Brief-Schach gegen Karteileichen

Das rundenbasierte Echtzeit-Taktikspiel "Frozen Synapse" demonstriert das beachtliche Potential seines ungewöhnlichen Spielkonzepts

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Gleichzeitig zeigt es aber auch, warum zu viele Zufallselemente einer wettbewerbsorientierten Multiplayer-Spielmechanik nur schaden können.

Die Aufmerksamkeit, die das Drei-Mann-Entwicklerstudio "Mode 7" für sein jüngstes Produkt erntet, ist beachtlich. Die einschlägigen Blogs und Medien, die etwas abseits vom neuesten "Call of Duty"-Sequel und "Crysis"-Grafikspektakel nach kleinen Gamedesign-Perlen suchen, sind anscheinend fündig geworden. Während Kieron Gillen die Multiplayer-Stärken lobt, feiert Alec Meer das Spielkonzept und dessen inhärente Spannung.

Frozen Synapse bezeichnet sich selbst als rundenbasiertes Echtzeit-Taktikspiel, und so verwirrend diese Genre-Bezeichnung auf den ersten Blick auch erscheint, so zutreffend ist sie auch. Wie in den Taktik-Klassikern von "UFO" über "X-COM" bis hin zu "Jagged Alliance" übernehmen die Spieler die Kontrolle über je einen kleinen Trupp Soldaten. Anstatt aber nun abwechselnd ihre Spielzüge auszuführen und zu planen, geschieht das gleichzeitig. In der Planungsphase geben beide Spieler ihre Befehle ein, nach einem weiteren Mausklick gibt es kein Zurück mehr: Beide Spielzüge werden nun gleichzeitig ausgeführt.

Das spannende Potential dieser Idee liegt auf der Hand. Hat man in "Jagged Alliance" einen Gegner erst einmal entdeckt, so kann man sich dessen Beseitigung widmen, ohne dass dieser direkt eingreifen könnte. "Frozen Synapse" dagegen verlangt deutlich mehr Weitblick von seinen Spielern, gilt es doch, mit den im Voraus erteilten Befehlen - eine Runde sind fünf Sekunden Spielzeit - auch die Bewegungen seines Gegners zu antizipieren. Das hauptsächlich reaktive Konzept eines rundenbasierten Spiels wird hier ersetzt durch eine Mechanik, in der Initiative und Aktion ebenso riskant wie lohnend sein können. Umgesetzt ist das alles dabei höchst minimalistisch: Fünf verschiedene Einheiten-Typen kämpfen sich in einer schlichten aber schicken Retro-Vogelperspektive durch einen Grundriss von Räumen und Deckungsmöglichkeiten, im Normalfall gewinnt der letzte Überlebende. Das Interface bietet dabei einigermaßen komfortabel alle Möglichkeiten, die das Herz begehrt: So kann man seinen Jungs befehlen, eventuell auftauchende Gegner zu ignorieren, bis man an der schützenden Deckung angekommen ist. Oder man kann ihnen auftragen, bis zu einem bestimmten Wegpunkt rückwärts zu gehen, um einen Durchgang im Auge zu behalten. Es ist sogar möglich, kleine Timer zu programmieren, nach deren Ablauf erst ein bestimmter Befehl ausgeführt werden soll.

Community-Komfort ohne Kapitulation

Und weil all das schwer in der Theorie zu koordinieren ist, kann sich der Spieler seinen Zug auf Probe vorberechnen lassen, sogar den gegnerischen Figuren - falls sie im Sichtfeld sind - Befehle geben, um zu testen, ob die eigenen Mannen für eine bestimmte Situation gerüstet sind. Erst wenn diese Generalprobe erfolgreich ist, folgt der Klick auf "Prime". Dass ein Zug damit schon einmal einige Minuten dauern kann, ist offensichtlich, während eventuell der Gegner bereits nach wenigen Mausklicks fertig ist. "Mode 7" ist ein schöner Kniff eingefallen, um die entstehenden Wartezeiten zu verkürzen: So kann man beliebig viele Matches gleichzeitig starten und zwischen ihnen hin und her wechseln. Das Interface zeigt an, sobald in einem Spiel ein neuer Zug ansteht, ein Zeitlimit gibt es nicht. Sogar eine Email-Benachrichtigung lässt sich aktivieren, was "Frozen Synapse" dann potentiell wirklich in die Geschwindigkeitsklasse von Brief-Schach einordnet. Die Möglichkeit, die Actionszenen der abgeschlossenen Matches direkt in Youtube zu importieren, ist ebenfalls eine tolle Idee.

Es ist aber auch genau diese Zerstreutheit, die "Frozen Synapse" bei der Community fördert, und die dem Spiel keineswegs zuträglich ist. Gerade in Matches gegen zufällige Gegner muss man bisweilen Stunden auf den nächsten Zug warten, auch macht sich die Unsitte breit, bereits so gut wie verlorene Partien einfach nicht mehr zu Ende zu spielen - sei es, um die Statistik und das Ranking zu schonen, oder einfach aus (verständlicher) Faulheit. Eine Kapitulations-Funktion vermisst man schmerzlich. So dauert es nicht lang, bis sich in der Liste der aktiven Spiele Karteileichen anhäufen - dass man diese dankenswerterweise verbergen kann, zeugt vom Bewusstsein der Entwickler für dieses Problem.

"Please press mouse button when you’re ready to die"

So gut wie verloren ist eine Partie schnell: "Please press mouse button when you’re ready to die", fordert "Frozen Synapse" seinen Spieler beim Start des (marginalen) Tutorials auf. Es bedarf einiges an Einspielzeit, bis man sich daran gewöhnt hat, nicht nur die nähere Umgebung seiner Spielfiguren, sondern auch weiter entfernte Winkel zu beobachten, um nicht versehentlich in eine nur wenige Pixel breite und kaum erkennbare Schussline zu laufen - eine Art Lineal, um die Sichtlinie zu überprüfen, sucht man leider vergebens.

Auch die Singleplayer-Kampagne (eine wirre Science-Fiction-Geschichte um mysteriöse Konzerne und eine unübersichtliche Menge an gesichtslosen Namen, präsentiert in einer endlosen Abfolge durchzuklickender Dialogszenen) taugt als Vorbereitung auf den Wettkampf-Alltag nur bedingt. Nicht, dass sie zu einfach wäre - im Gegenteil: Der Schwierigkeitsgrad ist knackig, die künstliche Intelligenz der Gegner weitgehend unberechenbar und damit absolut ausreichend. Nicht behaupten kann man das allerdings von den nicht steuerbaren Gefährten, die man in einigen Einzelspieler-Missionen zur Seite gestellt bekommt. Dass von diesen eine Rakete in die eigene Deckung fliegt, ist alles andere als eine Seltenheit. Genau solche Situationen sind es auch, die besonders frustrieren. Anstatt nun neu laden zu können, und den letzten Zug zu wiederholen, muss man mit dem Ergebnis leben. Eigentlich ein dankenswertes Vorgehen gegen das Quicksave-Sicherheitsnetz, aber im Fall von "Frozen Synapse" mit einem gewaltigen Haken.

Hier ist nämlich kein Level zwei Mal das gleiche: Der Grundriss und die Startpositionen der Figuren sind zufallsgeneriert, folgen lediglich bestimmten Grundvoraussetzungen je nach aktueller Mission. Der Klick auf "Restart", um einen solcherart unverschuldet verdorbenen Versuch abbrechen zu können, liefert also einen komplett neuen Levelaufbau, das allmähliche Bewältigen einer schweren Herausforderung wird damit unmöglich.

Mit Raketenwerfern durch enge Gänge

Stattdessen wirft dieser Zufallsgenerator eine Reihe von Balancing-Problemen auf: In einem Multiplayer-Match wurde dem Autor eine Karte zugelost, auf der die Start-Hälfte des Gegners beinahe nur aus freier Fläche bestand, während sich die eigenen Truppen in einem Gewirr kleiner Räume befanden. Jeweils zwei Raketenwerfer in den Teams sorgten dank der unausgewogenen Topografie schließlich für einen kaum einzuholenden Vorteil des Gegners. Im Einzelspieler-Modus verleitet der gleiche Missstand dazu, oft mehrmals auf "Restart" zu klicken, bis man eine ausgewogene Mission vor sich hat.

Auch die unterschiedlichen Spielmodi sind letztlich enttäuschend: Neben dem Quasi-Deathmatch "Extermination" und dem Geisel-Befreiungs-Szenario "Hostage" gibt es noch drei Spielmodi, in denen es um das Vorrücken in oder Verteidigen einer bestimmten Zone geht. Doch auch diese brechen schnell auf ein Deathmatch herunter - wenigstens, wenn man das Zeitlimit ignoriert. So sind alle Spiele auf eine bestimmte Rundenzahl begrenzt, nach der das Match endet. Der unschöne Nebeneffekt liegt auf der Hand: Gerade knappe Matches werden oft dadurch entschieden, dass der glückliche Verteidiger seinen letzten Soldaten vor dem letzten Soldaten des Gegners so lange versteckt, bis das Spiel vorbei ist - mit ein oder zwei Kämpfern ist es unmöglich, innerhalb von zwei oder drei Zügen einen entfernten fliehenden Gegner noch einzukreisen oder - bei den "Dark"-Spielmodi mit aktiviertem "Fog of War" - überhaupt ausfindig zu machen. Befriedigend ist das nicht.

Kieron Gillen fragt im eingangs verlinkten Artikel: "What could go wrong?" Bei dem innovativen und spannenden Spielkonzept tatsächlich nicht viel. Die verkorkste Singleplayer-Kampagne ist angesichts des Fokus auf den Mehrspielermodus ohnehin zu vernachlässigen, für die etwas kompliziert geratene Steuerung entschädigen die Möglichkeiten zum peniblen Micromanagement. Umso bedauerlicher ist es aber, dass "Frozen Synapse" über seinen eigentlich guten Willen stolpert. Die Vielfalt, die der Zufallsgenerator verspricht, resultiert in unberechenbarer Frustration. Und der ganze Komfort der Community-Lobby scheint für aufmerksamkeitsdefizitäre Spielernaturen wie geschaffen. Das französische Independent-Studio Brain Candy hat mit "Fray" ein ähnliches Konzept angekündigt. Es bleibt zu hoffen, dass darin dann nicht mehr die Euphorie über die Spielmechanik den Blick auf die unverzichtbaren Details verstellt.