"Es ist keine Krise - Es ist das System"

Die "Empörten" nehmen nach einem wochenlangen Sternmarsch Madrid ein

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An diesem Wochenende sind die "Empörten" (Jugend "ohne Job, ohne Wohnung, ohne Pension und ohne Angst") wieder auf den zentralen Platz in Madrid und damit auch in Kommunikationsmedien zurückgekehrt. In Sternmärschen hatten sich die Aktivisten in langen Märschen aus allen Landesteilen in die Hauptstadt aufgemacht. Dort haben am Sonntag erneut Zehntausende gegen die Sparpolitik, Arbeitslosigkeit, Korruption und für eine "echte Demokratie" demonstriert. Am Wochenende nahmen sie auch den zentralen Platz der Hauptstadt "Puerta del Sol" wieder ein und debattoerten über die Strategie der Bewegung für die nächsten Monate.

Geschätzt wird, dass sich aus allen Landesteilen schon vor einem Monat knapp 1000 Empörte zu Fuß auf den Weg in die Hauptstadt gemacht haben. In hunderten Bussen waren ihnen zum Wochenende Tausende gefolgt. Ende Juni, nach der Auflösung der Protestlager, wurde zu dem Sternmarsch als einer neuen Aktionsform aufgerufen. So konnte auch in den Dörfern und Kleinstädten für tiefgreifende Veränderungen im Land geworben werden, in denen es im Frühjahr keine Protestcamps gab. "Die Märsche sind eine Verlängerung der Protestlager", erklärten die Teilnehmer. Sie machten beim Eintreffen in Madrid deutlich, dass nun wieder eine Etappe abgeschlossen wurde und sich die Bewegung erneut neu erfinden muss.

Die erste Kolonne hatte sich am 20. Juni aus Valencia auf den Weg gemacht. In 34 Tagen haben sie auf 29 Veranstaltungen die Ziele der Bewegung verbreitet. Als die Gruppe startete, gingen die Teilnehmer nicht davon aus, dass im Laufe des Marschs der Regierungschef ihrer Region doch noch über die Korruptionsaffäre der großen Volkspartei (PP) stürzen würde. Schließlich war eines der zentralen Anliegen in Valencia zu verhindern, dass Francisco Camps nach seinem Wahlsieg im Mai erneut im Amt vereidigt wird. Das gelang nicht. Doch nur einen Monat später musste er zurücktreten und die Korruptionsaffäre der PP wird auch die nächsten Monate die Öffentlichkeit beschäftigen (Spaniens Opposition nach Rücktritt weiter unter Druck).

"Es war heiß und anstrengend", erklären die Marschierer "ohne Job, ohne Wohnung, ohne Pension und ohne Angst", die gen Madrid gezogen waren. Letztlich waren es sechs Züge, die aus verschiedenen Richtungen in die Hauptstadt vorgedrungen sind und auf den letzten Metern zu großen Demonstrationen anwuchsen. Auch wenn die Blasen an den Füßen noch bei der zentralen Demonstration am späten Sonntag schmerzten, hätten sich die Strapazen gelohnt. Darüber sind sich die Marschierer einig. "Wir müssen aufstehen, wenn wir etwas ändern wollen, und dazu brauchen wir einen langen Atem", sagt Milo Andersen. Er hatte sich mit anderen Protestierern nach der Auflösung des Protestcamps aus der katalanischen Metropole Barcelona auf den Weg nach Madrid gemacht.

"Wir zahlen für eure Krise nicht"

Schon am Wochenende sei auf dem "Sol" über die Strategie der Bewegung für den kommenden Herbst debattiert worden, doch am Montag werden die Debatten auf einem Sozialforum vertieft. Geplant wird nach dem spanischen Vorbild nun auch ein Sternmarsch, der aus allen europäischen Ländern nach Brüssel führen soll. In Spanien solle es am 15. Oktober wieder landesweite Demonstrationen und möglicherweise auch einen Generalstreik geben. Darüber wird mit kleineren Gewerkschaften debattiert.

An diesem Tag könnte auch ein Referendum abgehalten werden. Fünf Fragen zielen auf eine Wahlrechtsreform, auf mehr Transparenz beim Einsatz der Ressourcen und auf Veränderungen im ökonomischen System. Gewendet wird sich darüber auch gegen die verbreitete Korruption und die starke Einflussnahme der Politik auf die Justiz. Diese Vorgänge haben zwar zunächst nichts mit Wahlen zu tun, doch diese Proteste könnten, wie im Mai zu den Regional- und Kommunalwahlen, erneut mit einem Urnengang zusammenfallen. Denn es zeichnet sich ab, dass die Parlamentswahlen auf den Herbst vorgezogen werden dürften. Dann werden sich die Aktivitäten sicher weiter verstärken, schließlich wendet sich die Bewegung auch gegen die "Zweiparteiendiktatur" der regierenden sozialdemokratischen Sozialisten (PSOE) und der oppositionellen ultrakonservativen PP, die sich stets an der Macht abwechselten. "An der Politik ändert sich aber nichts", erklärt Andersen.

Zur Kasse gebeten werde stets die einfache Bevölkerung. Er verweist dabei als Beispiele auf zwei Vorgänge in der vergangenen Woche. Auf der einen Seite hat der Staat erneut eine Sparkasse übernommen. Zum Wochenende ist auch die Caja Mediterráneo (CAM) aus der Provinz Valencia definitiv abgestürzt, die vor allem im Bereich Alicante aktiv ist. Fast 6 Milliarden Euro wird die neue Bankenrettung die Steuerzahler kosten. Dabei gehörte auch die CAM zu den Instituten, die nach den Kriterien des gerade abgeschlossenen Stresstests nur in einem "ungünstigen Szenario" in Not geraten sollte.

Dabei ist sie schon jetzt in der zweiten Sparkassenreform abgestürzt, die die Steuerzahler viele Milliarden kosten wird. Gleichzeitig wurde in der vergangenen Woche im Madrider Parlament auch die Rentenreform beschlossen. Nun soll bis 67 gearbeitet werden und über Veränderungen in der Berechnungszeit wird zudem durch die Hintertür die Rente weiter gekürzt. Dass die beiden großen Gewerkschaften, die der Regierung nahe stehen, die Reform abgenickt haben, empört die Empörten auch über diese Arbeitnehmervertreter.

Viele Menschen in Spanien haben das Gefühl, dass etwas ganz Grundsätzliches schief läuft, wenn fast die Hälfte aller jungen Menschen arbeitslos ist, zehntausende Familien aus ihren Wohnungen geräumt werden, weil sie die Hypotheken nicht bezahlen können, aber gleichzeitig viele Milliarden in marode Banken gesteckt werden. Das Fronttransparent der Demonstration brachte das zum Ausdruck: "Es ist keine Krise - Es ist das System". Sehr oft wurde deshalb am Wochenende wieder in Madrid skandiert: "Wir zahlen für eure Krise nicht." Ein zentraler Teil der Basisarbeit der Empörten war in den letzten Wochen aber auch, in den Stadtteilen zu verhindern, dass von der Krise gebeutelte Familien aus ihren Wohnungen fliegen.

Die hohe Arbeitslosigkeit mit einer Quote von fast 21%, führt meist zur Zahlungsunfähigkeit der Familien, die aber nicht in so weiche Hände wie die Banken fallen. Angesichts einer fehlenden Sozialhilfe stehen viele im Land vor der nackten Misere und sitzen zudem noch auf einem riesigen Schuldenberg. Denn anders als in den USA ist der Kredit nicht mit der Übergabe der Wohnung an die Bank beglichen. Deshalb unterstützen die Empörten auch die Volksinitiative, die demnächst im Parlament behandelt wird und die Übergabelösung zum Ziel hat. Der Schuldenberg verhindert oft auch einen Neustart der Familien, sie können deshalb meist nicht einmal eine Wohnung mieten. Dieser Teufelskreis führt ganz tief nach unten. Dem wollen sich die Empörten sich auch in den nächsten Monaten nicht nur mit Empörung entgegen stellen.