Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex will Lebenlassen lernen

Menschenrechtler sollen Grenzbeamte schulen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Frontex, die Europäische Grenzschutzagentur, eine Einrichtung der EU-Kommission und als solche in Finanzplanung, Zwecksetzung und Gebaren den ohnehin kastrierten Kontrollrechten des EU-Parlaments noch mehr entzogen, wird nun bald auch eigene Grenztruppen aufstellen. Dann wird diese von Warschau aus agierende Koordinationsstelle nicht mehr nur die Grenzschutztruppen diverser EU-Mitgliedsländer anleiten, sondern mit eigener "manpower" die Grenzen nach Europa kontrollieren und wenn nötig versperren. Zumindest wenn es sich um Einreisewillige ohne dickes Bankkonto oder ohne Besuchervisum handelt. Einreisewillige aus den südlichen Teilen dieser Welt, aus Afrika insbesondere.

Die reisen häufig zu Fuß und sie steigen, wenn sie am Mittelmeer sind, in fragwürdige Schiffe ein. Auf dem Meer ertrinken dann viele von ihnen, auf zweitausend wird ihre Zahl allein in diesem Jahr geschätzt.1 Und das, obwohl Frontex-geführte Grenzschutzboote auf dem Meer patrouillieren und ihre Helikopter und die Satellitenstationen der Schifffahrt jede Bewegung auf dem Mittelmeer überwachen.

Die Berichte von Schiffbrüchigen häufen sich, dass Hubschrauber und Boote der Grenzmarine ihnen nicht geholfen haben, wenn sie auf hoher See in Not waren, sondern bestenfalls etwas Wasser und Proviant in jämmerliche und schlagseitige Kähne gekippt haben - um nach dieser guten Tat abzudrehen, so u.a. in einem ARD-Bericht. Normalerweise tun Frontexler das nicht. Dann nämlich, wenn sie schiffstaugliche Flüchtlingsboote vor sich haben. Dann lautet der Befehl: An der Weiterfahrt hindern, abdrängen, eskortieren, und zwar zu den Ablegestellen an den südlichen Mittelmeergestaden2

Dass Frontex im Auftrag einer EU-gewollten Abwehrpolitik gegen Flüchtlinge und Migranten den Tod dieser Menschen billigend in Kauf nimmt, sich als Augenzeuge mitverantwortlich und mitschuldig macht oder sogar aktiv die Rettung Schiffbrüchiger verhindert - all diese Vorwürfe werden von Betroffenen, von Fischern und anderen Schiffseignern und von Menschenrechtsorganisationen seit mehreren Jahren erhoben. Die Flüchtlingskatastrophe nach der Bombardierung Libyens hat die Zahl der Toten auf dem Mittelmeer in die Höhe schnellen lassen - und die Kritik an Frontex bis zum UNHCR, der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, getragen. Sie legt Frontex deshalb die Beachtung der internationalen Regeln zur Rettung Schiffbrüchiger ans Herz. Diplomatisch ein Affront.

Das Problem ist nur: Wer Krieg führt, kann die Menschenrechte nicht achten oder bestenfalls in einer Kleinstausgabe im Sinne der Haager Landkriegsordnung. Und Frontex führt einen Krieg, einen Grenzkrieg. Selten mit scharfer Munition, in der Regel mit Absperren, Einsperren, Abschieben und Abdrängen. Auf dem Wasser aber können solche Aktionen auch ohne Schüsse tödliche Gefechte sein. Für eine Seite jedenfalls.

Das alles ruft nicht nur den Protest der ewig menschenrechtlichen Nörgler hervor. Es macht mittlerweile auch eine schlechte Presse, die Zahl der Filme (so zuletzt im ARD-Tatort) und Bücher wächst, die Frontex-Patrouillen wegen ihrer mörderischen Folgen brandmarken. Und seit einigen Wochen macht ein sogenannter Choucha-Aufruf die Runde, benannt nach einem Flüchtlingslager in Tunesien, in dem es heißt:

Ein Bruch mit dieser Politik ist notwendig, um das Sterben auf See und in der Wüste zu beenden. Die Demokratiebewegungen in Nordafrika bieten die Chance für einen Neuanfang. Statt tödlicher Ausgrenzung und grotesker Bedrohungsszenarien muss Offenheit und Solidarität die Zukunft des mediterranen Raumes prägen. Es braucht Brücken statt Mauern für ein neues afrikanisch-europäisches Verhältnis, damit Europa ein Raum wirklicher Freiheit, allgemeiner Sicherheit und der gleichen Rechte für Alle wird.

Choucha-Aufruf

Solche Reden rühren ans Selbstverständnis, ja an die schiere Daseinsberechtigung von Frontex! Keine Mauern!? Und wenn jetzt auch noch die "Schiffe der Solidarität" in See stechen, die Menschenrechtsgruppen angekündigt haben, um die Meerenge zwischen Afrika und Europa zu beobachten und Flüchtlinge in Not zu retten!?

Experten für Menschenrechtsfragen gesucht

Deshalb ist Frontex in die Gegen-Offensive gegangen. Sie will ihre Truppen einer menschenrechtlichen Schulung unterziehen. Frontex hat zu diesem Zweck im Mai 2010 ein Kooperationsabkommen mit der "Agentur der Europäischen Union für Grundrechte" geschlossen. In dem Vertrag verpflichten sich beide "Agenturen", die Menschenrechte zu achten. Und die EU-Agentur für Grundrechte als berufene Spezialistin für das Menschenrechtliche machte sich auch gleich an die Schulung des Frontex-Personals. Seit neuestem aber sucht sie Experten, die den Frontex-Leuten beibringen sollen, wie das z.B. - wörtlich - mit dem Recht auf Asyl ist oder wie man die menschlichen Würde respektiert, dass es ein Folterverbot gibt und dass man das Recht auf Leben achten muss.

Gesucht wird unter den 319 FRP-Members, d.h. unter nichtstaatlichen Mitgliedern der sogenannten "Fundamental Rights Plattform".3 Dazu zählen Organisationen, die es auf europäischer Ebene zu ein bisschen was gebracht haben wie das Rote Kreuz, die Caritas oder PICUM, die Plattform für die Rechte illegaler Migranten.

Warum sucht die EU-Agentur unter diesen Gruppen? Hat sie nicht selber genügend Fachpersonal? Doch, bestimmt. Aber gerade weil selbst unter den etablierteren NGOs die Kritik am Frontex-geführten Krieg gegen die Migranten wächst, möchte man vermutlich diese wieder einbinden. Gegen ein gewisses Honorar dürfen sie ihren Unmut in gute Ratschläge umsetzen, und dafür schmückt sich Frontex in der Öffentlichkeit mit seinen menschenrechtlichen Fortbildungen. Außerdem, so wird das Kalkül sein, werden die honorierten Fortbildner künftig den Mund halten. Das steht sicher so nicht im Honorarvertrag, aber wer beißt schon gern in die Hand, die einen füttert...

Bis zum 15. August sollen nun interessierte NGOs einen Fragebogen ausfüllen, auf welche spezifischen menschenrechtlichen Kenntnisse sie denn zurückgreifen können. Dann entscheiden die EU-Agenturen, die eine für Menschenrechte und die andere für Grenzsicherung, wer denn wie die europäischen Grenzschützer in Menschenrechtsdingen schulen soll.