Napoleons Wiedergänger

Der Weltgeist reitet durch London und hat seinen Vollstrecker gefunden

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Ist Julian Assange ein weiterer Agent, den sich der Hegelsche „Weltgeist“ auserwählt hat? Ist der Australier gar der „Napoléon“ des Informationszeitalters? – Slavoj Zizek zumindest scheint davon restlos überzeugt zu sein. Bei einer Werbeveranstaltung für die Plattform machte der slowenische Kulturtheoretiker das zusammen mit dem WikiLeaks-Gründer im überfüllten Troxy Theatre in Eastern London jedenfalls deutlich.

WikiLeaks, so Zizek, agiere außerhalb der Ordnung, die die liberaldemokratische Öffentlichkeit den Journalisten im Allgemeinen setzt. Die Organísation unterwerfe sich auch nicht den Regeln, die der investigative Journalismus verfolge. In Assange, so der alles andere als mundfaule Philosoph mit einem großen Lenin-Bild auf dem T-Shirt, sehe er einen „Terroristen“, einen, der die Informations- und Kommunikationsflüsse der Weltgesellschaft störe, mit der Veröffentlichung geheimer Depeschen unterlaufe und die des „zivilen Ungehorsams“ gleich dazu.

Beliebig füllbar

Nun ist das mit dem „Weltgeist“ im Allgemeinen und mit „Napoléon“ im Besonderen so eine Sache. Brachte der Franzose wirklich die „Freiheit“, die der deutsche Philosoph damals vor über zweihundert Jahren durch die Wälder Thüringens und Jena reiten sah? Hegels Herz mag dabei heftig gebebt und geschlagen haben, aber verwirklichte Preußen später tatsächlich jene Art von „Freiheit“ und „Sittlichkeit“, die er, nachdem er dessen philosophischer Lautsprecher geworden war, in dem Staat verwirklicht sehen wollte?

Figur und Metapher haben bekanntlich den Vorteil, dass sie frei von Inhalt sind. In seine Fußstapfen kann im Prinzip jeder politische Führer treten, der mächtige Armeen im Rücken weiß, eine passende Ideologie im Rucksack hat und große politische Ambitionen verfolgt. So hat etwa Alexandre Kojève (vgl. Dieeule der Minerva) in Stalin den Vollstrecker des „Weltgeistes“ gesehen. Später hat man auch Adolf Hitler oder auch Pol Pot dazu gemacht. Und wer weiß, vielleicht erhob auch George Bush kurzzeitig im kleinen Kreis Anspruch darauf.

Vertrackte Metapher

Auf den Mord, die Lager und die Millionen Opfer, die das gefordert hat, ist man erst nach dem Tod des Führers und später noch bei Stalin aufmerksam geworden. Die Blutlachen, die der Franzose bei seinem Parforceritt durch Europa am Wegesrand hinterlassen hat, hatte man zu diesem Zeitpunkt bereits vergessen. In Frankreich und auch anderswo in Europa gilt er trotzdem und trotz seiner zweimaligen Verbannung als Held, großer Feldherr und ehrenwerte Person. Noch heute wird hierzulande mehr über den Code Civil debattiert, die er Deutschland gebracht hat, als über die verbrannte Erde, die der Eroberer hierzulande und in Europa zurückgelassen hat.

Julian Assange. Foto: Espen Moe. Lizenz: CC-BY 2.0.

Gleichwohl ist die Idee vom „Weltgeist“ natürlich eine vertrackte, verschlagene und hinterhältige zugleich. Das Bild, das er transportiert, hält sich bekanntlich nicht an die Vorstellungen, die die Subjekte sich von ihm machen. Seine Motive, Pläne und Pfade sind so intransparent wie die des christlichen Gottes auch. Sie setzen sich immer hinter dem Rücken der Akteure durch, dummerweise meist auch noch gegen ihren erklärten Willen und ihre vermeintlich besten Absichten. Letztlich sind sie, wenn überhaupt, nur im Nachhinein erkennbar. Auch und erst recht für den Philosophen. Spätestens mit Hegel weiß man: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der entsprechenden Dämmerung ihren Flug.“ Und zwar dann, wenn die Geschichte sein Urteil gesprochen hat.

Wer wüsste das besser als Hegel selbst. Auch ihm schlug der „Weltgeist“ bekanntlich so manches Schnippchen, dessen Nachwehen und Nachwirken wenigstens noch bis in die Main- und Bankenmetropole reichen.

Dreisprung

Begründet hat Hegel den Freiheitswillen bekanntermaßen mit einer Dreistufentheorie. Zunächst ging es darum, Bewusstsein auszubilden, sich selbst zu behaupten und sich von den Fesseln aller anderen zu befreien. Dieser Akt von „Befreiung“, von „individueller Selbstverwirklichung“, wie man dazu heute Nase rümpfend bisweilen etwas despektierlich über die Postmoderne sagt, wird von der Konkursmasse der Kritischen Theorie, die in Frankfurt/Main verwaltet wird, gern (mit den Worten Isaiah Berlins) als „negative Freiheit“ bezeichnet.

Damit sie ins Positive umschlägt, muss zum bloßen Ich auch ein Wir, nämlich das der Gemeinschaft, hinzutreten, das Subjekt muss sich im Anderen selbst erkennen und bei ihm ankommen, „bei sich im Anderen sein“, wie es bei Hegel etwas hochtrabend heißt. Zu wahrer „Freiheit“ gelangt das Subjekt aber erst, wenn dieses Wir, das Ich ist, und das Ich, das Wir ist, zusammenfallen und meine Freiheit zugleich die Freiheit aller anderen ist. Die Institution, die diese Freiheit gewährleistet und sicherstellt, ist der Staat. „Der Staat“, so heißt es in Die Philosophie des Rechts, „verkörpert die Wirklichkeit der sittlichen Idee.“

Kommunikativ verflüssigt

Unwillkürlich fragt man sich da natürlich, wie in diese Idee des Staates, das Hegel evoziert und das er als beste aller möglichen Welten verkauft, das Bild vom galoppierenden Zertrümmerer passt, der die alte Werteordnung einfach über den Haufen rennt und eine neue Zeitwende und Epoche ins Leben ruft?

Wenn damals der preußische Staat bereits alle diese Vorgaben erfüllt hat; und wenn zweihundert Jahre danach, die liberale Demokratie, wie wir neulich auf dem Hegel-Kongress der Internationalen-Vereinigung in Stuttgart erfahren haben, diese „Freiheit“ auch verwirklicht, warum brauchen wir dann ständig neue „Reiter“? Zumal die Kritischen Theoretiker ihre „institutionellen Praktiken“ längst nicht mehr als „Beschränkung“ oder „Bedingung“ wahrnehmen, sondern sie als Ausdruck einer fortlaufenden „Kommunikation“ deuten und lesen. Hat es nicht auch mal geheißen, dass damit auch alle Kämpfe, Kriege um Werte, Ideale und Anerkennung verschwänden, weil die Geschichte an ihr Ende gekommen wäre?

Man sieht, nahezu alles hängt bei dieser Denkfigur von der eigenen Perspektive und der interessegeleiteten Betrachtungsweise ab. Mit Hegel, der „Freiheit“ und dem „Weltgeist“ kann man jedenfalls, wie zu zeigen versucht worden ist, neben diversen intellektuellen Spielchen auch viel Schindluder und Schabernack treiben.

Ambivalente Struktur

Gewiss ziehen Aneignung, Teilhabe und Mitbestimmung immer auch Vereinnahmung nach sich. Subjekt heißt, wie wir spätestens seit Michel Foucault wissen, immer auch subjectum, ergo Unterworfener, zu sein. Rasch wird man nolens volens zum Akteur einer Rechts- und Diskursordnung, die man vielleicht so nicht will und haben wollte oder die andere vielleicht für „schlecht“, „verlogen“ und „ungerecht“ halten.

Darum kann Freiheit, die man mal für wichtig und richtig hält und nach außen verteidigt, auch schnell in Unterdrückung und Repression umschlagen. Die „kommunistische Idee“ etwa, in der der Mensch zur Freiheit kommen sollte und immer noch soll, ist mit Leichen und Blutlachen gepflastert.

Slavoj Zizek. Foto: Andy Miah. Lizenz: CC-BY-SA.

So bleibt auch die ambitionierte Politik des WikiLeaks-Gründers letztlich ambivalent. Sind die demokratischen Institutionen, und darum handelt es sich wohl, „kommunikativ“ verflüssigt, wie man in Frankfurt/Main zu glauben meint, dann muss man weder „Kommunikationshoheiten“ brechen noch braucht es fortgesetzter Kämpfe für einen Free Flow Of Information). Denn der ist durch die Kommunikabilität der Institutionen und der Teilhabe an Kommunikationen ja schon gegeben. Sind sie es aber wiederum nicht, dann müssen ihre Flüsse gestört und Intransparenzen öffentlich gemacht werden.

Wer entscheidet?

Doch wo ist da die Grenze? Wer bestimmt oder entscheidet, wann diese verletzt ist und Geheimoperationen und Geheimdepeschen öffentlich gemacht werden müssen? WikiLeaks, der Boulevard oder der Sensationsjournalismus? Gibt es nicht auch so was wie die arcana imperii, eine Staatsräson, die sich mit guten Gründen der Öffentlichkeit, auch der kritischen, entzieht? Hat nicht die Veröffentlichung einer Depesche, ob absichtlich oder nicht, nicht auch schon Kriege ausgelöst?

Und geht es Assange überhaupt darum? Verfolgt er nicht doch, wie seinerzeit auch Napoleon, persönliche Ziele? Geht es ihm nicht vielmehr auch um Ruhm, Prominenz und Aufmerksamkeit? Geht es folglich auch um Eitelkeiten? Hat ihm Zizek mit seiner Äußerung, den „Weltgeist zu verkörpern“, nicht vielleicht einen Bärendienst erwiesen?

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