Deutschland - ein Mafia-Paradies?

Der prominente italienische Mafia-Jäger Roberto Scarpinato fordert eine verstärkte Bekämpfung der organisierten Kriminalität in Deutschland

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Die Mafia ist das Geschäftsmodell der organisierten Kriminalität des 3. Millenniums. 2009 berichtete der Guardian, dass sie bereits 14,6 Prozent des italienischen Bruttosozialproduktes kontrolliert. Die neapolitanische Camorra und die kalabrische 'Ndrangheta beherrschen den überaus lukrativen Kokainmarkt in ganz Europa1, während der russische Energiemarkt in der Hand der russischen Mafia ist.2 Ähnliche Zustände stehen auch Deutschland bevor, wenn die Bekämpfung der Mafia nicht verstärkt wird. Diese Warnung kommt von Roberto Scarpinato, dem leitendem Oberstaatsanwalt im Anti-Mafia-Pool in Palermo. Der prominente Mafia-Jäger nahm Ende Juni an einer Tagung mit dem Titel Deutschland - ein Paradies für Geldwäscher?! in Bensberg bei Köln teil. Veranstalter waren unter anderem der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK), die Deutsche Steuer-Gewerkschaft und die NRW-Sektion des Deutschen Richterbundes (DRB).

Scarpinato weiß, wovon er redet. Er hat das Erbe der 1992 ermordeten Kollegen Giovanni Falcone und Paolo Borsellino übernommen und führt ihren Kampf gegen die Clans weiter. Dafür musste Scarpinato auf ein normales Privatleben verzichten und lebt seit Jahren unter strengem Polizeischutz. Der Oberstaatsanwalt sieht in der Verurteilung des Christdemokraten Giulio Andreotti seinen größten Erfolg. Sie wurde durch den italienischen Gerichtshof (die höchste juristische Instanz des Landes) bestätigt. Seitdem gilt es als erwiesen, dass der siebenmalige italienische Regierungschef ein Komplize der Mafia war, zumindest bis 1980.

Zurzeit leitet der 59jährige Scarpinato neue Ermittlungen gegen die politischen Mandanten der Killer von Falcone und Borsellino. Zusätzlich beschäftigt er sich mit dem Eindringen der Mafia in die legale Wirtschaft. Dank seiner Arbeit wurden bislang 4,5 Milliarden Euro mafiöses Vermögen beschlagnahmt, eigentlich nur ein winziger Teil der 70 Milliarden Euro Nettogewinn, die die Mafia schätzungsweise pro Jahr verbucht.3

In Deutschland herrscht noch der Glaube, dass die Mafia eine Geschichte von Pizzabäckern sei. Die echt gefährliche Mafia ist hingegen jene der über jeden Verdacht erhabenen "weißen Kragen" (colletti bianchi): eine Mafia die Wirtschaftskriminalität betreibt und Geld investiert, sogar in ökologische Windanlagen; eine Mafia, die inzwischen aus Menschen besteht, die studiert haben und enge Kontakte zu Politikern pflegen.

Roberto Scarpinato

In der Bundesrepublik werden nach Angaben der Financial Action Task Force (FATF/ OECD) jährlich mehr als 50 Milliarden Euro kriminell "erwirtschaftet". Deutschland ist ein sehr attraktives Land für die organisierte Kriminalität, nicht nur als Absatzmarkt für Kokain. In Berlin, Frankfurt oder Köln wird viel gebaut und der Immobilienmarkt ist vor allem bei der sizilianischen Cosa Nostra sehr beliebt. "Wir haben die Erkenntnis, dass mafiöse Bauunternehmen die norditalienischen Regionen Piemont, Lombardei und Ligurien überschwemmt haben. Ihre Wirtschaftskraft ist der deutschen sehr ähnlich."

Die Anziehung Deutschlands für das organisierte Verbrechen hat einen zweiten, mindestens so wichtigen Grund. Scarpinato meint, dass die Ermittlungsstrategien, die juristischen Mittel und die Organisation der Polizei hier noch nicht geeignet seien, um die Mafia effektiv zu bekämpfen. Zumindest in diesem Feld sei Italien viel weiter. Dort basieren 90 Prozent der Ermittlungen gegen die Mafia auf Erkenntnissen, die durch Telefonüberwachung und Lauschangriff gewonnen werden. Ohne diese Mittel sei das eiserne mafiöse Gesetz des Schweigens (Omertà) nicht zu brechen. Die Kontakte der Mafia zu Politik und Wirtschaft und sogar zu Polizisten und Richtern würden im Dunkel bleiben. Deutschland weist noch eklatante Gesetzeslücken in seiner Gesetzgebung auf. 2010 wurde in Italien der Politiker Marcello Dell'Utri, rechte Hand von Silvio Berlusconi und ehemaliger Europa-Abgeordneter für die Europäische Volkspartei (PPE), zu sieben Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, wegen "externer Beteiligung an mafiöser Vereinigung". In Deutschland wäre dies unmöglich gewesen, da eine solche Straftat von keinem Gesetz anerkannt wird.

Weitere gesetzliche Lücken machen die Bundesrepublik zu einem Paradies für Geldwäscher. Scarpinato kritisiert, dass Deutschland das Abkommen der Vereinten Nationen für den Kampf gegen die organisierte Kriminalität sowie die Europäischen Richtlinien, die mehr Transparenz zwischen Vermögen und deklariertem Einkommen fördern, noch nicht zum nationalen Gesetz umgewandelt hat. "Die Begründung lautet oft, dass solche Prinzipien mit der deutschen Mentalität nicht vereinbar seien." Für Scarpinato sei auch in Deutschland höchste Zeit, zwischen Bürgerrechten und Vermögensrechten zu unterscheiden und solche Gesetzeslücken zu schließen:

Jeder ist frei, reich zu werden, muss aber dabei auch beweisen, dass er dieses Ziel legal erreicht hat. Wir müssen die illegale Anhäufung von Reichtum gemeinsam bekämpfen.

Roberto Scarpinato

Wie schwach der Kampf gegen die Mafia in Deutschland noch läuft, erklärt der palermitanische Staatsanwalt mit einem Beispiel: Der Umgang der Justiz mit der Kölner Baumafia. "Vor einigen Jahren wurde in Palermo ein mafiöses Netzwerk von Bauunternehmen zerschlagen. Für die Ermittlungen waren zehn Richter und 40 Polizisten zuständig. Die festgenommenen Personen bekamen dort hohe Haftstrafen. Wir beschlagnahmten ein Vermögen in Wert von 100 Millionen Euro", erzählt Scarpinato. "Nach diesem harten Schlag verlegten die Clans ihr Baugeschäft nach Deutschland. Hier arbeiteten sie mit den gleichen Methoden weiter und wurden dabei sehr reich. Als es 2009 zur Anklage im Landgericht Köln kam, ging es nur um Steuerhinterziehung und 'kreative' Unternehmensmethoden." Fünf Sizilianer hatten insgesamt 1,8 Millionen Euro an Lohnsteuern und Sozialversicherung hinterzogen.

Das Wort "Mafia" wurde während der Verhandlungen nicht einmal genannt. Die Angeklagten leisteten sich 15 Staranwälte, die überreich bezahlt wurden. Sie standen einem einzigen Staatsanwalt gegenüber, der zwar sehr kompetent in vielen Bereichen war, aber von Mafia wenig Ahnung hatte. Das Urteil war am Ende ziemlich milde: Die Höchststrafe lag bei viereinhalb Jahren; zwei Verurteilte mussten ihre Strafen nicht absitzen und erhielten Bewährung; ein Angeklagter wurde freigesprochen.

Roberto Scarpinato

Verbreitung durch "Phantom-Unternehmen"

Der Kölner Skandal ist wahrscheinlich nur die kleine Spitze eines riesigen Eisbergs, der unsichtbar unter dem Meeresspiegel weiter wächst. Scarpinato berichtet über die sehr raffinierte Methode, die die Mafia anwendet, um illegal beschaffenes Geld zu waschen:

Es fließt durch 20 verschiedene Bankkonten in der ganzen Welt. Sie werden unter dem Namen von Strohmännern geführt, die über jeden Verdacht erhaben sind. Dadurch wird die Spur, die zu ihrer illegalen Herkunft führt, verwischt. In Deutschland hat die Mafia Gesellschaften gegründet, in denen unverdächtige deutsche Strohmänner sitzen, die 50.000 bis 100.000 Euro pro Jahr bekommen, nur um ihren eigenen Namen "auszuleihen".

Roberto Scarpinato

Solche "Phantom-Unternehmen", die durch gezielte Täuschung der Behörden im Handelsregister eingetragen werden, haben einen Wert von maximal 500.000 Euro und einen Umsatz, der die 50.000 Euro pro Jahr nicht überschreitet. Unterhalb dieser Grenzen schreibt das deutsche Gesetz eine einfachere Buchhaltung vor, die weniger Kontrollen unterzogen wird. Diese Art von Schein-Gesellschaften vermehren sich gerade in Deutschland, vor allem im Bausektor. Sie unterbieten die legale Konkurrenz bis zu 40 Prozent, bekommen deshalb öfter Aufträge und stürzen andere Bauunternehmen in die Krise.

Wie man 40 Prozent unter dem normalen Preis arbeiten könne, erklärt Scarpinato so. Zuerst verfügt die Mafia über Unmengen an Geld (z.B. jenes, das beim Kokainhandel gemacht wird) und braucht keine Kredite von Banken. Sie muss deshalb keine Kontogebühren oder Zinsen zahlen. Zweitens werden durch die "Phantom-Unternehmen" Finanzämter und Sozialbehörden getäuscht, nicht zuletzt durch zahlreiche Rechnungen für Leistungen, die nie erbracht wurden. Drittens entsorgt die Mafia Asbest verseuchten Bauschutt und gefährliche Abfälle, die durch den Abriss von Gebäuden entstehen, in illegalen Deponien und kann dadurch hohe Kosten sparen. Schließlich verwenden die Mafiosi beim Bauen schwächeren Beton, das heißt mit weniger Zement, als vom Gesetz gefordert. Hinter solchen Geschäften gibt es eine ganze Reihe von Hintermännern, die sich stark bereichern.

Die weltweite Verbreitung der mafiösen Strukturen wird inzwischen auch von den amerikanischen Geheimdiensten mit zunehmender Sorge beobachtet:

Die Analysten der CIA schauen zum Beispiel nach China. Dort gibt es bereits 250 Millionen "neue Reiche", die bald zu 500 Millionen werden könnten, wenn sich das Wirtschaftswachstum ähnlich wie bisher fortsetzt. Mit den "neuen Reichen" aus Indien könnten wir in 10-20 Jahren eine Milliarde potenzielle Kokainverbraucher weltweit haben. Dadurch würde der Wert des illegalen Marktes ins Unermessliche steigen und die Regeln des Gesamtmarktes völlig durcheinander bringen. Für die CIA ist die Mafia schon lange keine Geschichte von Pizzabäckern mehr.

Roberto Scarpinato

Scarpinato vergleicht die Mafia mit einem bösartigen Tumor: "Zuerst greift er einige Zellen an. Die Tumorzellen vermehren sich dann unbemerkt weiter. Wenn man die ersten Schmerzen spürt, ist es bereits zu spät. Deshalb gehen Menschen alle sechs Monate zum Check-up, zur Krebsvorsorge." Scarpinato fordert ein sofortiges Check-up über die Präsenz der Mafia in Deutschland: "In zehn Jahren wird es zu spät sein."

Mehr als 120 Kriminalbeamte, Juristen, Mitarbeiter des Finanzamts und Journalisten hörten dem engagierten Staatsanwalt aus Italien zu. Er beendete seine Rede mit einem Hoffnungsschimmer:

Für viele Jahrzehnte hielt man die Mafia in Italien für ein Gerücht der Kommunisten. Wir haben viel Zeit gebraucht, es waren viele Tote notwendig, um ein Bewusstsein gegen die Mafia zu schaffen. Die Veranstaltung hier in Bensberg zeigt, dass die Aufmerksamkeit für das Problem in Deutschland steigt. Durch solche Tagungen könnte die kulturelle Avantgarde entstehen, die auch hier ein Bewusstsein gegen die Mafia fördert, bevor es zu spät ist.

Roberto Scarpinato

Schade, dass keine Politiker zuhörten. Obwohl die Organisatoren verschiedene Abgeordnete und Regierungsvertreter einluden, suchte man sie am 27. Juni vor Scarpinatos Pult vergebens.