Die Tausend Plateaus der Einsamkeit

Musik und Schönheit: die erotische Murakami-Verfilmung "Naokos Lächeln"

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Eine erotische Dreiecksgeschichte zur Zeit der Studentenunruhen von 1968, eine Tokioter Studentenliebe und ein Film über emotionale Wunden, die nicht heilen können - das alles ist "Noruwei no mori" oder "Norwegian Wood", wie der Roman von Haruki Murakami, der bei uns "Naokos Lächeln" heißt, im Original betitelt ist. Mit diesem Werk wurde Murakami bekannt, jetzt hat es der in Paris lebende Vietnamese Tran Anh Hung ("Der Duft der grünen Papaya", "Cyclo") perfekt verfilmt - eine melancholische Etüde über Einsamkeit.

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Ein paar Hippies sitzen am Lagerfeuer, eine junge Frau hat zur Gitarre gegriffen und singt den Song "Norwegian Wood" von den Beatles. Da ist dieser Film schon 46 Minuten alt, und die Szenerie eigentlich längst nicht so gelassen, sondern viel angespannter, als sie wirkt. Am nächsten Morgen wird Watanabe Toru, der 19-jährige Held dieses Films, das von ihm angebetete Mädchen namens Naoko bei einem Spaziergang in den Bergen bei Kyoto zum letzten Mal sehen. Von da an wird ihn ihr Lächeln durch sein weiteres Leben begleiten und eben dieses Lied der Beatles. "Diese Melodie macht mich manchmal so traurig", sagte Naoko über ihr Lieblingslied "Norwegian Wood", "Ich weiß nicht, warum, aber ich stelle mir vor, ich würde in einem dunklen Wald umherirren..."

"Norwegian Wood" heißt im Original auch der Roman von Haruki Murakami, der bei uns "Naokos Lächeln" heißt. In diesem Roman kondensiert der japanische Kultschriftsteller ein ganzes Leben in einer Melodie und in den Zeilen eines Lieds von John Lennon und Paul McCartney. Es geht darin natürlich um die Liebe, eine Liebe, die sich verfehlt und die verflogen ist.

Japan 1968. Die Studenten demonstrieren auch hier auf der Straße, schütteln ihn ab, den Muff von tausend Jahren und dabei helfen ihnen die tausend Schallplatten der Musikcharts jenes Jahrzehnts. Toru Watanabe interessiert sich gar nicht für die Studentenproteste, die überall stattfinden - sein Leben ist aus einem ganz anderen Grund in Aufruhr.

Haruki Murakami ist Jahrgang 1949, war 1968 also 19 Jahre alt, genau wie sein Romanheld, und gehört damit zu jener ersten japanischen Nachkriegs-Generation, die nur noch die Folgen der Kriegsniederlage des Kaiserreichs kennt, zu der neben Trümmern und atomarem Fallout auch die amerikanische Besatzung gehört, und das was sie mitbringt: Zigaretten, Hollywood-Filme, Schallplatten mit Jazz, Rock und Pop und Detektiv-Stories und natürlich die vielen Widersprüche, die zur Popkultur selbstverständlich dazugehören. Die tausend Schallplatten sind wie die tausend Plateaus der Erkenntnis.

Auch davon handelt diese autobiographisch geprägte Geschichte: Von einer Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung, die im 20 Jahrhundert ohnegleichen ist. Vom morbiden Nachkriegs-Japan und dem Trost, den Popkultur spendet, dem ganz persönlichen Befreiungspotential von Musik und Schönheit.

Denn man kann die Geschichte dieses Films auf zweierlei Art erzählen: Einerseits handelt sie von drei Schulfreunden, von denen einer sich noch zur Schulzeit umbringt, wodurch er das Leben der beiden anderen für lange Zeit so schwer beschädigt, sodass sie selbst, in jahrelange Trauerarbeit verstrickt, kaum leben können. Und zugleich geht es gerade um die Kunst des Überlebens und um einen Mann zwischen drei Frauen.

Femme Fatale und Verhängnis

"Naokos Lächeln" ist die überaus erotische Dreiecksgeschichte einer Tokioter Studentenliebe und eine Etüde über Einsamkeit. Ein Film, der von einem Windstoß erzählt, der durch ein Kleid fährt, von Regen im Haar, Sonnenlicht auf der Haut, von der Farbe der Blumen und der Form der Autos, von vielen Lieben, die sich verpassen oder einfach nicht erfüllen und von mindestens einer, die gelingt.

Denn Watanabe trifft nicht nur Naoko, sondern auch Midori. Grün bedeutet ihr Name, wie die Hoffnung. Sie liebt Euripides, ist aber eine weniger tragische, sondern eine lässige, pragmatische, also absolut moderne Figur. Die sprühende Midori verkörpert das Leben und die Zukunft, Humor und Sex. Naoko dagegen steht für Tristesse, Depression, Drama und Schmerz. Sie ist auch eine Femme Fatale, die für den Mann, der sie liebt, Verhängnis bedeutet.

Man erinnert sich auch an Dostojewskis "Der Idiot", in dem ein Mann ebenfalls zwischen zwei Frauen wählen muss, und instinktiv dem Verhängnis zuneigt. Der Wind braust, der Regen rauscht, die Kamera streift über wogende Wiesen: Die Liebe dauert eben manchmal nicht länger als einen Augenblick.

Verfilmt hat das Ganze der Vietnamese Tran Anh Hung, der vor Jahren mit "Der Duft der grünen Papaya" einen der schönsten Kinofilme des Jahrzehnts drehte. Auch hier gelingt ihm wieder wunderbares, elegisches, schmerzhaft schönes Kino - und kurzum einer der besten Filme dieses Jahres.

In weichgezeichneten, schwingenden, aber niemals kitschigen Bildern von Wing Kar-wai-Kameramann Mark Li Ping Bing zur Musik von "Radiohead"-Mitglied Jonny Greenwood zeigt Tran Anh Hung, das jeder Ort seinen Moment hat, seine Erinnerungen - und Musik ist einer der besten Wege, uns in die verlorene Zeit zurück zu führen, ohne die Vergangenheit je wirklich zurückzubringen. Trotzdem kann Schönheit, kann die Musik und das Kino Trost spenden und natürlich auch Erkenntnis.

Der Verleihtitel "Naokos Lächeln" ist beliebig, aber verständlich, denn das Buch wurde bei uns unter dem gleichen Titel bekannt. Deutschland ist das einzige Land der Welt, wo man offenbar dem Publikum nicht zutraut, einen Beatles-Song zu erkennen, und die Vielschichtigkeit des Originaltitels richtig zu verstehen und zuzuordnen.

Denn nach jenem Abend und dem Beatles-Lied am Feuer geht der Film noch über eine Stunde weiter, und das ist keine Sekunde zu lang - eher wünschte man sich, er würde noch viel länger dauern. Am Ende ist Watanabe Naoko dann auch ein wenig losgeworden und frei geworden für Midori.