Berliner Piraten im LiquidFeedback für Flatrate-ÖPNV

Mit der Umstellung könnten nicht nur Transaktionskosten reduziert, sondern auch erhebliche Ressourcen zur Bekämpfung von Gewaltverbrechen freigesetzt werden

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Dass Berlin ein Problem mit der schnellen Aburteilung von Gewaltverbrechern hat, ist spätestens seit Kirsten Heisigs Buch Das Ende der Geduld bekannt. Heisigs Kollegin Dietlind Biesterfeld ist es zu verdanken, dass man seit Kurzem auch einen maßgeblichen Schuldigen für diesen Missstand kennt: Die derzeitige Rechtslage bindet die Justizressourcen nämlich zu einem großen Teil mit Delikten, die im Vergleich zu Gewaltverbrechen als durchaus weniger dringliches Problem erscheinen.

Die Neuköllner Jugendrichterin schätzt, dass es in einem Viertel bis einem Drittel aller Gerichtsverfahren gegen Erwachsene und in bis zu einem Fünftel der Prozesse gegen Jugendliche um die so genannte "Leistungserschleichung" geht, die dem Nichtjuristen als Schwarzfahren bekannt ist. Dabei handelt es sich aber nicht um das für andere Personen möglicherweise gefährliche Steuern eines Kraftfahrzeuges ohne Führerschein, sondern lediglich um den Vorgang, dass jemand einen Bus, eine Bahn oder einen Bahnhof betritt, ohne dafür das richtige Ticket in der Tasche zu haben.

In den letzten Jahren lag die Zahl der in Berlin gestellten Strafanzeigen wegen Schwarzfahrens knapp unter zwanzigtausend. 8.511 davon wurden 2008 verurteilt, darunter 480 zu einer Gefängnisstrafe. Allerdings gibt es unter den Verurteilten, die häufig am Existenzminimum leben, auch viele, die eine Geldstrafe nicht bezahlen können und eine (pro Tag 80 Euro Steuergeld teure) Ersatzhaft antreten müssen. So kommt es, dass unter den 500 Inhaftierten der Justizvollzugsanstalt Plötzensee ein Drittel Schwarzfahrer sind.

Foto: Philipp Burkhardt (Wield89). Lizenz: CC-BY-SA.

Biesterfeld fordert deshalb, dass das Delikt mit einem ihr zufolge ähnlichen Unrechtsgehalt wie das Falschparken nur mehr als Ordnungswidrigkeit verfolgt wird oder dass Hartz-IV-Bezieher, die das Gros der Schwarzfahrfälle ausmachen, den ÖPNV kostenlos nutzen dürfen. Allerdings stoßen die Vorschläge beim rot-roten Senat bisher auf wenig offene Ohren. Justizsenatorin Gisela von der Aue meinte im Tagesspiegel, dies sei "der Gesellschaft wohl nicht zu vermitteln", was Biesterfeld völlig anders sieht: Ihr zufolge fassen sich die Bürger "doch an den Kopf [wenn sie sehen], womit sich Richter beschäftigen müssen".

Ebenfalls abwehrend äußerte sich Benedikt Lux von den Grünen, der den Ball bei den Staatsanwaltschaften sieht, die in solchen Fällen einfach weniger oft ein öffentliches Interesse fest- und die Verfahren einstellen sollten. Außerdem, so der Rechtsanwalt, könne die BVG doch ihre Passagiere weniger oft anzeigen, worauf die Verkehrsgesellschaft bereits erwiderte, man bringe "in der Regel" ohnehin nur solche Personen vor Gericht, die dreimal erwischt wurden und dies sei zur Abschreckung notwendig.

Tatsächlich Justizressourcen freisetzen würde dagegen ein Plan aus dem LiquidFeedback-Meinungsfindungsportal der Berliner Piratenpartei: Er sieht vor, den öffentlichen Personennahverkehr in Berlin "mittelfristig" komplett über eine kommunale Sonderabgabe zu finanzieren und Kontrollen ebenso wie Fahrscheine vollständig abzuschaffen. Den Piraten zufolge würden dazu 20 bis 30 Euro pro Monat und Erwachsenen reichen, wenn man Härtefällen die gleichen Vergünstigungen wie bei den bisherigen Sozialtickets gewährt und die Subventionen der Stadt auf dem jetzigen Niveau belässt. Allerdings steht die Berechnung insofern noch auf unsicherem Boden, als sich die Bahn AG, die in Berlin die S-Bahn betreibt, weigert, "verlässliche Zahlen für das Jahr 2009" herauszugeben.

Volkswirtschaftlicher Hintergrund der Idee ist, dass in manchen Bereichen die Transaktionskosten eine Leistung nicht nur erheblich verteuern, sondern auch bürokratisch machen können - was sich auf Kundenseite etwa an Problemen mit der richtigen Fahrkarte oder verpassten Anschlüssen wegen kaputter Automaten zeigt. Würden beispielsweise Bürgersteige und Straßen an jeder Ecke plötzlich mit einem Mauthäuschen versehen, dann wäre auch deren Benutzung so umständlich, teuer und zeitraubend, dass eine Mehrheit der Bürger wahrscheinlich für eine über das Finanzamt eingezogene Flatrate plädieren würde.

Mit Rücksicht auf die Arbeitslosenrate in der Bundeshauptstadt will man die Einsparvorteile aber nicht komplett auf den niedrigeren Preis umlegen, sondern die ehemaligen Kontrolleure zu Informationsdienstleistern umschulen, die Fahrgästen für Auskünfte zur Verfügung stehen. Hier wird es dem Modell nach unter anderem deshalb einen höheren Bedarf geben, weil ein fahrscheinloser ÖPNV mehr Touristen anzieht, die wiederum den Berliner Geschäften und Gaststätten nutzen. Weitere Vorteile wären eine Verringerung von Lärm und Abgas durch weniger Autoverkehr, mehr freie Parkplätze in hochfrequentierten Gebieten und sicherere Straßen durch weniger Radfahrer.

Bisher erhielt das via Piratenpad erarbeitete Modell lediglich im LiquidFeedback eine ausreichende Mehrheit - die rechtlich vorgeschriebene Annahme in der nächsten Landesmitgliederversammlung am 2. und 3. Juli steht noch aus. Allerdings sieht man bei den Berliner Piraten gegenüber Telepolis "keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschluss anders ausfallen könnte".

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