Wut und Dauerdämpfung

Der tödliche Schuss im Frankfurter Jobcenter und die psychosoziale Belastung von Hartz IV

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Rund 300 Personen beteiligten sich am vergangenen Samstag in Frankfurt am Main an einer Demonstration zum gewaltsamen Tod einer Hartz IV-Bezieherin. Aufgerufen hatte die örtliche Initiative Christy Schwundeck. Die 39-Jährige war am 19. Mai im Frankfurter Jobcenter nach einer Messerattacke auf einen Polizisten von einer Beamtin angeschossen worden und war kurz darauf im Krankenhaus gestorben. Vorangegangen war ein Streit um die Barauszahlung der Unterstützung. Die Initiative fordert Aufklärung über die Hintergründe und Details des tödlichen Schusses.

Der Tod der Mutter einer elfjährigen Tochter weist auf die zunehmend konfliktbeladene Schnittstelle zwischen den "Kunden" und den Mitarbeitern der Jobcenter hin. Das Verhalten ihrer Klientel werde immer unberechenbarer und gewalttätiger, so die Leiterin des Frankfurter Jobcenters in einem Zeitungsbericht. Der Grund: Bei vielen "Kunden" gehe es inzwischen schlichtweg um die Existenz.

Das meint, dass Hartz IV anders als bei der ehemaligen Sozial- und Arbeitslosenhilfe eine neue Qualität psychischer Belastung bedeutet, die nicht selten als nackte Existenzangst empfunden wird. So registrieren die Mitarbeiter der Solidarischen Psychosozialen Hilfe Hamburg (SPSH) mittlerweile einen enormen Anstieg der Depressionen, seit der Einführung von Hartz IV sei der Druck auf die Langzeitarbeitslosen deutlich größer geworden. Die SPSH ist eine der wenigen Einrichtung, die psychologische Hilfe für Erwerbslose anbietet und dass bereit seit 1985.

Zwar sind die psychischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit seit der berühmten Studie über die "Arbeitslosen von Marienthal" durchaus sozialwissenschaftlich erforscht, doch was Maßnahmen wie Hartz IV in modernen Gesellschaften emotional für die Betroffenen bedeutet, wird oft mit funktionalistischen Ansätzen übertüncht. Da werden Bewerbungstraining und Arbeitsbereitschaft eingefordert, doch nach den mit Langzeitarbeitslosigkeit verbundenen Gefühlen der Wut, Scham, Angst und Ohnmacht wird in den Jobcentern und den Expertisen des Bundessozialministeriums nicht gefragt. Eine Sozialpädagogik-Studentin aber hat das getan und in ihrer Diplomarbeit über einen kirchlichen Arbeitslosentreff in München diese Gefühle protokolliert:

Im Moment bin ich wieder ruhig. Ich habe sehr viele Angstgefühle vor der Zukunft. Das habe ich immer wieder. Heute habe ich eine kleine Rechnung bekommen, die ich schon bezahlt habe. Ich muss das regeln. Ich bekomme dann sofort Magenschmerzen, weil ich das Geld nicht habe.

Kaufmännische Angestellte, 53 Jahre

Ich habe festgestellt, dass es nicht gut ist, an die Zukunft zu denken, wenn es einem nicht gut geht. Vielleicht ergibt sich was, dass es noch gut werden kann. Ich möchte mich nicht flüchten in ein kleines Loch. Ich habe in letzter Zeit so oft an den Tod gedacht, dass ich auf Fragen in der Zukunft nur schwer antworten kann.

Buchhalterin, 59 Jahre

Es gibt Momente, da zweifele ich an allem. Da bin ich dann total unglücklich. Es gibt Dinge, mit denen ich mich wieder aufbauen kann, aber die Zweifel, die sind entstanden durch die Arbeitslosigkeit.

Sekretärin, 46 Jahre

Da gibt es Situationen, wo es schon völlig aussichtslos scheint. Manche Absagen hauen schon rein. Das deprimiert dann schon.

Diplom-Informatiker, 53 Jahre

Eine Psychologin, die selbst in den Hartz IV-Bezug geriet, analysierte ihre eigene Situation wie folgt:

Arbeitslosigkeit ist eine Art Dauerdämpfung, die krank machen kann. Zu dem ganz konkreten materiellen Existenzdruck kommt die zermürbende Reaktion der Gesellschaft, dieses Verleumden und diese Schuldzuweisungen. Hartz IV - das ist eine völlig neue Qualität von Belastung. Ich bin sicher, dies führt zu somatischen und psychischen Erkrankungen.

Wie das geht zeigte vor drei Jahren ein Gerichtsurteil in Köln. Ein 54-Jähriger war zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er eine Mitarbeiterin des Jobcenters mit dem Tode bedroht hatte. Der Langzeitarbeitslose war jahrelang mit der Mitarbeiterin in Clinch gelegen, weil diese ihm offenbar zu Unrecht Leistungen verweigerte. Der nach der Trennung von seiner Frau und seinen Kindern psychisch schwer angeschlagene Mann hatte massive Existenzängste und glaubte wegen Miet- und Stromschulden die Wohnung zu verlieren. So benutzte er abends nur eine Taschenlampe, um Strom zu sparen.

Gegenüber der geradezu flächendeckenden Verbreitung von Hartz IV mit Millionen von Betroffenen ist die Thematisierung der psychosozialen Folgen und das entsprechende Beratungs- und Hilfeangebot marginal. Nicht wenige fühlen sich gegenüber den Jobcentern in einer kafkaesken Welt gefangen. Es gehe nicht nur um materielle Not, so Christian Schultz von der Hamburger SPSH, sondern auch um die Ohnmachtsgefühle gegenüber einem bürokratischen Apparat.

Zwar mangelt es nicht an Psychotherapeuten und Psychologen, aber deren Hilfe muss für Hartz IV-Bezieher greifbar sein. Dazu bedarf es mehr Einrichtungen wie das Hamburger SPSH, die vom dortigen Senat bezahlt wird und kostenlose Beratung in Gruppen- und Einzelgesprächen anbietet. Die Nachfrage nach persönlicher Beratung ist dabei groß, für Einzelgespräche gilt ein halbes Jahr Wartezeit, erste Klärungsgespräche sind aber in der Regel meist sofort möglich. Und wenn in Einrichtungen wie in Hamburg die Erfahrung gemacht wird, dass sich das Misstrauen und die Wut auf die Jobcenter sehr verschärft hat, dann ist das ebenso ein Warnsignal wie der tödliche Schuss in Frankfurt.