Die essbare Stadt

Gespritzt wird nicht, aber es sieht gut aus und schmeckt auch so. Fundstück in einem Interkulturellen Garten. Bild: Imre Csurcsia

Urbanes Gärtnern bewegt die Stadt zur Landschaft

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Sie zimmern aus Paletten kleine Hochbeete, ziehen Kräuter, die sie in ihrer mediterranen Heimat nicht kannten und säen dafür Okra nördlich der Alpen aus. Sie pflegen ganze Volksparks, werfen zu verkehrsschwachen Zeiten "Saatbomben" auf Straßenbegleitgrün, züchten Pilze in vermoderten Plattenbauen und gehen auch einmal in die Vertikale, an Fenstern und Hauswänden hoch. Friedensreich Hundertwasser hätte seine Freude an ihnen, den "Urbanen Gärtnern".

Sie sind arbeitslos, akademisch oder migrantisch. Sie wollen weder anarchisch noch gutbürgerlich genannt werden. Dafür werden sie von Stiftungen, Forscherinnen und Veröffentlichungen hofiert. Die Bewegung knüpft an eine verloren gegangene Tradition der Allmenden und an aktuelle Landnahmen oder Hausgärten der Armen in südamerikanischen und afrikanischen Städten an.

Noch gibt es Landwirte in der Stadt und in ihrer Nähe. Sie firmieren nicht mehr unter Agro-Industrie, sondern haben sich auf die Direktvermarktung regionaler und saisonaler Produkte und auf ihre Funktionen für Nah-Erholung, "Ökosystemdienstleistungen" wie Grundwasser-Neubldung und Stadtklima-Regulierung sowie Landschaftsgestaltung eingestellt. Die Schneisen und die "Löcher" in der Stadt bilden eine Weite, die, verstärkt durch die Industrie- und Verkehrsbrachen, zur Rekultivierung der postindustriellen Stadt beitragen kann. "Landschaft wird zum Gesetz der Stadtentwicklung", hieß es auf einem Kongress in der Berliner Akademie der Künste, und Rem Koolhaas schrieb: Freiräume strukturieren die Siedlungsentwicklung. Die Stadt ist vom Zwischenraum aus zu denken. Am radikalsten formulierte es Leberecht Migge, einer der Väter der Klein- und Gemeinschaftsgartenbewegung, am Ende des Ersten Weltkriegs: "Schafft Stadtland! Die Städte sollen ihr eigenes Land umarmen."

Neues urbanes Gärtnern und alte städtische Landwirtschaft werden, sofern sie gemeinsame ökologische Ziele haben, unter dem Begriff der "Urbanen Agrikultur" zusammengefasst. Wenn mit dieser Zusammenfassung die Hoffnung auf Selbstversorgung der Städte mit Lebensmiteln steigt, ist von "produktiven Stadtlandschaften" die Rede.

Zunächst haben sich die Chancen auf Selbstversorgung radikal verschlechtert. Als frühe Form einer Kreislaufwirtschaft gab es sie in Berlin bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als Stadtbaurat Hobrecht die Abwässer im Radialsystem auf Rieselfelder vor der Stadt pumpen ließ, wo sie zur zur Bewässerung stickstoffliebender Gemüsepflanzen eingesetzt wurden. Um Berlin wurde ein Kranz von Stadtgütern gebildet, von denen heute nicht viel übrig ist. Mehr landwirtschaftliche Betriebe haben sich in und um München erhalten. Einige bieten Selbsternteflächen als kommunitären Ansatz an. Die Landwirte oder das Gut bereiten die Böden und einen Teil der Erstbepflanzung vor, um sie bis nach der Ernte interessierten "Krautgartlern" zu überlassen.

Gemeinschaftlich soll auch auf der Anbaufläche um einen Siedlungsneubau in Freiham geerntet werden. Die Planer schlagen vor, die Feldfrüchte regelmäßig mit der Straßenbahn zum Viktualienmarkt zu fahren. In Berlin liegt die Betonung auf dem Gärtnern. Außer beim kommunalen Waldbestand, wo die Stadt von Wien übertroffen wird, liegt Berlin bei allen Kennziffern zum begrünten Freiraum vorn. Dem korrespondiert ein Pflegenotstand. "Die Pflege und Erhaltung der Kulturlandschaft, abgekoppelt von der landwirtschaftlichen Produktion, ist auf Dauer unbezahlbar". Damit hat Gabriele Friedrich, Münchner Kommunalreferentin, die strukturellen Bedingungen angeführt, die Berlin zur Hauptstadt kleinräumlicher Gemeinschaftsgärten machen.

Freiraum-Rohlinge

Das Allmende-Kontor auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof ist "Lernort für gärtnerische Freiraumnutzung". Aus gesponserten Paletten oder mitgebrachten Holzresten kann jeder, der kommt, ein kleines Hochbeet eigener Wahl zimmern. Der direkte Kontakt mit dem Erdreich und damit die Frage möglicher Kontaminationen wird vermieden. Die Standorte der einzelnen Beete sind nicht beliebig, sondern werden nach einem Gestaltungsplan der ehrenamtlichen Organisatorinnen zugewiesen.

Das Allmende-Kontor auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Bild: Daniel Wiggers

Vor dem riesigen horizontalen Rund des Flugfeldes wirken die emsig bestellten Holzbeete wie schwimmende Schollen. Der Kontrast wird durch das Fehlen jedweder Umzäunung noch reizvoller, obwohl sich das Kontor auf einem streng umrissenen Pionierfeld der "Tempelhofer Freiheit" befindet.

Der harte Kern von "Ton Steine Gärten", voran Hanns Heim. Bild: Imre Csurcsia

Es kann wie alle anderen Zwischennutzer mit einem auf drei Jahre gesicherten Bestand rechnen. - Im Schatten des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses, einem Fossil der Berliner Besetzer-Szene, erstrecken sich "Ton Steine Gärten". Die Parzelle, die ihren Gründungsmythos einer Besetzung verdankt, ist in kleine Rabatten unterteilt, die von einzelnen oder Gruppen bewirtschaftet werden. Verkrautung wird nicht gleich als Unglück angesehen, ein Vergleich mit der phantasielos angelegten benachbarten öffentlichen Grünfläche ergibt vielmehr einen optischen Punktgewinn für diesen Garten, der wie die meisten das Prädikat "interkulturell" hat.

"Ton Steine Gärten" und das Bethanien-Krankenhaus - mehrere Kreuzberger Legenden sind hier gekreuzt. Bild: Imre Csurcsia

Die Hälfte der Mitglieder stammen aus Migranten-Familien. Die im Bethanien bisher wirkenden Künstler werden nicht als "Pioniere" angesehen, wie es der klassischen Theorie entspricht, sondern bereits als "Gentrifier", die Verachtung für ihren Aufstieg verdienen. Die sozio-kulturellen Verschiebungen im Berliner Stadtland sind heftig. Im Kreuzberger Prinzessinnengarten unweit des Bezirks Mitte werden auf 6.000 qm in mobilen Kübeln, zum Beispiel anderswo abgestaubten Bäckerkisten, Nutzpflanzen gezogen, die zum Verkauf stehen. Den Machern von "Nomadischgrün" ist ein Masterplan fremd. Sie sagen: Wir kuratieren den Garten. Ihr Selbstverständnis ist, jederzeit umziehen zu können.

Nach allen Regeln der Landschaftsarchitektur: Park auf dem Gleisdreieck. Bild: Imre Csurcsia

Es ist kein Zufall, dass Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg, die von Gentrifizierungsschüben erfasst sind, die größte Dichte an Gemeinschafts- und Nachbarschaftgärten aufweisen. Auf dem Kreuzberger Teil des "Gleisdreieck", einer riesigen Verkehrsbrache, befindet sich der Rosenduftgarten. Ihm ist ähnlich wie in Tempelhof eine Sondernutzung, eine Nische im Rahmen des Geländes zugewiesen, das zu einem Stadtpark ausgebaut wird. Eine Gruppe von 25 Frauen gründete 2006 den Interkulturellen Garten. Sie kamen als Flüchtlinge aus Bosnien, nachdem ihre Angehörigen ermordet worden waren oder vermisst sind. Ihre Traumatisierung ist kollektive Erfahrung, und der Garten ist Gruppentherapie.

Im Rahmen des Parks: der Rosenduftgarten. Bild: Imre Csurcsia

Das Saatgut bringen sie aus Bosnien mit, und die Früchte können sie auf traditionellen Kochstellen vor Ort zubereiten. Sie betonen die gute Zusammenarbeit mit der Verwaltung und den Landschaftsarchitekten. Darin unterscheiden sie sich von den deutschstämmigen Altvorderen des neuen Gärtnerns, bei denen es zum guten und unabänderlichen Ton gehört, der Verwaltung bürokratische Hemmnisse, dem Staat gar die Entmündigung kreativen Handelns vorzuwerfen. Migrantinnen, die in Deutschland ihren Abschluss gemacht haben, scheuen sich dagegen nicht, von einer neuen "Bildungsheimat" zu sprechen, die sie hier gefunden haben. Welt verkehrt: Ist den Zugereisten und ihren Nachfahren in den hiesigen Großstädten die Fremde inzwischen vertraut geworden, so wie den Einheimischen das Vertraute, Familie und Gesellschaft, fremd geworden ist?

Streben zum Himmel: die Feuerbohnen des Rosenduftgartens. Bild: Imre Csurcsia

Es macht Spaß, bei den interkulturellen Gartenaktivisten, zu 65% Frauen, hineinzuschnuppern, und der Spaziergänger ist willkommen, sofern er keine Früchte klaut. Der Beweis auf die soziale Nachhaltigkeit ist noch nicht erbracht. Es ist die alte WG-Erfahrung: Soziale, kulturelle und ethnische Differenzen, die in der Gruppe zunächst ausgeblendet werden, tauchen in Form von Mentalitätszwistigkeiten wieder auf, und sei es die Frage, wie mit Alkohol im Grünen umzugehen ist oder wo der Gießplan bleibt. Zickereien und Eifersüchteleien gehören jedoch zum Geschäft, seit es Gärtnerinnen und Gärtner gibt, und die Nachhaltigkeit ist eingebunden in einen größeren Prozess. Sie wird nämlich gar nicht erst angestrebt in der paradoxen Nomadenstadt. Das gewonnene Fleckchen Erde kann ebenso schnell zerrinnen. Es sind "Gärten aus dem Koffer".

Berlin lebt, sofern die Sicht nicht mit Townhouses zugekleistert wird, von einer Ästhetik der Aneignung des "so found". Die geplante Internationale Bauausstellung 2020 hat es in ihr vorläufiges Programm aufgenommen, dass die Raumpioniere vom Tempelhofer Feld in die ganze Stadt ausschwärmen und dort "neue Adressen ausbilden", in Zwischenräumen und Zwischenzeiten. Die urbanen Gärten sind mobile (Frei-)Raumrohlinge. Diese Stadt ist "verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein", schrieb Karl Scheffler schon 1910. Der geltende Stadtmarketing-Slogan müsste abgewandelt werden: be(come) Berlin. Um die Weite der Stadtlandschaft zu erhalten, muss sie mit fließenden Raumprogrammen besetzt werden. Der Ästhetik der Aneignung entspricht eine Ästhetik des Verschwindens.

Garten und Welt

Die Aneignung kann aber auch in ein Besitzpostulat umschlagen. Die Fraktion der Guerilla-Gärtner beruft sich auf den agrarkommunistischen Grundsatz: den Boden denen, die ihn bebauen. Das hat schon in der Französischen Revolution das Bürgertum nicht gehindert, die Herrschaft über eine neue Klasse von Besitzlosen anzutreten. In den kommunalen Verwaltungen Berlins bestehen Ängste, dass diejenigen, die den öffentlichen Grund beackern, sich auf diesen Claims festsetzen. Das könnte zum einen als Privatisierung ausgelegt werden - im Gegensatz zu den Landnahmen in außereuropäischen Armutsregionen, wo die Eigentums-Konzentration großer Latifundien zum Zweck der Subsistenzerhaltung vieler rückgängig gemacht werden soll.

Es könnte zum anderen zur Fragmentierung des Bildes der europäischen Stadt durch Parzellierung beitragen. Aber der Rückgang der Pflegestandards hat die Position der Verwaltung geschwächt, und niemand hat mehr die alleinige Gestaltungshoheit.

Denkmal des unbekannten Gärtners? Am "Pyramidengarten", Neukölln. Bild: Imre Csurcsia

Stadtentwicklung wird mehr und mehr zum nicht vorhersehbaren Resultat von Aushandlungsprozessen zwischen Politik, Bürokratie, Planern und gesellschaftlichen Gruppen. Stadt- und Landschaftsplanung sowie urbane Landwirtschaft haben für sich genommen keinen anhaltenden Wert, wenn sie sich nicht zu einer Ästhetik des Stadtbildes verbinden. Das hieße, Schönes und Nützliches zu verbinden, wie es Fürst Franz in seinem Dessau-Wörlitzer Gartenreich umsetzte. Daran anknüpfend wird in Berlin-Gatow die noch bestehende urbane Landwirtschaft in das landschaftsplanerische Gesamtkonzept integriert.

Doch hat das Nützliche in jener Synthese nur symbolische Bedeutung. Die alte städtische Landwirtschaft trägt immer weniger und das neue urbane Gärtnern fast gar nichts zur Versorgung der Städte bei. Landschaftsarchitekten wissen das. Zwar verwenden sie immer mehr Nutzpflanzen, sei es Mais, Reis oder Miscanthus. Diese lassen sich jedoch ebensogut in Form schneiden wie Ziergehölze. Ihr Nutzwert ist begrenzt. Es sind "Erinnerungskulturen".

Der Annexionismus der urbanen Gärtner fügt sich in die plurale Demokratie, denn die Flächen bleiben allgemein zugänglich. Es werden Teilöffentlichkeiten hergestellt. Die Öffnung des Privaten nach draußen, die Halböffentlichkeit, lässt sich auf die Gartenstadtbewegung vom Beginn des 20. Jahrhunderts zurückführen. Hermann Muthesius, Mitbegründer des Werkbund und am Gartenstadtbau beteiligt, gab die Parole aus: Haus und Garten als engverschmolzenes Ganzes. Die Reform der Gartenarchitektur, die der Architekt anstieß, war ein Moment der Lebensreform, die von Naturkost über weite Reformkleider bis zur Freikörperkultur reichte.

Die dazu gehörige Jugendbewegung wurde immer straffer organisiert, bis ihre paramilitärischen Strukturen dem Nationalsozialismus inkorporiert werden konnten. Es gab auch Widerstand in der einstmals emanzipatorischen Bewegung. Der Zwiespalt zog sich durch die gesamte Zeit. Wer die Gartenstädte als Lösung der "sozialen Frage" ansieht, überfrachtet sie ideologisch und übersieht, dass diese Idee in Deutschland von Theoodor Fritsch vertrieben wurde, der sie passförmig für ein völkisch-organizistisches Siedlungmodell machte. Fritsch war der Wegbereiter des nationalsozialistischen Antisemitismus.

Die heutige Urbangarten-Bewegung beruft sich auf Leberecht Migge. Auf seine in der Weimarer Republik ausgearbeiteten Vorschläge zu Kleingarten-Kolonien in öffentlichen Grünzügen trifft das zu. Aber der Gartenarchitekt stand selbst im Zwiespalt: Einerseits verwendete er Blut-und-Boden-Metaphern gegen die lasterhafte Stadt, andererseits stellte er sich mit nüchtern-sachlichen Entwürfen in den Dienst des Neuen Bauens, das sich auf das Bauhaus stützte.

Als Vorbild einer urbanen, besser peri-urbanen Landwirtschaft Berliner Provenienz kann am ehesten die Obstbaukolonie Eden in Oranienburg bei Berlin dienen, gegründet Ende des 19. Jahrhunderts und heute noch existent. Einer ihrer geistigen Förderer war Theodor Fritsch, ein anderer der jüdische Wissenschaftler Franz Oppenheimer. In praktischer Hinsicht äußerte er sich skeptisch: "Da gibt es viele Philosophen und sehr wenige, die Kartoffeln graben können." Er war aber auch optimistisch. Solche Kolonien galten ihm (dem Lehrer von Ludwig Erhard) als Beitrag zur Bodenreform, und an der Grundrente wollte er ansetzen, um die Widersprüche des Kapitalismus zu lösen. Ende der Vertreibung. Das Gegenteil trat ein. Der Riss, der durch die deutsch Geschichte geht, holte ihn ein.

So wie bei Weimar, wo Goethe so gerne zwischen seinem Stadtgarten und dem Gartenhaus an der Ilm wandelte, das Konzentrationslager Buchenwald gebaut wurde, errichteten die Nazis in Oranienburg das Lager Sachsenhausen. Der Weg ins Paradies ist mit der Hölle gepflastert. Auch die heutige Bewegung könnte kippen, wenn Stadtbauernfänger spiritualistische Einkehr versprechen, mit lebensphilosophischer Naturverklärung ganzheitliche soziale Synthesen verheißen oder schlicht (so V. Bennholdt-Thomsen wörtlich) mit "Gärtnern die Welt retten" wollen. Aber gegen geistige Hybris und nationalsozialistische Megalomanie ziehen die Urbanen Gärtner kleine Keime. Das ist die eigentliche Hoffnung.