Warum wir Computer anschreien

Interview mit dem Biologen Andreas Kilian über die Evolution religiösen Verhaltens. Erster Teil.

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Andreas Kilian unternimmt mit seinem Buch Die Logik der Nicht-Logik einen interessanten Versuch, das Phänomen Religion naturwissenschaftlich zu ergründen. Wer das Wirken und die Auswirkungen von Religionen im Alltag verstehen will, tut seiner Ansicht nach gut daran, sich zunächst mit ihrer Entstehung in der Evolution und Geschichte auseinandersetzen. Also auch damit, warum wir überhaupt manche Glaubensinhalte annehmen. Kilian widmet sich daher zunächst den biologischen Ursprüngen der menschlichen Fähigkeiten, die zur Spiritualität führen können.

Einerseits ist das Denken geprägt von der Suche nach Ursache-Wirkungs-Mechanismen (wobei das Gehirn laut Kilian immer noch auf die Bewältigung von Situationen im Überlebenskampf zu Zeiten des Pleistozäns ausgerichtet ist) - und unter Zeitdruck nimmt der Mensch die für ihn schnellstmöglich generierbare Lösung an. Der Homo sapiens ist also nicht weit- und umsichtig, sondern eher effektiv kurzsichtig: Wenn ein Raubtier vor einem steht, ist Geschwindigkeit im Denken wichtiger, als die bestmögliche Lösung.

Zudem war das Gehirn in der Evolution kein Selbstzweck, sondern sollte dem Körper helfen, zur nächsten Beute oder zum nächsten Paarungspartner zu gelangen. Das menschliche Denken ist daher ego-zentriert. Die Menschen beziehen auch Ereignisse auf sich, die wirklich nichts mit ihnen zu tun haben, wie z.B. Sternbilder. Auch wurden die Sinne in der Evolution darauf selektiert, das Außergewöhnliche schneller zu erfassen, als das, was man täglich hört und sieht.

Und last but not least, kommt das menschliche Gehirn nicht als leeres Blatt auf die Welt, sondern bringt bereits eine Art Systemsoftware mit, die uns bestimmte Erfahrungen und Lerninhalte suchen lässt. Einige diese Programme liefern uns Platzhalter, die wir mit Inhalten der aktuellen Lebenssituation füllen können, aber nicht müssen. So haben wir als Kinder Angst vor Gespenstern, damit unser Gehirn situativ relevante Aspekte der Flucht vor Feinden in der Fantasie durchspielt, bevor wir jemals einen realen und höchstwahrscheinlich letalen Kontakt zu Raubtieren herstellen müssen. Unsere Software hilft uns, imaginierte Vorstellungen unserer sozialen und natürlichen Umwelten und unseren Platz in diesen zu generieren, bis wir über genügend Lebenserfahrung verfügen, solche vorläufigen Vorstellungswelten loszulassen. Und unsere Software generiert uns in unserer Jugend das, was wir hinterher als Sinn, Halt und Ordnung interpretieren.

Über den gesellschaftlichen Austausch von Glaubensinhalten zu solchen imaginierten Zusammenhängen gelangte Andreas Kilian zur Religiosität und zur Religion. Sie sind unterkomplexe Antworten auf hochkomplexe, übergeordnete Zusammenhänge. Mit einem Streifzug durch die Entwicklung einzelner Religionen in der Geschichte, der selektiven Entwicklung von Glaubensinhalten, den Funktionen der Religionen im Alltag sowie dem Verhalten von Gläubigen gelangt er zu einer biologisch-wissenschaftlichen Definition dessen, was den Kern aller Religionen ausmacht.

Herr Kilian, wie unterscheidet sich Wissenschaft vom Glauben? Kann Wissenschaft Religion erklären oder ist Religion nur aus sich heraus erklärbar? - Falls Letzteres zutrifft: Was folgt daraus?

Andreas Kilian: Wissenschaft ist eine Methode, die mit Hilfe der Empirie und Logik nachvollziehbare und überprüfbare Ergebnisse ermöglicht, aus denen Erkenntnisse und Hypothesen abgeleitet werden können, die falsifizierbar sein müssen. Der religiöse Glauben ist ein Ergebnis, von dem niemand weiß, wie man dort hin gekommen ist, noch wie die Glaubensinhalte zu überprüfen sind. Religiöser Glauben ist immer fundamentalistisch.

Religionen können sich nicht aus sich selbst heraus erklären. Es sei denn, man akzeptiert die Kapitulation der Logik, den Zirkelschluss: Es ist heilig, weil es in den heiligen Büchern steht, und es steht in den heiligen Büchern, weil es doch heilig ist. Wohin sollen denn willkürliche Glaubensannahmen führen, wenn nicht zur nächsten willkürlichen Annahme? Religionen sind in sich geschlossene - zum Teil logisch erscheinende - Argumentationsebenen, die aber keinen überprüfbaren Bezug zu einer nachweisbaren, messbaren Empirie haben. Das heißt, sie sind als Ganzes von der Realität abgetrennt.

Wenn das Phänomen Religion erklärt und definiert werden soll, dann geht dies nur über das, was allen Menschen auf der Welt nachweisbar, überprüfbar und/oder messbar zur Verfügung steht. Also über die Methoden und Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Alles, was für andere nicht logisch oder empirisch nachvollziehbar ist, ist unwissenschaftlich und kann als willkürlich interpretiert werden.

"Der Papst entscheidet sich aufgrund seiner persönlichen Interpretation von heiligen Texten für eine Richtung, die er nicht wissenschaftlich rechtfertigen kann"

Welche Rolle spielen Wissenschaft und Religion bezüglich der Herausbildung humanistischer Werte? Ist es so, dass dem Menschen, wie der Papst behauptet, sobald das theologische Weltbild fällt, nur noch der ethische Relativismus und somit moralische Nihilismus übrig bleibt oder müsste nicht eher der Pontifex Maximus Schwierigkeiten bekommen, aus den Geboten und Verhaltensregeln eines naturtranszendenten Gottes Werte abzuleiten, die auch hier unten auf der Erde gelten sollen, weil sich eben der Maßstab dieser Werte - der wundertätige Gott - komplett Verstand und Wissenschaft entzieht und deswegen die Interpretation davon - entgegen dem konservativ-christlichen Festigkeitspathos - immer nur willkürlich sein kann?

Andreas Kilian: Biologisch betrachtet sind Ethiken auch nur Spielregeln des Zusammenlebens. Sie sind bei allen sozialen Tieren anzutreffen. Sie sind das Ergebnis der Verhalten, die sich als positiv für Individuen und Gruppe in der Evolution herauskristallisiert haben. Mit Hilfe dieser Spielregeln lassen sich Gruppendynamiken situativ lenken. Für welche Richtung wir uns in der Entwicklung der Gruppendynamiken entscheiden ist aber immer willkürlich, da die Evolution kein Ziel hat.

Naturalisten sind sich dieser Willkür bewusst, wenn sie sich eine Zukunft für die Menschheit vorstellen. Der Papst entscheidet sich aufgrund seiner persönlichen Interpretation von heiligen Texten für eine Richtung, die er nicht wissenschaftlich rechtfertigen kann. Einen neutralen Ausweg mit Hilfe von Logik oder Wissenschaft gibt es nicht, weil selbst unser Gehirn auch nur eine Blaupause unserer evolutiven Entwicklung ist. Wir finden "gut", was in unserer Phylogenie positiv selektiert wurde, und wir finden "schlecht", was zu individuellen Nachteilen führen kann. Zudem kann niemand ein allgemein akzeptables Ziel nennen, wohin unsere Gesellschaft steuern soll.

Die Frage, die sich uns also stellt, ist: Wollen wir der willkürlichen Interpretation einzelner Herrscher folgen und den krankhaften Versuch starten, Heilige zu werden, oder wollen wir große Teile unserer Natur als gegeben akzeptieren und das ändern, was realistisch zu ändern ist.

Für die Erarbeitung von humanistischen Werten brauchen wir weder Religion noch Offenbarung, sondern gesunden Menschenverstand. Da brechen auch keine Weltbilder zusammen, weil alle Religionen bisher nur auf den Spielregeln existieren konnten, die der Mensch sowieso schon seit dem Pleistozän hat. Nicht umsonst zeigen Untersuchungen, dass alle Menschen auf der Welt über die gleichen Grundbegriffe von Moral und Ethik verfügen. Daran haben auch Religionen nie etwas ändern können. Alles was wir ändern können, sie die Lebensbedingungen, damit die Menschen die Verhalten zeigen können, die wir als sympathisch empfinden.

"Stigmatisierung in Religionen und Sekten"

Ihren Ausführungen zufolge wurde der Begriff "Religion" überhaupt erst im Zuge der frühen Aufklärungsphilosophie geprägt. Wie hat man vorher Religion bezeichnet oder war Religion zu diesen Zeiten so selbstverständlich, dass man überhaupt nicht auf die Idee kam einen eigenen Begriff davon zu bilden?

Andreas Kilian: In der polytheistischen Antike herrschte die individuelle Glaubensfreiheit und damit die Glaubensvielfalt. Es gab den persönlichen Glauben und jeder Reisende war frei die lokalen Götter seiner Reiseziele mit in seinen Pantheon aufzunehmen und um Schutz zu bitten. Da die meisten Menschen mehrere Götter hatten, wurden alle Vorstellungen als gleichwertig toleriert. Den Begriff und die Vorstellung von einer "allgemeingültigen" Religion gab es damals noch nicht. Es gab Bezeichnungen, wie Glauben, Frömmigkeit, heilig, Götter, Götterdienst sowie die Opferdienste, die bis in Mittelalter hinein als Beschreibungen des persönlichen Glaubens verwendet wurden.

Zudem gab es Vorlieben für bestimmte Kulte und Mysterien, die man jedoch wechseln konnte. Cicero nannte zwar den Begriff religio, meinte damit aber das sorgsame Beachten eines Tempelkults. In diesem Sinne wurden auch Kirchenleute als Vertreter des ordentlichen Kultes bis ins Mittelalter hinein als religiosi bezeichnet. Der in der frühen Neuzeit aufkommende Begriff religion bezeichnet zunächst nur Lehren.

Der Begriff der Religionen macht als Unterscheidung nur Sinn, wenn es mehrere parallel existierende Glaubensgemeinschaften gibt, die sowohl ein gemeinsames Konzept im Aufbau aufweisen, als sich auch in Details unterscheiden. Dies wurde in Europa erst durch die Aufspaltung der Reformation deutlich. Auf der einen Seite waren die neu entstandenen Kirchen nichts Neues, sondern genauso christlich wie ihr Ursprung. Auf der anderen Seite musste jedoch ein klarer politischer Trennstrich gezogen werden.

Die Stigmatisierung in Religionen und Sekten ist ein monotheistisches Produkt von "Mein" Gott und "Dein" Gott", und "Mein" ist richtig und "Dein" ist falsch. Monotheistische Götter dienen dazu, Kriege zu legitimieren und Massen unter einem gemeinsamen Nenner hinter sich zu bekommen. Dieses mehr politisch-ideologische Phänomen in Verbindung mit bestimmten Glaubensunterschieden und -praktiken wurde in der Aufklärung retrospektiv mit der abstrakteren Bezeichnung Religion versehen. Sie symbolisiert das weg vom individuellen hin zum rechtmäßigen, verordneten und "richtigen" Glauben, den man als Teil der Gesellschaft anzunehmen hat.

"Weit über einhundert Arbeitsdefinitionen von Religion"

Sie schreiben, dass weder Theologie noch Religionswissenschaft bis heute eine allgemein akzeptierte, verbindliche und wissenschaftliche Definition des Begriffes Religion entwickelt haben. Auf welche Definitionen berufen sich dann die Spezialisten in diesen Fächern, was fehlt diesen Bestimmungen zur Allgemeinverbindlichkeit und warum müssen diese überhaupt allgemeinverbindlich sein?

Andreas Kilian: Fangen wir mal von hinten an. Warum muss es eine allgemeinverbindliche Definition des Begriffes Religion geben? Wenn keiner eindeutig und für alle verbindlich definieren kann, was Religion ist, wer ist dann ein kompetenter Ansprechpartner für Politiker, Wissenschaftler sowie für mündige Bürger? Mit wem will man sich denn unterhalten, wenn keiner sagen kann, worüber er sich gerade unterhält? Wem soll man glauben, wenn alle religiösen Fachleute etwas anderes erzählen und nicht sagen können, warum dies nun etwas ganz anderes ist? Und es geht nicht nur um wissenschaftliche Spitzfindigkeiten, es geht auch um die Existenz und das Wirken der Religionen im Alltag. Was ist die Berechtigung für Religionsunterricht, wenn niemand definieren kann, was Religion ist? Was ist verbürgte Religionsfreiheit, wenn die Unterschiede zwischen Religion, Aberglaube, Ideologie und Politik in der Willkür der Interpreten liegen?

Dies hat Auswirkungen bis hin zur nationalen Gesetzgebungen. Wer ist kompetenter Ansprechpartner, wenn es um die Anerkennung einer Glaubensgemeinschaft als religiöse Gemeinde, Wertegemeinschaft oder staatlich anerkannte Kirche geht? Wer darf Sekten diffamieren und selber Staatsgelder und Sonderrechte bekommen? Wie kann man Schadensansprüche anmelden, wenn man nicht sagen kann, was zur Dienstleistung der Religionen gehört? Wie wollen Religionen friedlich koexistieren, wenn ihre Mitglieder nicht die Grenzen ihres Metiers definieren können? Was ist dann bitteschön interreligiöser Dialog? Und zum Schluss müssen sich auch die Religionswissenschaftler fragen, woran sie forschen möchten.

Ihre erste Frage war, worauf sich die Spezialisten berufen? Es gibt weit über einhundert Arbeitsdefinitionen von dem, was unter dem Begriff Religion zu verstehen sein soll. Da ist ja für jeden etwas dabei. Und zwar immer das, was man zur Argumentation gerade braucht. Und dies hat anscheinend System. Zumindest hat man so immer das letzte Wort.

Und damit sind wir ja auch bei ihrer letzten Frage, was den bisherigen Definitionen zur Allgemeinverbindlichkeit fehlt. Einige Beispiele: "Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Religion ist das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit." "Religion ist das, was der Einzelne aus seiner Einsamkeit macht." "Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen. " "Religion ist ein Komplex religiöser Praktiken, die auf der Prämisse der Existenz in der Regel unsichtbarer persönlicher oder unpersönlicher übermenschlicher Mächte beruhen."

Da wird Religion durch das Heilige oder durch das Unendliche erklärt. Definitionen sollen eindeutige und nachvollziehbare Antworten sein, keine Verwirrspiele, die das zu Erklärende mit dem Unerklärlichen erklären. Und jetzt versuchen Sie bitte einmal, eine einzige der oben genannten Fragen mit diesen Zirkelschluss-Definitionen zu beantworten. Ich denke, genau deshalb bedarf es einer allgemein akzeptierten, verständlichen, verbindlichen und wissenschaftlichen Definition des Phänomens Religion.

Theologischer Zirkelschluss

Das müssen doch die Theologen und Religionswissenschaftler auch merken und zumindest für ihre empirischen Feldforschungen brauchbare Arbeitsdefinitionen für die Begriffe Religion und Religiosität liefern ...

Andreas Kilian: Das sollte man meinen. Manche Religionswissenschaftler definieren Religiosität als Glauben an bzw. biologisch veranlagtes und kulturell ausgeprägtes Verhalten zu überempirischen Akteuren. Die Summe (Menge) dieser Verhalten bezeichnen sie als Religion. Sehen wir einmal über die Wortschöpfung "über-empirisch" für den üblichen theologischen Zirkelschluss hinweg und nehmen uns eine Minute Zeit, um darüber nachzudenken.

Genau genommen ist nämlich die Zahl von Göttern und Akteuren, die über-empirisch sein sollen, um das Mindeste zu sagen, äußerst begrenzt. Es gibt Götter, wie Quellen, Bäume, Bären, die in Kulten verehrt werden und die somit real und empirisch sind. Auch der Dalai Lama ist als Gott empirisch erfahrbar. Zudem wird auch dem christlichen Gott in Form von Jesus eine geschichtliche Realität zuerkannt. Und die Transsubstantiation dieses Gottes findet jeden Sonntag statt. Über-empirisch sind daher nicht die Akteure.

Weiterhin macht der Begriff Akteur nur Sinn, wenn die Götter etwas für die Menschen tun, nämlich Wunder. Diese stehen zwar im Widerspruch zu den Naturgesetzen oder der erwarteten Statistik, aber die Resultate dürfen nicht über-empirisch sein, sonst hätten die Gläubigen nicht viel davon. Selbst der Vatikan muss Wunder als empirisch nachweisbar betrachten, sonst könnte er keine Heiligen ernennen. Wollen wir also nicht christo-zentrisch sein, so ist nur der Weg zwischen göttlichem Akteur und Wunder in allen Religionen über-empirisch bzw. magisch. Oder um es einfach auszudrücken, die momentan verwendete Definition einiger Religionswissenschaftler benutzt Zirkelschlüsse, entbehrt der Logik und ist wissenschaftlich nicht korrekt.

Solche logischen Widersprüche bemerken die Religionswissenschaftler sicherlich auch. Nur solange die Mehrheit der Lehrstühle für Religionswissenschaft von den beiden großen Kirchen vergeben wird, werden sie eine gute wissenschaftliche Definition, die die christlichen Lehren in Zweifel ziehen könnte, wahrscheinlich vergeblich suchen. Dabei wäre die Lösung so einfach, wenn nicht von Göttern oder Akteuren, sondern von Gedanken, Illusionen oder Halluzinationen gesprochen werden dürfte. Aber würden dies die Kirchen erlauben?

"Für unsere geistige Entwicklung gibt es keine Fossilfunde"

Sie erklären wesentliche Glaubensinhalte und - formen durch im Laufe der menschlichen Evolution in bestimmte Assoziationen und Affekte gewonnene Erfahrungen, die bereits die Frühmenschen gemacht und den Menschen im Kampf ums Dasein immer wieder Entwicklungsvorsprünge beschert hätten, sich nun aber auch in kontraproduktiver Art und Weise bemerkbar machen würden. Können Sie dafür Beispiele geben? Ist dieser Sprung von der frühen Frühzeit in die Gegenwart nicht allzu gewagt?

Andreas Kilian: Ich spekuliere gerne und lade jeden dazu ein mit zu spekulieren. Für unsere geistige Entwicklung gibt es keine Fossilfunde, mit denen etwas nachgewiesen werden könnte. Alles, was wir haben, sind unser rezenter Status Quo sowie gewisse plausible Annahmen aufgrund von Indizien, wie es in unserer Evolution zugegangen sein könnte. Davon ausgehend, dass unsere Vorfahren auf Bäumen gelebt und dort Schutz vor Raubtieren gefunden haben, wage ich zum Beispiel die Behauptung, dass wir die Richtung "Oben" und den Eindruck "Licht" mit der Rettung unseres Lebens, während wir alles unter unseren Füßen mit dem Begriff "Böse", "Raubtier" oder zumindest mit der Empfehlung "Vorsicht" assoziieren. Diese uralten und wahrscheinlich bei vielen Baumbewohnern anzutreffenden Grundempfindungen betrachte ich als Grundlage für unsere Vorstellungen von Himmel und Hölle. Engel sind immer Lichtwesen mit einer Aura oder einem Lichtnimbus. Teufel haben Ähnlichkeit mit Fleischfressern und wohnen unter der Erde.

Ein weiteres klassisches Beispiel ist die Interpretation von Gegenständen. Wer von unseren Vorfahren in der Savanne nicht entscheiden konnte, ob es sich um einen Löwen oder Termitenhügel handelt, der tat gut daran, lieber einmal zu viel als ein einziges mal zu wenig einen großen Bogen darum zu machen. Überlebt und fortgepflanzt haben sich zumindest nur die, die auch in unbelebte Gegenstände etwas Lebendiges hineininterpretiert haben. Und so verwundert es nicht, wenn wir auch heute noch Computer anschreien und Ampeln um ein sattes Grün beschwören.

Soweit der kleine Aberglaube und soweit in Ordnung. Von biologischer Überinterpretation kann aber wohl gesprochen werden, wenn ich Holzfiguren schnitze und sie um Glück anbete. Hier hat sich wohl die einst biologisch sinnvolle Software etwas verselbstständigt. Kontraproduktiv wird es in dem Augenblick, wo ich dieses Verhalten auch von anderen Artgenossen verlange.

Im zweiten Tel des Interviews mit Andreas Kilian wird dem Zusammenhang von Religion, Egoismus, Intelligenz, Wahnsinn und Ideologie nachgegangen.

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