"Wir haben keine Beweise gefunden"

Libyen: Massenvergewaltigungen und Genozid und die erneute Frage nach der Wahrheit im Krieg

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Ein Artikel des Independent-Journalisten Patrick Cockburn, vielen Leser vielleicht noch als Autor kritischer Hintergrundberichte über den Irakkrieg in Erinnerung, stellt Behauptungen in Frage, die den Soldaten Gaddafis Massenvergewaltigungen und Genozid vorwerfen. Dafür würden Beweise fehlen, werden namhafte Vertreter von Menschenrechtsorganisationen zitiert.

So wird Donatella Rovera, Krisenbeauftragte von Amnesty International, bekannt auch als AI-Spezialistin für den pälästinensisch-israelischen Konflikt, mit einer Aussage wiedergegeben, wonach man bislang "weder einen Beweis noch ein einziges Vergewaltigungsopfer noch einen Arzt gefunden hätte, der von einer Person gewusst hätte, die vergewaltigt worden ist". Nach Angaben Cockburns hielt sich Rovera drei Monate lang nach Ausbruch der Aufstände in Libyen auf.

Auch die für Frauenrechte bei der Organisation Human Rights Watch zuständige Liesel Gerntholtz kommt bei ihren Untersuchungen zu den Massenvergewaltigungen laut Artikel zum selben Ergebnis:

We have not been able to find evidence.

Die Aussagen der Menschenrechtlerinnen zu den mutmaßlichen Massenvergewaltigungen stellt Cockburn generell mit den Vorwürfen in Zusammenhang, die als Rechtfertigung für den militärischen Einsatz der Nato in Libyen herangezogen werden. Er erhärtet den Verdacht, der von Kritikern des Einsatzes immer wieder ins Spiel gebracht wird: Dass es, wie eine Untersuchung von Amnesty zeige, Anzeichen dafür gebe, "dass die Rebellen anscheinend bewusst falsche Anschuldigungen gemacht und Beweise dafür fabriziert haben".

Das stünde im Widerspruch etwa zu den Aussagen des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofes, Luis Moreno-Ocampo, der kürzlich bei einer Pressekonferenz von Informationen gesprochen habe, die nahelegten, dass Gaddafi Vergewaltigungen als "politisches Mittel" benutze, um Regierungsgegner einzuschüchtern und zu bestrafen. Auch die amerikanische Außenministerin habe Ähnliches geäußert. Clinton habe sich "sehr besorgt" darüber ausgesprochen, dass Gaddafis Soldaten an "weitverbreiteten" Vergewaltigungen in Libyen beteiligt seien.

Was als bislang deutlichster Beweis für diese Verbrechen angeführt werde, eine Liste von über 250 Vergewaltigungsopfer, die von einer libyschen Psychologin stammt, konnte von einer Amnesty-Mitarbeiterin in Libyen, namens Diana Eltahawy, nicht bestätigt werden, da ihr die Psychologin beschied, sie habe den Kontakt mit den Opfern verloren.

"Einseitiger Blickwinkel": Der ICG-Bericht

Der Independent-Artikel zitiert zur Stützung seiner Argumentation, wonach Vorwürfen gegen Gaddafis Regierungstruppen, die ihnen Massenvergewaltigungen und Genozid zur Last legen, von keinen eindeutigen Beweisen gedeckt sind, darüberhinaus einen Bericht der International Crisis Group.

Dort ist zwar (auf den Seiten 4 und 5) die Rede von Vergewaltigungen, die von Gaddafis Soldaten begangen würden. Allerdings mit der Einschränkung, dass die Berichte darüber, wie sie etwa auf Al-Jazeera erschienen, nicht bestätigt wurden, ebensowenig die Berichte über Genozid:

Likewise, there are grounds for questioning the more sensational reports that the regime was using its air force to slaughter demonstrators, let alone engaging in anything remotely warranting use of the term "genocide".

Der ICG-Bericht kritisiert in diesem Zusammenhang die Berichterstattung über den libyschen Konflikt. Gerade die Medien im Westen hätten von Anfang an eine sehr einseitigen Blickwinkel bevorzugt, in dem die Brutalität der Truppen Gaddafis betont wurde und die Rebellen als "vollkommen friedlich" dargestellt würden. Was unrichtig sei, da doch auch auf dieser Seite Grausamkeiten verübt wurden. Das betont auch die weiter oben erwähnte Diana Eltahawy von Amnesty International, die sich in Libyen aufhielt, in einem Interview. Der Internationale Strafgerichtshof müsse auf alle Verletzungen der Menschenrechte achten, auch wenn sie von anderer Seite als derjenigen Gaddafis begangen würden.

Well the international criminal court is currently looking only at violations committed by the Gaddafi forces and we would very much encourage them to look at all violations of international humanitarian law and criminal law that are being committed in the context of this conflict.

Dass Gaddafi Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten hat, wird vom Bericht der International Crisis Group nicht in Abrede gestellt. Dessen Entschiedenheit, mit allen Mitteln an der Machjt zu bleiben, habe zur Anwendung brutaler Gewalt gegen Demonstranten und Gegner geführt. Das ist deutlich im ICG-Bericht zu lesen und wird dort auch nicht relativiert.

Dass der Schutz der Zivilbevölkerung seitens der Allianz unter westlicher Führung mit militärischen Mitteln versucht wird, freilich als Vorwand für einen Regime Change, wird von der ICG scharf kritisiert. Man habe einem Bürgerkrieg Vorschub geleistet, wird dort argumentiert. Die einzige Lösung, den Konflikt mit sehr ungewissem Ausgang in Zaum zu halten, wäre ein sofortiger Waffenstillstand.