Es sind keine 364 Euro, Stupid

Das sozio-kulturelle Existenzminimum entspricht nicht dem ALG-II-Regelsatz, sondern liegt darunter

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Ein menschenwürdiges Existenzminimum

In seinem Urteilsspruch zu den Regelsätzen in Bezug auf ALG II hat das BVerfG geurteilt:

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung.

Zwar haben die Karlsruher Richter auch mitgeteilt, dass sie die Regelsätze als nicht evident unzureichend ansehen, doch haben sie mit den vorgenannten Sätzen auch der Sanktionspraxis, die es möglich macht, sowohl den Regelsatz als auch die Kosten der Unterkunft und die Sozialversicherungsleistungen bis zu 0 Euro zu senken, rein rechtlich einen Riegel vorgeschoben. Denn ein Platz im Obdachlosenasyl sowie Essen von der Heilsarmee mag manchem noch als „physisches Existenzminimum“ in Frage kommen, doch die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben dürfte zum Nulltarif kaum möglich sein.

Auch wenn es sicher Fälle gibt, in denen der fitte ALG-II-Empfänger sich spaziergehend zum nächsten Museum mit kostenfreien Angeboten bewegt, sich der nächste beim kostenfreien Internetangebot von NGO XYZ bedient, so ist ALG II eine Pauschalierung, d.h. sie muss auf alle angewandt werden, auf den topfitten 21-jährigen marathongestählten Herrn genauso wie auf die 55-Jährige mit Gicht oder Ostheoporose. Die wenigen Mehrbedarfsregelungen, die durch den Urteilsspruch aus Karlsruhe nun möglich sind, sind kein Ausgleich dafür, dass das Prinzip von ALG II eben dieses ist: Gleichbehandlung aller, egal wie alt, qualifiziert, gesundheitlich (psychisch und physisch) fit ...

Da aber der Urteilsspruch nicht die Höhe der Regelleistung betraf, ist die Frage, ob die derzeitigen 364 Euro das sozio-kulturelle Existenzminimum darstellen. Da Sanktionen weiterhin angewandt werden, ist der derzeitige Sachstand eher: Nein. Diesbezüglich sind bereits Klagen anhängig, doch solange es möglich ist, die Zahlungen an ALG-II-Empfänger stark zu kürzen bzw. ganz einzustellen und höchstens noch Essenmarken auszugeben, bleibt offen, wo hier ein soziokulturelles Existenzminimum zu finden wäre.

Spare in der … ja, wann eigentlich?

Doch auch unabhängig von der Sanktionspraxis ist die Annahme, dass es sich bei den 364 Euro, die ein ALG-II-Empfänger monatlich erhält (Regelsatz Alleinstehender), um Einnahmen handelt, die er jeden Monat erhält (und insofern auch frei ausgeben kann) irreführend. Dies wird oft in Verbindung mit der Annahme gebracht, dass es für Renovierungen, Anschaffung oder Reparaturen von Elektrogeräten etc. weitergehende Leistungen seitens der Leistungsträger gibt.

Tatsächlich aber sind in den Regelsätzen für Erwachsene Ansparbeträge enthalten, was die Bundesagentur für Arbeit bestätigt, wobei sie die Höhe der Ansparbeträge nicht beziffert. Dies bedeutet für den ALG-II-Empfänger, dass er quasi verpflichtet ist, monatlich von seinem Regelsatz auch noch Geld beiseite zu legen, um im Falle der Reparaturen etc. diese aus eigenem Einkommen zu bestreiten. Ist ihm dies nicht möglich, so gibt es die Chance auf ein Darlehen, welches dann durch den Leistungsträger direkt vom Regelsatz in monatlichen Raten abgezogen wird.

Eine Einbehaltung des Betrages im Vorfeld, z.B. wenn der Leistungsempfänger sich unwirtschaftlich verhält, ist laut Bundesagentur für Arbeit nicht vorgesehen:

Da monatlich im Regelsatz ja Aufwendungen für weiße Ware, Bekleidung, Kultur o.ä. vorgesehen ist, man sich aber nicht jeden Monat neue Kleidung oder eine Waschmaschine kauft, sollte man sich einen gewissen Betrag dafür zurücklegen. Wie jeder mit seinem Geld haushaltet, ist aber jedem selbst überlassen. Auf keinen Fall überwacht das Jobcenter, ob tatsächlich angespart wird oder behält gar irgendwelches Geld ein.

(Antwort der Bundesagentur für Arbeit auf die Frage zum Ansparbetrag innerhalb des Regelsatzes ALG II)

Um die Dimensionen dieser Entscheidung zu bemerken, lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf die Regelsätze zu werfen. So fehlt beispielsweise im Referentenentwurf zu den neuen Regelsätzen der Bereich „Kühlschränke, Kühltruhe, Gefrierschränke“ ebenso wie der Bereich „Waschmaschinen, Trockner, Geschirrspüler“ usw., während für die „sonstigen großen Haushaltsgeräte“ monatlich 1,44 Euro und für die kleineren Haushaltsgeräte ein Betrag in Höhe von monatlich 1,62 Euro festgesetzt wurde. Auch die Reparaturen an Haushaltsgeräten werden zwar mit 100% berücksichtigt, da sich aber in den Referenzmonaten solcherlei Ausgaben nicht ergaben, steht auch hier ein Betrag in Höhe von 0,00 Euro. Der Gesamtbereich Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände schlägt mit 27,41 Euro zu Buche.

Für Bekleidung (einschließlich Schuhe, Reinigung etc.1) sind monatlich 30,40 Euro veranschlagt worden, für „Freizeit, Unterhaltung und Kultur“ wurden 39,96 Euro genehmigt. In diesem Posten sind Fernseher, Bücher, Veranstaltungen etc. gleichermaßen enthalten. Die Reparaturen schlagen hier mit 0,48 Euro monatlich zu Buche.

Würde man also die Reparaturkosten tatsächlich zur Seite legen, so ergäbe sich im vorliegenden Fall ein Betrag in Höhe von 5,76 Euro pro Jahr. Aber die BA ist (ebenso wie die ArGen) der Meinung, dass sich ja auch aus den anderen Beträgen noch Ansparmöglichkeiten ergeben. Egal wie man diese Ansicht bewertet – Tatsache ist, dass es sich bei den 364 Euro (bzw. bei den Regelsätzen für Erwachsene im Allgemeinen) nicht um eine Leistung handelt, die monatlich komplett ausgegeben werden kann, sofern man nicht riskieren möchte, plötzlich ohne Waschmaschine usw. zu sein.

Die Argumentation, dass auch andere Menschen Geld ansparen müssen, um für Reparaturen etc. gewappnet zu sein, ist zwar einleuchtend, doch lässt sie außer Acht, dass die Berechnung des Regelsatzes, die nun dafür genutzt wird, die Ansparbeträge zu rechtfertigen, für manche Bereiche gar keine Berechnungsgrundlage bietet. Inwiefern sich dies mit dem Urteil der Verfassungsrichter verträgt, werden erneut die Richter entscheiden müssen.

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