Das Fenster zum Web

Warum Googles scheinbarer Facebook-Konkurrent "Google+" viel eher eine Antwort auf den App-Wahn der Zeitungsverlage darstellt.

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Google+ ist gestartet. Mit bereits über 10 Millionen angemeldeten Usern nach nicht einmal zwei Wochen nur halb-offenen Testbetriebs, ist das Social Network des Suchmaschinenriesen das Gesprächsthema in den virtuellen Gassen. Dabei sind sich die meisten User und Early Adopters noch nicht einmal sicher, was man mit dem neuen System überhaupt anfangen kann. Kein Wunder: Die Funktionsvielfalt ist überwältigend.

Feiern wir einmal die wunderbaren Errungenschaften eines heutigen Web-Browsers: Dabei handelt es sich um nur ein einziges Programm, das, gemessen in einer Zeit, in der auch mal ein Druckertreiber-Download mehrere hundert Megabyte wiegen darf, auch noch verhältnismäßig schlank daherkommt. Und dieses eine, kleine Programm ist alles, was wir in der Informationsgesellschaft brauchen - unser Fenster zur Welt. Nicht der Computer hat den Fernseher abgelöst, der Browser war’s.

Geradezu absurd ist es, dass auf den neuen Geräten, auf all den Smart- und iPhones, all den i- und sonstigen Pads und Tablets, genau diese vorderste Tugend plötzlich wieder in den Hintergrund tritt. Da brauchen wir eine eigene App für im Grunde jedes Medium, das wir so gerne konsumieren. Jeder Verleger möchte nicht nur ein Stück vom Kuchen abhaben, sondern möglichst der sein, der den Kuchen auch schneidet. Der Leidtragende, dessen Smartphone-Desktop langsam überquillt vor Quicklinks, ist der Kunde. Oder vor allem: der moderne Leser, der eben nicht mehr nur eine Informationsquelle konsumiert.

Genau diesem Leser kommt Google mit seinem vermeintlichen Facebook-Klon jetzt entgegen. Google+ heißt das neue Zauberwort, von dem die Medien in erster Euphorie oder Hysterie prophezeiten, es könne Facebook ein MySpace-Schicksal bescheren. Aber Google+ hat ganz anderes Potential. Wenn Eric Kubitz von einem Facebook für Erwachsene spricht, dann ist das nur die halbe Wahrheit.

All-in-One-App direkt aus dem Browser

Dass Google+ das seriöse Social Network ohne Spiele und anderen Zeitvertreib für die prokrastinierende Bürokraft sei, dürfte sich langfristig ohnehin nicht bewahrheiten. Doch den Anspruch “für Erwachsene” kann man auch anders deuten: Für den Informationsbürger nämlich, dessen Feedreader bereits überquellt, der eine prall gefüllte Liste im Twitter pflegt und ohnehin mindestens ein halbes Dutzend internationaler und nationaler Tageszeitungen mehrmals am Tag aufsucht, zeichnet sich Google+ schon jetzt als unverzichtbar ab. Das Social Network liefert die All-in-One-App für all diese Bedürfnisse, oder stellt sie bislang wenigstens in Aussicht - Firmenprofile sind derzeit noch nicht zugelassen, momentan konzentriert sich Google+ noch auf Privatpersonen, unter denen aber natürlich auch hunderte aktiver und interessanter Journalisten und Blogger zu finden sind. Doch um all das zu erreichen, will Google+ auch gepflegt werden, und verlangt dafür wohl die gleiche Disziplin wie jede gut sortierte Datenbank oder jeder Katalog.

Der Auslöser dafür, dass Google den Social-Network-Gedanken aufbricht und stattdessen eine gewaltige Informationsbörse installiert, ist jedenfalls ganz einfach: Es gibt hier keine (zwingende) Reziprozität, keinerlei Gegenseitigkeit. Google+ behandelt Facebook-”Freundschaften” nicht wie zwischenmenschliche Beziehungen, sondern wie eine Sammlung von Abonnements. Zwar bekommt der Gegenüber eine Benachrichtigung (falls er das wünscht), sobald man ihn in einen der eigenen “Circles” einträgt. Aber zustimmen muss er dieser Beziehung nicht - und erfährt auch nicht, in welchem Kreis er jetzt gelandet ist. Die Kreise, die Google+ als größtes Alleinstellungsmerkmal anpreist, sind also keineswegs nur eine Sortierfunktion für Freunde und “Freunde” im sozialen Netzwerk, schon die vorab angelegten Bezeichnungen machen das deutlich. Neben “Freunde” und “Familie” findet sich auch ein “Following” - ein erster Vorgeschmack, wie mächtig dieses neue Tool sein kann.

Google+ kann also nicht nur Facebook ersetzen. Schon im “Following”-Circle stecken Twitter und ein RSS-Reader gleichermaßen. Durch die Aufhebung der - zugegeben: kunstvollen! - Zeichenbeschränkung von Twitter wird Google+ außerdem zum Blog-Hoster. Und der Bilderservice Picasa ist ohnehin bereits nahtlos in das neue Projekt integriert. Mit ein wenig clever use of game mechanics bekommt der Anwender außerdem einen Cloud-basierten Notizblock. Überhaupt: Die Community ist - wie bei einem solchen Start wohl auch erwartbar - bislang in allererster Linie meta. Geredet wird viel, und hauptsächlich über Google+ selbst. Diverse Google-Mitarbeiter sammeln bislang hauptsächlich Ideen von Usern, wie diese die Funktionen des Netzwerks gewinnbringend zweckentfremden - und verbreiten diesen kreativen Input dann weiter: Crowdsourcing statt public beta

Multifunktionalität schafft Interessenskonflikte

Doch natürlich gibt es auch jetzt schon Kontroversen. Die Sorge um den Schutz der persönlichen Daten ist dabei die geringste. Zwar hat sich Google bislang in der Vergangenheit im Umgang mit den Informationen der Nutzer im Gegensatz zu diversen Mitbewerbern meist wie ein perfekter Gentleman verhalten, aber man muss sich natürlich nicht darauf verlassen, dass das auch so bleibt. Die Transparenz jedenfalls ist gegeben. Im Gegensatz zu Facebook sind die Privatsphäre-Einstellungen nicht nur umfassend sondern auch intuitiv und leicht erreichbar. Auch der kurz aufblitzende vermeintliche Skandal um eine in Planung befindliche Verkaufsbörse der Datenpakete entpuppte sich nach Abklingen der ersten Hysterie als harmlos.

Kontrovers ist aber bereits, wie Google+ mit Pseudonymen umgeht: Derzeit werden Profile ohne Rückfrage suspendiert, die (erkennbar) nicht unter dem Realnamen des Nutzers laufen. Laut Google sei dies Teil einer Philosophie, die ein persönliches und offenes Netzwerk bewirken soll, in dem diese Art von Anonymität nicht nötig oder gar erwünscht sei. Sascha Lobo hält entgegen, dass Anonymität auch durchaus eine politische Dimension erreichen kann und verweist auf die Rolle von Twitter beispielsweise während des arabischen Frühlings.

Hier könnte für Google+ der erste große Interessenskonflikt drohen. Denn während es für ein soziales Netzwerk á la Facebook durchaus dem Zweck entspricht, wenn seine Nutzer unter ihrem Realnamen auftreten, so kann eine All-in-One-Kommunikationslösung, wie sie Google bietet, daran nicht mehr gelegen sein. Die aktive Nutzung ermöglicht zwar eine klare Kontrolle über die Empfänger der ausgesandten Informationen, aber gerade die Multifunktionalität macht es schwer, es hier jedem recht zu machen.

Revolution im Suchmaschinenranking?

So vielversprechend wie riskant ist auch der unscheinbare “+1”-Button, der längst auf diversen Webseiten aufgetaucht ist. Zwar sind noch nicht all seine zukünftigen Funktionen bekannt, aber einiges lässt sich bereits absehen. Innerhalb von Google+ entspricht er im Prinzip dem “Like” des blauen Konkurrenten. Auf externen Seiten oder in den Google-Suchergebnissen erzeugt er aber ein Bookmark in einer eigenen Liste, die optional auch im Profil öffentlich gemacht werden kann. Dass diese Bookmarks in naher Zukunft auch eine Rolle beim Suchmaschinenranking spielen werden, wäre dabei wohl für niemanden eine Überraschung.

Das Potential einer solchen Funktion ist gewaltig: Angefangen bei einer schlichten Gewichtung der bloßen Zahlen - ein Link mit mehr “+1”s wird entsprechend höher gerankt - ließe sich mit den Daten noch viel interessanteres anstellen. Würde Google beispielsweise die “+1”s auch im Ranking den Kontakten des eingeloggten Users zuordnen können, so könnte in Zukunft jeder eine individuelle Suchergebnisseite präsentiert bekommen. Die Empfehlungen der anderen User aus den eigenen Circles ließen den Schluss zu, dass ein bestimmter Link für diesen bestimmten User vielleicht relevanter ist, als der vom herkömmlichen SEO-Ranking überlegene Konkurrent. Im Idealfall entsteht daraus unglaublicher Recherchekomfort und eine Möglichkeit, tatsächliche inhaltliche Qualität mit verbessertem Suchmaschinenranking zu belohnen. Im schlimmsten Fall dagegen erwächst ein überwältigender Daten-Leviathan, der neuen Missbrauchsmöglichkeiten Tür und Tor öffnet.

Kann Google+ solcherlei Konflikte überwinden, so werden diese Probleme zur größten Stärke des Systems werden. Das Portfolio der frei verfügbaren Google-Tools von “docs” über picasa bis zum Kalender, Reader und Gmail, erhält hier das fehlende Bindeglied: Eine große, mächtige Zentrale, wo all diese Fäden zusammenlaufen; ein gewaltiger Content-Aggregator, der - sorgfältige und wohlüberlegte Pflege seines Nutzers vorausgesetzt - für den modernen Informationsjunkie zur wichtigsten Anlaufstelle werden kann.

Das Google+-Profil ist Xing-Visitenkarte, persönlicher Blog, privates Notizbuch und (Selbst-)Vermarktungsplattform. Es bietet einen zuverlässigen Chat-Client, eine mächtige Videokonferenz-Software, die sich mittelfristig auch an professionelle Anwender richten soll. Die “Sparks”, eine Mischung aus Google Alerts und einem RSS-Feed, betten außerdem eine gänzlich unpersönliche News-Plattform in das soziale Netzwerk ein. In einer Zeit, in der jeder am liebsten sein eigenes Süppchen kocht, bietet Google dafür die Küche an. Wer aber nicht mehr erwartet, als seine Freunde und “Freunde” über Kneipenbesuche und Farmville-Erfolge auf dem Laufenden halten zu können und möglichst bequem Geburtstagsgrüße unters Volk zu bringen, der wird keinen Grund zum Wechseln finden.

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