Was ein guter Anwalt ausmacht

… und wie aus einem vorbestraften Vergewaltiger ein nachweislich Unschuldiger wird

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Nicht nur im amerikanischen, sondern auch im deutschen Rechtssystem hängt extrem viel davon ab, wie gut ein Rechtsanwalt ist. Das beweist auf eindrucksvolle Weise der Fall des nach fünf Jahren Gefängnis wegen erwiesener Unschuld freigesprochenen Biologielehrers Horst A.

Der war 2002 von einer Kollegin beschuldigt worden, sie während der Großen Pause im Biologiesaal-Hinterzimmer einer Reichelsheimer Schule vergewaltigt zu haben. Das, so stellte das Landgericht Kassel letzte Woche fest, ist nachweislich falsch. Eine Erkenntnis, zu der man auch während des ersten Strafverfahrens beim Landgericht Darmstadt hätte kommen können - was A. seinen eigenen Worten nach die "Hölle" und die Entlassung aus dem Schuldienst erspart hätte. Dass dies in Darmstadt nicht gelang, lag unter anderem am prozessführenden Richter und am damaligen Strafverteidiger A.s.

Dass Richter in Deutschland einen Spielraum haben, der problematisch werden kann, ist nicht erst seit Ronald Schill und Manfred Götzl bekannt. Diesen Spielraum nutzte anscheinend auch der Richter Dr. Christoph Trapp, der den ersten Prozess gegen A. führte und bereits durch ein anderes Urteil Aufsehen erregte: Im August letzten Jahres lehnte die Kammer, der er vorsitzt, die Sicherungsverwahrung eines Sexualstraftäter ab, der 61 Tage nach seiner Freilassung erneut zuschlug.

Acht Jahre vorher ließ sich Dr. Trapp möglicherweise (ebenso wie die Staatsanwaltschaft und die Polizei) von den Tränen der damals 36-jährigen Heidi K. unangemessen beeindrucken. Hinzu kam, dass der Angeklagte A. unter seinen Kollegen im Ruf stand, jähzornig und dem Alkohol zugeneigt zu sein. Und so wurde er der Vergewaltigung für schuldig befunden und zu fünf Jahren Haft verurteilt, obwohl es keine neutralen Zeugen gab und sich Heidi K. nach dem angeblichen Tatzeitpunkt gegenüber ihren Kollegen, mit denen sie gleich darauf essen ging, bemerkenswert normal verhielt.

Die Frauenbeauftragte für Lehrkräfte im Odenwald, die Erfahrungen mit K. gemacht hatte, wunderte sich über den Prozessausgang und wandte sich an ihren Bruder Hartmut Lierow, einen Rechtsanwalt aus Berlin, der nach und nach einen immer größer werdenden Justizskandal aufdeckte.

Im ersten Verfahren, so Lierow gegenüber Telepolis, hatte A.s Anwalt (dessen Aufgabe es eigentlich war, Dr. Trapp zu mehr Sorgfalt anzuhalten) keine Tatortbesichtigung erwirkt und sich nicht die Mühe gemacht, Auskünfte an Schulen einzuholen, an denen die Hauptbelastungszeugin früher lehrte. Sonst wäre er schnell darauf gestoßen, dass K. dort unter anderem beschuldigt wird, eine Klassenfahrt sabotiert zu haben, indem sie bei der Jugendherberge anrief, und log, in der Klasse gäbe es einen Meningitisfall. An ihrer Schule soll sie gleichzeitig erzählt haben, es gäbe einen Wasserschaden in der Jugendherberge. Auch der nach dem Urteil des Landgerichts Darmstadt gestellte fünfseitige Antrag auf Revision war Lierows Ansicht nach "schwach" und zeigte viele Punkte nicht auf, weshalb er vom BGH ohne Begründung abgewiesen wurde.

Bei seiner Arbeit für ein Wiederaufnahmeverfahren stieß A.s neuer Berliner Anwalt auf zahlreichen weitere Lügen K.s - darunter ein komatöser Pflegefall, mit dem sie eine Versetzung erreichen wollte, und ein nicht existierendes Kind, das angeblich bei einem Unfall starb. Anderen Kollegen unterstellte die Lehrerin, dass sie sie vergiften wollten.

Das hessische Justizministerium wird sich in Zukunft möglicherweise intensiver mit den Folgen eines Fehlurteils befassen müssen. Foto: Reinhard Dietrich. Lizenz: CC-BY-SA.

Schließlich konnte Lierow so viel für den Beschuldigten ent- und für Heidi K. belastendes Material beibringen, dass sogar die Staatsanwaltschaft einen Freispruch forderte. Auch die Richter am Landgericht Kassel fanden selten klare Worte: Sie meinten, A. sei nicht nur aus Mangel an Beweisen, sondern "nachweislich unschuldig". Die möglicherweise auf seinen Posten spekulierende Hauptbelastungszeugin habe nämlich ein "an sich kaum glaubhaftes Geschehen geschildert" und den Vorfall nicht bloß "von vorne bis hinten erfunden", sondern auch absichtlich gelogen "um berufliche Vorteile zu erzielen".

Die heute 46-jährige K., gegen die nun wegen Freiheitsberaubung ermittelt wird, hatte auf die kritischen Fragen an sie mit einer Aussageverweigerung reagiert. Ihre Anwältin erklärt das Verhalten der Lehrerin mit einer Traumatisierung und will prüfen, ob sie gegen das noch nicht rechtskräftige neue Urteil Berufung einlegt. Der heute 52-jährige Biologielehrer, der seit seiner Entlassung von Hartz IV leben muss, prüft derweil seine Ansprüche gegen das Land Hessen, das ihn mit einer Entschädigung von etwa 20 Euro pro Hafttag abspeisen will. Weil A. sich nicht darauf einlassen wollte, als Gegenleistung für eine vorzeitige Entlassung "Reue" zu zeigen und ein falsches Geständnis abzulegen, musste er die vollen fünf Jahre absitzen.

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