lohnt sich - für Sie, das Leben, das Universum und den ganzen Rest.

P.S.: Diese Satire verarbeitet Eindrücke aus meinem Privat- und Berufsleben - ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir Kommentare, Verbesserungen, Vorschläge oder einfach Ihre Gedanken mitteilen. Sie finden mich unter matthiastuerk@web.de.