Phantomdebatten im Dienste der Lohnsenkung

Der Fachkräftemangel wird zum Schreckgespenst des deutschen Arbeitsmarkts

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CDU/CSU und FDP, Arbeitgeber und Gewerkschaften können sich selten auf Einschätzungen und Zielvorgaben einigen. Doch wenn es um das vermeintliche Defizit an hochqualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geht, reicht es sogar für eine Gemeinsame Erklärung, die der Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland dienen soll.

Am 22. Juni einigten sich die Verhandlungspartner – zunächst selbstredend nur grundsätzlich – auf ein Konzept, das die "inländischen Potenziale bestmöglich ausschöpft, fördert, ihre besonderen Bedürfnisse berücksichtigt sowie präventiv tätig wird".

Plötzlich und unerwartet ringen die selbsternannten Schutzpatrone des deutschen Arbeitsmarkts um "Potenziale von Frauen", "Kompetenzen von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern", ein "hochwertiges, durchlässiges und möglichst frühzeitig ansetzendes Bildungssystem", das "Potenzial der Arbeitslosen", die "berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen" oder die "Potenziale einer qualifizierten Zuwanderung und von bereits im Land lebenden Menschen mit Migrationshintergrund".

Bis zu Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich die Schreckensvision herumgesprochen, dass in nur 15 Jahren sage und schreibe 6,5 Millionen Arbeitskräfte weniger zur Verfügung stehen könnten. "Wenn wir nichts tun", warnt sie, aber genau zu diesem Zweck ist die Bundeskanzlerin ja gewählt worden.

Die Vorrangprüfung für Elektroingenieure, für Ärzte und für Ingenieure im Maschinenbau wird aufgehoben. Wir werden weitere Schritte folgen lassen, um gezielte Zuwanderung zu ermöglichen. Wir sagen aber auch: Wir laden Fachkräfte gerade aus dem europäischen Ausland dazu ein, bei uns tätig zu sein. Es gibt viele Länder, in denen es ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit gibt, und wir haben einen freien europäischen Arbeitsmarkt.

Angela Merkel, 22. Juni 2011

Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) glaubt, "dass Deutschland allein im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich 140.000 Fachkräfte fehlen". Die Wirtschaft soll deshalb eine Schlüsselrolle spielen, um Deutschland vor einem Arbeitsmarkt ohne geeignete Arbeitskräfte zu retten. Schließlich gehe es darum, das Wachstum, den Dreh- und Angelpunkt der sozialen Marktwirtschaft, "auch für die Zukunft sichern zu können".

Die Drohkulisse

Die Debatte um den schon bestehenden oder noch zu erwartenden Fachkräftemangel in Deutschland hat in der jüngsten Vergangenheit hysterische Dimensionen angenommen, die rund drei Millionen registrierte Arbeitslose und ein Billiglohnsektor mit gut sechs Millionen Beschäftigten offenbar nicht ausfüllen können – oder sollen. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt rechnet mit "Wachstums- und Wohlstandsverlusten", die Deutschland im "globalen Wettbewerb um die klügsten Köpfe" auf die Verliererstraße bringen könnten.

Allein im ökonomischen Vorzeigeland Bayern, so warnt eine Studie der "Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V.", fehlen schon im Jahr 2015 alles in allem 520.000 Arbeitskräfte. 2020 sollen es bereits 1,1 Millionen sein, und wo genau die Beschäftigten qua Abwesenheit an der Lebensader des Systems nagen, ist ebenfalls schon bekannt.

Das Gesundheitswesen ist ein veritables Problem, Ähnliches gilt für den Bereich der MINT-Berufe. Sprich: Die fehlenden Mathematiker, Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker werden das schöne Bayern in absehbarer Zeit an den Rand des ökonomischen Ruins drängen.

"Wenn wir nichts tun" – respektive: Wenn die diversen Aktivierungs- und Förderprogramme nicht zum Erfolg führen, die den bayerischen Arbeitgeberverbänden nach Auskunft der Dachvereinigung bereits 135 Millionen Euro wert waren. Der Erfolg scheint sich in engen Grenzen zu halten, aber bis 2013 sollen noch einmal 40 Millionen investiert werden. Mit ihren Befürchtungen steht die bayerische Wirtschaft nicht allein.

Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, bemüht Bild, um die Dramatik öffentlich zu vervielfältigen. Deutschland braucht 200.000 qualifizierte Zuwanderer pro Jahr, meint Weise. Ansonsten drohe die Abwanderung vieler Firmen, die sich für Länder mit einem ausreichenden Fachkräftepotenzial entscheiden könnten – "z.B. Indien".

Dahin will der Präsident des "Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste" (bpa) erklärtermaßen nicht, doch den Fachkräftemangel beurteilt Bernd Meurer noch weitaus "dramatischer" als BA-Chef Weise:

Bereits heute fehlen uns zehntausende an Pflegefachkräften, von denen wir in den kommenden zehn Jahren noch mindestens 288.000 zusätzliche benötigen. Der Fachkräftemangel ist wesentlich dramatischer, als der BA-Chef in BILD zugibt. Wenn wir heute nicht handeln, stehen wir in wenigen Jahren vor einer Katastrophe.

Bernd Meurer, 4. Juli 2011

Der deutschen Linken ist das gerade recht. Hat doch der Notstand das kapitalistische System vielerorts bereits zum Erliegen gebracht. "Niemand kann mehr eine Lokomotive reparieren, einen Zahn extrahieren oder nach Nachrichten aus dem Uterus schauen", jubelt Mathias Wedel und prophezeit eine ganz neue Form des Arbeits- und Klassenkampfes.

Vor den Arbeitsämtern fließt Blut. Manager und Personalchefs, die in ihren Autos oder auf dem Bürgersteig übernachten, fallen arglose Kunden an, wenn sie die Behörde betreten wollen. Es ist ihnen streng verboten, innerhalb des Gebäudes aggressiv um Arbeitskräfte zu werben. Deshalb spielt sich alles auf der Straße ab: Arbeitslose Tierpfleger, Busfahrer, Webdesigner und Sushi-Köchinnen werden an Ort und Stelle mit Bargeld oder Flugtickets auf die Osterinseln beworfen. Im Extremfall wird ihnen sogar Tariflohn versprochen!

Mathias Wedel

Mehr Arbeitslose als offene Stellen

Dass es so schlimm nicht kommen wird, liegt vermutlich daran, dass der viel diskutierte Fachkräftemangel zu den politischen Parolen gehört, die in der gesellschaftlichen Realität nur bedingt eine Entsprechung finden.

Im Mai 2011 waren nach Berechnungen des "Vereins Deutscher Ingenieure" 21.400 Ingenieure arbeitslos. Gleichzeitig konnten die Arbeitgeber angeblich 93.900 Stellen nicht besetzen. Der Verband erkennt darin den "historischen Höchststand" der sogenannten "Ingenieurlücke".

Doch über die Berechnungsgrundlage, mit der die vermeintlich offenen Stellen ermittelt werden, gibt es ebenso geteilte Meinungen wie über die Frage, ob sie tatsächlich angeboten werden. Das Rätsel der vorwiegend älteren Arbeitslosen, die trotz dringenden Bedarfs nur selten eine neue Chance bekommen, ist ebenfalls ungeklärt. Gezielte Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen scheinen für die betreffenden Arbeitgeber jedenfalls nicht besonders interessant zu sein.

Besteht ein problematischer Fachkräftemangel also vielleicht doch nur bei Ärzten, Vulkaniseuren und Elektroinstallateuren, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im vergangenen Jahr behauptete?

Für einen aktuell erheblichen Fachkräftemangel sind in Deutschland kaum Anzeichen zu erkennen. Dies ergibt sich sowohl hinsichtlich der aktuellen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt als auch hinsichtlich der Situation bei der akademischen und betrieblichen beruflichen Ausbildung. Zudem sind die Löhne – ein Indikator für Knappheiten auf dem Markt – bei den Fachkräften in den letzten Jahren kaum gestiegen. Auch in den nächsten fünf Jahren ist angesichts stark gestiegener Studentenzahlen noch nicht damit zu rechnen, dass in technisch-naturwissenschaftlichen Berufsfeldern ein starker Engpass beim Arbeitskräfteangebot eintritt.

Karl Brenke: Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht (DIW-Studie 2010)

Davon abgesehen sei die Zahl der Arbeitslosen "bei fast allen Fachkräften" höher als die Zahl der offenen Stellen, so das DIW.

"Zementierung des Lohndumping"

Der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup und der Sozialwissenschaftler Mohssen Massarrat bestreiten in einer aktuellen Stellungnahme nicht grundsätzlich, dass sich der deutsche Arbeitsmarkt mit einem "vorübergehenden Fachkräftemangel" auseinandersetzen muss, werten diesen Umstand allerdings zunächst als "Indiz für die vernachlässigte Aus- und Weiterbildung in der Vergangenheit". Gesamtgesellschaftlich ständen jeder offenen Stelle acht registrierte Arbeitslose gegenüber, rechnen Bontrup und Massarrat vor.

Die Mär vom Fachkräftemangel dient also offensichtlich dazu, die Wirklichkeit auf den Kopf zu stellen. Nach wie vor sind nach offiziellen Angaben ca. 3 Millionen Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen. Hinzu kommen 1,7 Millionen nicht registrierte Arbeitslose und 2 Millionen unfreiwillige Teilzeitbeschäftigte, die 1 Million Vollzeitjobs entsprechen. Auch die Zahl der atypischen Beschäftigung, wie Leiharbeiter, Minijobber und befristet Beschäftigter, ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Nicht unwichtig ist, dass ferner der Lohnniedrigsektor seit 1995 um 2 Millionen auf 6,5 Millionen und damit auf 22 Prozent aller Beschäftigten gestiegen ist. Dabei haben 79,5 Prozent von ihnen eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen.

Heinz-Josef Bontrup/Mohssen Massarrat: Stellungnahme zum angeblichen "Fachkräftemangel" und zur Entscheidung der Bundesregierung, Juni 2011

Die beiden Wissenschaftler konstatieren keinen Fachkräfte-, sondern einen Arbeitsplatz- und Ausbildungsplatzmangel, der unter anderem dazu geführt habe, dass der Anteil der 20-29-Jährigen ohne Berufsausbildung auf 17 Prozent gestiegen sei. Unter diesen Umständen diene die Debatte nur dem Zweck, eine "verschärfte Konkurrenz zwischen ausländischen und inländischen Fachkräften zu rechtfertigen" und das tatsächliche Überangebot mit Hilfe billiger Fachkräfte aus außereuropäischen Ländern, auch in den nächsten Jahren zu erhalten.

Was für Bontrup und Massarrat eine "Zementierung des Lohndumpings" bedeutet, ist für Martin Kannegiesser ein Ausweg aus dem Dilemma. Es wäre doch sinnvoll, den so dringend benötigten Spezialisten nicht den Nachweis hoher Verdienste zuzumuten, meint der Gesamtmetall-Präsident und weiß sich darin mit Arbeitsministerin Ursula von der Leyen einig. Derzeit liegt die Einkommensgrenze für ausländische Experten bei 66.000 Euro. In Kürze könnten es nur noch 40.000 sein.

Sie wissen, dass ich der Meinung bin, dass wir diese Gehaltsgrenze im internationalen Vergleich und insbesondere im europäischen Vergleich harmonisieren müssen - das heißt, dass wir sie auch an das angleichen müssen, was die anderen Länder als Schwelle anbieten -, damit wir uns im globalen Arbeitsmarkt nicht schlechterstellen, sondern genauso wie die anderen auch um die Spitzenkräfte dieser Welt werben können.

Ursula von der Leyen, 22. Juni 2011

"Das fordern die Arbeitgeber schon lange", sagt Martin Kannegiesser. Dabei ist es der Bundeskanzlerin angeblich gar nicht recht, "dass wir unsere Fachkräfte von außen holen, nur um das Lohnniveau zu drücken".