Milliarden zur "Abschreckung illegaler Einwanderer"

Die EU verschärft ihre Migrationsabwehr mit "intelligenten Grenzkontrollsystemen". Ansonsten stünde die "Glaubwürdigkeit nach innen wie nach außen" auf dem Spiel

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Zum bald von der Kommission vorgestellten "Smart Border Package" gehören die Einrichtung eines "elektronischen Ein- und Ausreisesystems", ein "Programm für registrierte Reisende" sowie die Änderung des Schengener Grenzkodexes. Die Maßnahmen würden womöglich mindestens eine Milliarde Euro kosten. Das gleichzeitig vorangetriebene Grenzüberwachungssystem EUROSUR dürfte eine ähnliche Summe in die Kassen der Rüstungs- und IT-Konzerne spülen.

Analog zum "System zur Erteilung elektronischer Reisebewilligungen" (ESTA) der USA und Australiens will auch die EU bald mit dem "Entry/Exit System" (EES) die elektronische Buchhaltung von Ein- und Ausreisen ermöglichen. Das System adressiert Angehörige von Drittstaaten, die kein Visum benötigen. Sie sollen dennoch verpflichtet werden, den Grenzbehörden schon vor Antritt ihrer Reise die Prüfung einer etwaigen Einreiseverweigerung zu ermöglichen. Angehörige von Staaten, die ein Visum zur Einreise benötigen, werden indes ab Oktober im neuen Visa-Informationssystem (VIS) gespeichert.

Privilegierte Ein- und Ausreise bei "ausreichenden Existenzmitteln"

Mit EES und VIS sollen zukünftig alle Ein- und Ausreisen an den EU-Außengrenzen im Voraus elektronisch protokolliert werden. Die neuen Datensammlungen würden laut der Kommission dazu beitragen, nicht erfasste und damit unerwünschte Migranten aufzuspüren. Das System diene auch der "Abschreckung illegaler Einwanderer".

Die Einrichtung wird zudem mit der "Aufrechterhaltung eines hohen Maßes an Sicherheit" begründet, da auch Informationen zur "Verhütung von Terrorismus und schwerwiegenden kriminellen Aktivitäten" gewonnen würden und mutmaßliche "Terroristen und Straftäter" schneller gefangen werden könnten. Dieser Mehrwert dürfte sich indes erst vollends entfalten, wenn die auflaufenden Informationen mit bereits bestehenden Datensammlungen abgeglichen werden, darunter zu Passagierdaten oder internationalen Finanztransaktionen (Ausweitung der Nutzung von Fluggastdatensätzen geplant).

Zum "Smart Border Package" gehört ein sogenanntes "Registrierungsprogramm für Reisende" (RTP), mit dem sich Vielreisende aus Drittländern vorab in den konsularischen Vertretungen oder den geplanten gemeinsamen Visastellen überprüfen lassen können. Durch diese freiwillige Aufgabe von Privatheit können sich "Drittstaatsangehörige mit niedrigem Risikoprofil" (sogenannte "Bona-fide-Reisende") das Privileg erkaufen, an "automatischen Kontrollgates" zukünftig schnell und diskret in die EU einzureisen. Dieser Status wäre dann für alle EU-Mitgliedstaaten gültig. Voraussetzungen sind unter anderem der Nachweis "ausreichender Existenzmittel" und der Besitz eines biometrischen Passes.

EES und RTP gehen auf eine Initiative der Kommission von 2008 zurück. Die Maßnahmen sollen zur Entwicklung eines "integrierten Grenzmanagements" beitragen. Wieder soll hierfür der Schengener Grenzkodex geändert werden, um die neuen technischen Systeme mit dem EU-Rechtsrahmen kompatibel zu machen.

Fraglich ist, wo die neuen Daten gespeichert bzw. die Plattformen verwaltet werden. Im Gespräch ist die neu zu schaffende Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Bereich Freiheit, Sicherheit und Recht, deren Zuständigkeit bislang lediglich für das SIS, das VIS sowie die Fingerabdruckdatenbank (EURODAC) im Gespräch war (Polizeiliche Datenbankgesellschaft).

"Integriertes Grenzmanagement" wird Priorität der polnischen Ratspräsidentschaft

Das neue "elektronische Ein- und Ausreisesystem" stellt ähnliche technische Herausforderungen wie das bereits fünf Jahre verspätete Upgrade des Schengener Informationssystem (SIS). Aus Brüssel heißt es, dass sich die für das erste Quartal angekündigte endgültige Fertigstellung des SIS II erneut um ein Quartal verzögert (Wirrwarr um aufgebohrte EU-Polizeidatenbank). Die Fahndungsdatenbank geht demnach erst frühestens im Juni 2013 in Betrieb. Die Projektkosten werden gegenwärtig mit 143 Millionen Euro kalkuliert.

Grund für die Verzögerung ist die Aufnahme erweiterter Datenkategorien, darunter biometrische Daten neuer Reisedokumente. Eine der Herausforderungen ist zudem die Interoperabilität der Betriebssysteme der nationalen SIS-Datenbanken. Während die Plattformen meisten Mitgliedsstaaten unter Linux Red Hat laufen, nutzt unter anderem Deutschland Hewlett Packard UniX.

Im April 2010 wurde in einer Studie erörtert, wie das EES und das RTP mit bestehenden Systemen interoperabel zu machen wären und welche zusätzlichen Kosten veranschlagt werden müssten - alle Zugangspunkte des Systems müssen innerhalb der 27 Mitgliedsstaaten kompatibel sein. Kurz darauf hatte die Kommission eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse 2012 im Rahmen der Ausführungen zum "Smart Border Package" präsentiert werden sollen. Gegenwärtig kursiert die Schätzung von Investitionen über eine Milliarde Euro allein für das Ein- und Ausreisesystem EES. Am 22. Juni soll eine "hochrangige Konferenz" zum EES und RTP stattfinden, um ein ähnliches Scheitern wie beim SIS zu vermeiden.

Deutschland, die Niederlande und Großbritannien testen gemäß einer Mitteilung der Kommission bereits Anwendungen für "registrierte Vielreisende". Das deutsche Programm setzt dabei auf Iris-Erkennung. Neben anderen Mitgliedsstaaten hat laut dem Papier auch Deutschland damit begonnen, Grenzkontrollen zu automatisieren. In Großbritannien können Reisende ihre biometrischen Daten bereits im Vorfeld hinterlegen. In vielen Ländern werden die Investitionen ohnehin im Rahmen des Grenzüberwachungssystems EUROSUR getätigt, das die nationalen Plattformen ab 2013 untereinander vernetzen soll und dessen Hauptquartier in der Grenzschutzagentur Frontex in Warschau angesiedelt ist.

Vor allem jene Mitgliedsstaaten mit einer EU-Außengrenze rüsten mit "High-tech border surveillance equipment" auf, darunter Wärmebildkameras, Röntgengeräte auch für Fahrzeuge, Patrouillenboote und Helikopter. Viele der Anschaffungen werden über den "European Border Fund" (EBF) finanziert.

Die zukünftige polnische Ratspräsidentschaft hat bereits angekündigt, dem "integrierten Grenzmanagement" im nächsten halben Jahr Priorität einzuräumen. Der ablaufende ungarische Vorsitz hatte sich vor allem auf das termingerechte "go live" des Visa-Informationssystems konzentriert. Bis Ende Juli sollen die Mitgliedsstaaten hierfür die technische Bereitschaft ihrer nationalen Systemteile mitteilen. Als erste "Roll-Out-Region" gelten die Botschaften und Konsulate der EU-Mitgliedsstaaten in Ländern Nordafrikas.

Migrationsabwehr im Mittelpunkt der EU-Minister

Auf ihrem jüngsten Treffen Ende letzter Woche in Brüssel haben die Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedsstaaten eine Erklärung verabschiedet, um die Bedeutung "moderner Technologien für Grenzschutzzwecke" der EU-Außengrenzen zu bekräftigen.

Das Treffen befasste sich in weiten Teilen mit der Zuspitzung europäischer Migrationsabwehr. Neben dem Visa-Informationssystem und dem SIS II wurde die Änderung der Verordnung der Grenzschutzagentur Frontex beraten, um die Behörde eilig mit neuen Kompetenzen auszustatten (Militarisierung des Mittelmeers). Die Kommission präsentierte einen Vorschlag zur vorübergehenden Wiedereinführung einer Visapflicht für Drittstaaten. Eine "Schengen-Bewertung" Bulgariens und Rumäniens führte unter anderem auf Drängen Deutschlands zum Beschluss, den für März 2011 vorgesehen Beitritt im September erneut zu beraten.

Gleichzeitig setzen die Minister die Kommission unter Druck, ihre erst für 2012 vorgesehene "Mitteilung über intelligente Grenzen" möglichst bald zu veröffentlichen. Im Gegenzug verspricht der Ministerrat, die Vorschläge der Kommission eilig zu behandeln. Die Entscheidung zur Einrichtung der neuen Plattformen EES und RTP würde enorme Investitionen für die Industrie nach sich ziehen. Profitieren würden zuallererst die großen Rüstungskonzerne in der EU, die jeweils eine breite Palette von Anwendungen zum elektronischen Grenzmanagement entwickelt haben.

Der Rat der Innen- und Justizminister endete mit der Verabschiedung von "Schlussfolgerungen zu Grenzen, Migration und Asyl", die sich wiederum auf eine kurz zuvor lancierte Kommissionsmitteilung zum "Dialog über Migration, Mobilität und Sicherheit mit den Ländern des südlichen Mittelmeerraums" stützen. Die Glaubwürdigkeit der EU nach innen wie nach außen hängt von einer effizienten Grenzverwaltung ab", klagt die Kommission in dem Papier. Der Mitteilung ist am Ende ein umfangreicher Anhang mit Statistiken angehängt. Demnach steigt die Repression gegenüber Migranten stetig. 2009 wurden fast 600.000 in den Mitgliedsstaaten der EU festgenommen und über 250.000 abgeschoben.

Tunesien und Marokko sollen mit "Anreizen" dazu gebracht werden, "sich konkret für die Unterbindung der irregulären Migration einzusetzen, ihre Grenzen effizient zu verwalten und bei der Rückführung und Rückübernahme irregulärer Migranten zu kooperieren". Zum Zweck dieser "umfassende Migrationspolitik" nimmt die Kommission erstaunlich klar Stellung: Diese würde "nicht zuletzt dazu beitragen, den Wohlstand der EU auch künftig zu sichern".