Moral aus dem Gehirnscanner

Wie Peter Singer, einer der führenden Moralphilosophen, die Wissenschaft in die Ethik integriert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wissenschaft und Ethik - zwei voneinander getrennte Gebiete oder lassen sich Fragen nach dem moralisch richtigen Handeln auch experimentell beantworten? Nach seiner Auszeichnung für sein Engagement für Tierrechte (Wie man in Deutschland nicht mehr mundtot gemacht wird) war Peter Singer von der Princeton-Universität (USA) zu einem Vortrag über das Verhältnis von Hirnforschung und Ethik eingeladen. An der anschließenden Podiumsdiskussion nahmen außerdem der Frankfurter Hirnforschung Wolf Singer und die Neuroethikerin Kathinka Everts von der Universität Uppsala (Schweden) teil.

Ethik der Neurowissenschaften und Neurowissenschaften der Ethik - diese beiden Gebiete werden häufig unter dem Schlagwort "Neuroethik" zusammengefasst. Bei der ersten Variante geht es um durch neue Forschungsergebnisse oder Techniken der Hirnforschung aufgeworfene moralische Problemstellungen und deren Lösung. Die zweite Variante verweist jedoch darauf, dass man ebenso wie bei zahlreichen anderen Denkaufgaben natürlich auch Menschen beim Lösen moralischer Probleme wissenschaftlich untersuchen kann. Üblicherweise werden wissenschaftliche Forschung als Domäne der Beschreibung, des Deskriptiven, und ethische Diskurse als Domäne von richtig und falsch, des Normativen, strikt voneinander getrennt.

Hin und wieder versuchen aber sowohl Wissenschaftler als auch Ethiker aus wissenschaftlichen Beschreibungen eine Schlussfolgerung für das richtige Handeln abzuleiten. Nachdem Peter Singer am Vortrag den Ethikpreis für sein Engagement für Tierrechte erhalten hatte, ging es am 4. Juni auf einer Veranstaltung an der Universität Frankfurt um das Verhältnis von Hirnforschung und Ethik. Unter der Leitung von Thomas Metzinger, Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Mainz, und mit der Unterstützung der Barbara-Wengeler-Stiftung zur Förderung von Forschung im Überschneidungsbereich von Philosophie und Neurowissenschaften, war der bekannte Moralphilosoph zu einem öffentlichen Vortrag sowie einer anschließenden Diskussion mit einem Hirnforscher und einer Neuroethikerin eingeladen.

Psychologie von Moral-Dilemmata

Auf Grundlage der Experimente des Moralpsychologen Jonathan Haidt von der University of Virginia sowie des Psychologen Joshua Greene von der Harvard-Universität spekulierte Singer über die Möglichkeit, eher in evolutionär bedingten Intuitionen begründete moralische Ansichten von rational begründeten Auffassungen zu unterscheiden. Gemäß Haidts Forschung würden Menschen eine moralische Entscheidung oft intuitiv fällen und diese allenfalls im Nachhinein rational rechtfertigen. Greenes neurowissenschaftliche Experimente hätten zudem gezeigt, dass Menschen in bestimmten Situationen über ihre spontanen Gefühlsreaktionen nicht hinwegkämen.

Das treffe insbesondere in gedanklichen Dilemmasituationen zu, mit denen häufig gegen den Utilitarismus argumentiert werde. Könne man beispielsweise das Leben von fünf Bahnarbeitern retten, indem man eine Weiche umstelle und damit einen heranrasenden Waggon auf ein anderes Gleis umleite, auf dem nur ein Bahnarbeiter stehe, dann würden die meisten Menschen diese Handlung für richtig halten. Könne man den Waggon hingegen nur durch das Stoßen eines schweren Mannes auf das Gleis aufhalten, dann würden die meisten dies für falsch halten. Aus Singers Perspektive, die auf die Konsequenzen der Handlungen abzielt, sind jedoch beide Alternativen gleichwertig: jeweils könnten fünf Leben durch das Opfer von nur einem gerettet werden.

Die Ergebnisse Haidts und Greenes würden erklären, warum nur wenige Menschen ihre wahrscheinlich evolutionär geprägten intuitiven oder emotionalen Reaktionen überwinden und die utilitaristisch richtige Handlung wählen könnten. Joshua Greene ging sogar noch einen Schritt weiter und reduzierte den Streit zwischen Anhängern der auf absolute Verbote - zum Beispiel, einen anderen nicht als bloßes Mittel zum Zweck zu gebrauchen - hinauslaufenden Moralphilosophie Immanuel Kants und den Utilitaristen auf die Aktivität verschiedener Gehirnregionen. Während die Entscheidung im Sinne Kants auf evolutionär älteren Gehirnregionen beruhe, die wir mit unseren Vorfahren aus dem Primatenreich teilten, entstehe die utilitaristische Entscheidung aus der Aktivierung evolutionär jüngerer Kontrollregionen im Gehirn.

Erst das Gefühl, dann die Moral

Das von den Forschern Haidt und Greene sowie dem Philosophen Singer gezeichnete Bild unseres Urteilens ist äußerst provokant. Oft würden wir auf spontanen Intuitionen oder Gefühlen ein moralisches Urteil fällen und dieses erst im Nachhinein begründen. Wir hielten also nicht für richtig, wofür wir gute Gründe hätten, sondern suchten umgekehrt Gründe für das, was wir für richtig hielten: Erst das Gefühl, dann die Moral! Als Beispiel dafür wird oft die Beobachtung des Moralpsychologen Haidt angeführt, dass Menschen selbst dann noch an ihrer moralischen Überzeugung festhielten, wenn ihre Gründe dafür nicht zuträfen.

In einem Fall konstruierte der Forscher eine Geschichte, in der ein erwachsenes Geschwisterpaar im beidseitigen Einvernehmen und mit doppelter Empfängnisverhütung einmalig Geschlechtsverkehr hat und beide davon genießen. Laut Haidt sehen auch in diesem Fall die meisten Versuchspersonen Inzest als moralisch falsch an. Nach ihren Begründungen gefragt, verwiesen viele auf die Gefahr ungesunden Nachwuchses. Das Beispiel schloss die Möglichkeit einer Schwangerschaft aber gerade aus. Obwohl sie letztlich ohne Gründe für ihre Überzeugung blieben, hielten sie trotzdem an ihrer moralischen Ablehnung fest. Dieses Phänomen wurde von Haidt als "Moral Dumbfounding" bezeichnet und häufig in der Literatur aufgegriffen.

Schlechte Schnellschussmoral

Peter Singer griff in seinem Vortrag häufig auf eine Metapher aus Joshua Greenes für 2012 erwartetem Buch "The Moral Brain and How to Use It" zurück. In uns gebe es zwei Entscheidungssysteme, die zwei verschiedenen Modi einer Fotokamera glichen: Der erste Modus funktioniere sehr schnell nach dem Motto "zielen und abdrücken", der zweite erfordere mehr Zeit durch manuelle Einstellungen. Die schnelle Variante funktioniere in vielen Alltagssituationen, versage jedoch bei komplexeren Sachverhalten. Um beispielsweise das Unrecht der Wohlstandsverteilung oder die Bedeutung des Klimawandels für folgende Generationen zu erkennen, müsse man eine moralische Beurteilung im "manuellen Modus" vornehmen. Wir Menschen seien auf diese Art der Entscheidung evolutionär nicht vorbereitet.

Ebenso wie der Psychologe Joshua Greene versteht Peter Singer die wissenschaftlichen Ergebnisse als eine Stütze für den Utilitarismus. In der ethischen Debatte wurden nämlich gerade Fallbeispiele wie die oben erwähnten Dilemmasituationen gegen die auf Konsequenzen, Kosten und Nutzen abzielende moralische Position in Stellung gebracht.

Wenn nun Greene und Singer zeigen können, dass die dadurch ausgelösten Intuitionen irrational und vor allem unserer evolutionären Geschichte geschuldet sind, stärkt das die Position des Utilitaristen. In Anlehnung an Friedrich Nietzsche nennt es Greene sogar den "Geheimen Witz von Kants Seele", dass die rationalistische Philosophie des Moralphilosophen Immanuel Kant gerade nicht in der Vernunft, sondern im Gefühl gegründet erscheine.

Singer trifft Singer

An der anschließenden Podiumsdiskussion nahmen noch Wolf Singer, früherer Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, und die Neuroethikerin Kathinka Evers von der Universität Uppsala (Schweden) teil.

Die Konstellation mit den beiden Singers war insofern besonders, als an Wolf Singers Forschungsinstitut Tierversuche durchgeführt werden, gegen die sich Peter Singer einsetzt. Allerdings zeigte sich der Hirnforscher gegenüber dem Projekt des Tierrechtlers zumindest ein Stück weit aufgeschlossen: Viele Experimente, die man vor Jahrzehnten noch habe durchführen können, seien heute nicht mehr legal. Mit Menschenaffen solle man allenfalls noch Verhaltensexperimente durchführen, bei denen die Tiere nicht litten, es sei denn, dass zum Abwenden einer größeren Gefahr ein anderer Tierversuch nötig sei. Als Beispiel hierfür nannte Wolf Singer die Bekämpfung einer Seuche wie der des Ebola-Virus, durch die die gesamte Menschheit bedroht sei.

Podiumsdiskussion im Casino der Universität Frankfurt, Campus Westend. Wolf Singer, Kathinka Everts, Peter Singer (v. l. n. r.). Bild: S Schleim

Der Moderator Thomas Metzinger fragte Peter Singer nach dem idealen Umgang mit aus Tierversuchen gewonnenen wissenschaftlichen Daten. Dürfe man diese in seinen eigenen Arbeiten zitieren? Der Ethiker empfahl, dabei wenigstens in einer Fußnote auf die zweifelhafte Moral dieser Experimente hinzuweisen.

Kathinka Everts verwies hierbei auf die entsprechende Diskussion zum Umgang mit dem beispielsweise von Nazi-Wissenschaftlern in grausamen Menschenexperimenten gewonnenen Daten. Für sie besteht die größte ethische Herausforderung durch die Hirnforschung jedoch im Verständnis menschlichen und nichtmenschlichen Bewusstseins. Bei Lebewesen, die nicht mehr zur Kommunikation fähig seien, wie etwa Menschen im Endstadium einer amyotrophen Lateralsklerose, könnten entsprechende Untersuchungen für richtige medizinische Entscheidungen unerlässlich sein. Dabei unterstrich sie auch noch einmal den Aspekt Peter Singers Ethik, dass es nicht darum gehe, Menschen schlechter zu behandeln, sondern nichtmenschliche Lebewesen besser.

Allen Klärungsversuchen zum Trotz fanden sich auch auf der Veranstaltung an der Universität Frankfurt wieder die Protestler vom Vortag ein. Die Studierenden der Heilpädagogik verteilten am Anfang von Singers Vorlesung wieder ihre Flugblätter und ihre Professorin, Anne-Dore Stein, verwies in der für das Publikum offenen Diskussion auf Peter Singers umstrittene Ansichten und stellte den Veranstalter für die Entscheidung, dem Philosophen ein öffentliches Forum zu geben, zur Rede. Sowohl Thomas Metzinger als auch Wolf Singer konterten mit Verweisen auf die Meinungsfreiheit sowie ein falsches Verständnis der Position Peter Singers. Verglichen mit der Situation in Deutschland vor zwanzig Jahren war man mit dieser kurzen Abweichung vom eigentlichen Thema des Abends aber schon ein ganzes Stück weiter.

Eine allgemeingültige Antwort auf die ethischen Herausforderungen unserer Zeit ließ sich auf den Veranstaltungen in Frankfurt nicht finden. Viele der Anwesenden dürften sich aber darüber gefreut haben, dass Peter Singer die Probleme der armen Bevölkerung auf der Welt und des Umgangs mit Tieren in die Öffentlichkeit brachte. Die weitreichende Interpretation der wissenschaftlichen Ergebnisse für die Moral sollte sicher mit Skepsis begegnet werden. Nicht zuletzt bleibt die (wiederum moralische) Frage im Raum stehen, ob es eine Sichtweise gleich diskreditiert ist, wenn sie aus Gefühlen oder evolutionär bedingten psychischen Anpassungsleistungen folgt.