Griechenland am Scheideweg

Bild: W. Aswestopoulos

Pleite und Panzer oder Chaos und Tränengas?

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Am Mittwochnachmittag wird das griechische Parlament über einen neuen bis 2015 gültigen mittelfristigen Wirtschaftsetatplan entscheiden. Gesetzlich soll so über die aktuelle Legislaturperiode hinaus entschieden werden. Fällt dieser mit der effektiven Streichung von durchschnittlich eineinhalb Monatsgehältern verbundene rigorose Staatsausverkaufs- und Steuererfindungsplan durch, dann droht die EU den Griechen mit der verordneten Staatspleite. Kommt die Pleite, dann droht Vizepremier Thodoros Pangalos mit Panzern. Schafft es die Regierung, droht seitens der Bürger und des Militärs ein Aufstand.

Eine Generalprobe für den Abstimmungstag fand am Dienstag statt. Eine Handvoll Anhänger eines anarchistischen schwarzen Blocks gerieten gegen 14:30 h mit der Polizei aneinander und sofort eskalierte die Situation. Dabei hatte der seit mehr als zwanzig Jahren erste achtundvierzigstündige Generalstreik Griechenlands relativ ruhig begonnen. Noch um neun Uhr tummelten sich Touristen am nur teilweise gesperrten Syntagmaplatz.

Obere Einkommensklassen trifft das Sparpaket kaum

Gegen 10:30 kamen planmäßig die ersten Demonstranten der kommunistischen Gewerkschaft PAME. Angeführt wurde der Zug wie üblich von der Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Griechenlands Aleka Papariga. Frau Papariga bemerkte vor Ankunft auf dem Syntagmaplatz gegenüber Telepolis:

Der mittelfristige Plan wird morgen sicher das Parlament passieren. Er ist eine Katastrophe fürs Land. Die stimmen wie üblich im Stück ab, aber wir werden weiterkämpfen.

Der Sparplan (Griechenland: Das Theater geht weiter) hat es wirklich in sich. "Er ist sozial ungerecht und überzogen", das meint nicht etwa die Opposition, sondern der neue Finanzminister Vangelis Venizelos persönlich. Er muss es wissen, denn er hat den Plan ausgearbeitet.

Tragikomische Situationen ergaben sich, weil die ursprünglich am Donnerstag vorgestellten Pläne bereits am Freitag mehrfach geändert wurden. Noch immer sind viele Einzelheiten unklar. Die Regierungspartei leidet unter Mitgliederschwund. Selbst Parteisekretariatsmitglieder treten zurück. Es kann durchaus sein, dass das umstrittene Gesetz zunächst durchgewunken wird, dann aber Neuwahlen folgen.

Venizelos bittet deshalb auch seine Fraktion um ein positives Votum. Danach erst, meint er, könne das dringend benötigte Kreditgeld der fünften IWF-EU-EZB Tranche über zwölf Milliarden Euro fließen. Alle EU-Offiziellen bestätigen diesen De-facto-Erpressungsversuch. Denn, wie die sozialistische Abgeordnete Vasso Papandreou bemerkt: "Wir haben die Wahl zwischen einem Messer und einer Pistole." Sie wird, bemerken Spötter, ihr Gewissen unbefragt lassen. Die Parteilinie gilt!

"Wenn wir das Geld haben, wird neu verhandelt", verspricht Venizelos. Seine Kreditgeber wird es freuen. Die internationalen Ratingagenturen sicher auch. Ihm ist klar, dass der Plan nicht funktionieren kann. Mehr als eine Million Freiberufler, auch Scheinselbstständige, werden gebeten, in den nächsten zwei Monaten eine einkommensunabhängige Kopfsteuer von insgesamt 800 Euro ans Finanzamt zu überweisen. Für mittlere Einkommensklassen bis 18.000 Euro Jahreseinkommen steigt die Einkommenssteuerbelastung je nach Familienstand um bis zu 355 Prozent. Dies haben griechische Steuerberater berechnet.

Ein Galgen für die Politiker. Bild: W. Aswestopoulos

Obere Einkommensklassen ab 65.000 Euro Jahreseinkommen trifft der neue griechische Rettungsplan kaum. Sie dürfen 0,3 Prozent mehr Steuern zahlen. Pauschalbeträge zahlen auch die Reeder des Landes mit der größten Handelsschifffahrtsflotte der Welt. Ihr Beitrag zum Staatshalt ist pro Kopf preiswerter als ein Asylantrag. Seit August 2009 wirtschaften Griechenlands Reeder steuerfrei.

Die PAME-Kundgebung fiel dennoch wie üblich friedlich aus. Es ist für Provokateure nicht möglich, in den PAME-Block einzudringen. Die PAME, die gleichzeitig zur zentralen Demo auch noch den Hafen von Piräus abgesperrt hatte, zog ebenso friedlich ab, wie sie gekommen war. Heute steht ein neuer Demozug auf dem kurzfristigen Plan der PAME.

Die Demo der übrigen Gewerkschaften - Krawall auf Bestellung?

Gegen 12:30 h sammelte sich der Zug der übrigen griechischen Gewerkschaften, während sich der Platz selbst mit "empörten Bürgern" füllte. Die Empörten, denen parteipolitische Aktivitäten ein Gräuel sind, wollten Krawallmacher bereits im Vorfeld isolieren. Ein vielköpfiges Team von eigenen Ordnern sollte eine Vermischung mit Anarchisten, die üblicherweise mit dem Zug der GSEE-Gewerkschaft auftauchen, ausgrenzen. Auch die GSEE möchte heute erneut marschieren.

Bild: W. Aswestopoulos

Zu Anfang schien die Friedensinitiative zu gelingen. Anarchisten standen friedlich und unvermummt neben nationalistisch gesinnten Zeitgenossen. Die einen sangen die Nationalhymne, wedelten mit griechischen Fahnen und gaben patriotische Sprüche von sich, während die anderen unter rotschwarzen Fahnen die Anarchie als Lösung des Übels beworben. Die gemeinsame Demo gegen die allseits verhasste Regierung klappte. Es kam auch nicht zum Streit zwischen den "Patrioten" und einigen Antirassismusdemonstranten. Zwar regten sich ein paar ältere Damen darüber auf, dass illegal eingewanderte Schwarzafrikaner kurzfristig ein Minikonzert gaben. "Hast Du eine Aufenthaltserlaubnis?", fragten sie, aber keiner kümmerte sich.

Kurz nach halbdrei Uhr änderte sich das Bild. Ein paar jugendliche, vermummte Autonome waren mit einer Einsatzpolizeieinheit am unteren Teil des Platzes aneinander geraten. Ein Molotowcocktail flog auf einen Elektronikladen. Innerhalb kürzester Zeit ballten sich Uniformierte dort und warfen große Mengen an Tränengas- sowie Blendgranaten. Wie aus dem Nichts tauchten weitere Einheiten auf und provozierten die übrigen Demonstranten mit Tränengas und hoher Gewaltbereitschaft immer mehr. Auch hier ergab sich eine unfreiwillige Komik dadurch, dass die meisten Kamerateams kurzfristig in Schneideräumen verschwunden waren. Die Mittagssendung musste raus.

Jagdszenen in Athen

Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich das Athener Zentrum in ein Schlachtfeld. Steine flogen von allen Seiten, die provisorisch errichteten Absperrungsgatter rund ums Parlamentsgebäude wurden umgeklappt. Die Polizei antwortete wie üblich mitexzessiven Tränengasattacken gegen alles, was sich bewegte.

Bild: W. Aswestopoulos

Offensichtlich leidet unter der Finanzkrise und den Dauerdemonstrationen auch der Ausrüstungspark der Einsatzpolizei. Mehrfach wurden Granaten aufgefunden, die ihr Ablaufdatum bereits überschritten hatten. Den Rekord hielt eine CS-Granate, die noch aus der Zeit vor der Euro-Einführung stammte. Im Juni 2000 war sie abgelaufen.

Solche Tränengasgranaten versprühen kein Aerosol. Sie sind nach dem Knall zunächst wirkungslos. Jedoch bildet sich um die Explosionsstelle herum eine Pulveransammlung, die beim nächsten Windstoß die Reizstoffpartikel schlicht in der gesamten Umgebung verteilt. Aus diesem Grund wuschen "empörte Bürger" den Platz regelmäßig. Da die meisten Hydranten oder öffentlichen Wasserleitungen zur Vertreibung der in der siebenten Woche andauernden Platzbesetzung bereits abgestellt wurden, bildeten die Menschen Ketten und transportierten das rettende Nass Flaschenweise.

Tränengas mit Ablaufdatum 2000. Bild: W. Aswestopoulos

Fehlende Wasserspender erwiesen sich in einer anderen Situation fatal. Jugendliche hatten kurzerhand zwei WiFi-Vans als Opfer auserkoren. Sie hatten die Fahrzeuge nahezu unbemerkt geöffnet, Handbremsen gelöst und einen Molotowcocktail platziert. Der erste brennende Kleinbus rollte gegen einen Kiosk, der kurzerhand geplündert wurde. Löschen konnte niemand. Das Durchkommen der Feuerwehr wurde durch polizeiliche Operationen erschwert. Die Einsatzpolizisten warfen dummerweise immer dorthin Tränengas, wo die im Kern friedfertige Menschenmenge ausweichen wollte, um den Löschfahrzeugen eine Gasse zu bilden.

Bild: W. Aswestopoulos

Eine Stunde nach dem ersten erwischte es den zweiten Funkübertragungswagen. Hier war die Feuerwehr schneller, wurde aber mit Tränengaswürfen am Löschen gehindert. Es gab zahlreiche Verletzte, die teilweise mit ernster Atemnot und Platzwunden nicht versorgt werden konnten.

Verletzt wurden aber auch Polizisten und Journalisten. Für Journalisten ergibt sich in Athen eine doppelte Gefahr. Sie werden sie oft von den "Empörten" als "Streuner, Verräter, Journalisten" beschimpft. Anarchisten möchten nicht gern fotografiert und gefilmt werden. Sie reagieren besonders unwirsch, wenn man ihre Forderung ignoriert. Schließlich lassen die meistgehassten Platzakteure, die Polizisten, mit Vorliebe ihren Frust an den zweitgehassten Mitspielern im Demonstrationstheater aus. Wird ein verletzter Polizist gefilmt, dann reagieren die übrigen nach dem von Anarchisten bekannten Muster.

Gegen acht Uhr legte sich der Spuk. Ein Konzert namhafter griechischer Musiker stand an. Der frisch gereinigte Platz bot eine Bühne und das gesamte Ambiente glich eher einem Volksfest als einer Demonstration. Kurz vor dem Konzertende besann sich die Einsatzpolizei ihrer eigentlichen Aufgabe und warf erneut Tränengas in die Menschenmenge.

So gestärkt und trainiert sieht Athen den Abstimmungstagen entgegen. Heute wird über das Kerngesetz abgestimmt, am Donnerstag sind die Einzelheiten, das Durchführungsregelwerk, auf der Tagesordnung. Der Ausgang des Dramas erscheint offener den je. Experten haben errechnet, dass mit der aufgrund des Kaputtsparens zu erwartenden Rezessionsverstärkung spätestens im Herbst die Lichter erneut ausgehen. Dann wird ein weiteres "Spargesetz" samt neuen Krediten fällig.