Haben die Menschen allein durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit die Neandertaler verdrängt?

Nach einer Studie von Archäologen wanderten die modernen Menschen in Westeuropa in einer bis zu zehnfachen höheren Menge als die dort schon lange lebenden Neandertaler ein

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Vor etwa 40.000-35.000 Jahren starb der Neandertaler aus. Der Ureuropäer, der vom homo erectus abstammt und sich eine halbe Million Jahre unabhängig vom modernen Menschen (homo sapiens) entwickelt hat, lebte schon lange, vielleicht 300.000 Jahre und mehr, im kalten Zentral- und Westeuropa, bevor die ersten Menschen vor etwa 40.000 Jahren aus Afrika einwanderten. Die Menschen koexistierten relativ kurze Zeit mit den Neandertalern, die sprechen und singen konnten, Kleider trugen, Schmuck anfertigten, Werkzeuge und Waffen besaßen und ihre Angehörigen beerdigten, bevor sie aus bislang unbekannten Gründen von der Weltbühne verschwanden.

Warum die Neandertaler, von denen sich genetische Spuren im Erbgut der Menschen finden, was auf sexuellen Kontakt hinweist, ausgestorben sind, war Anlass zahlreicher Spekulationen. Manche sprachen davon, dass es sich um den ersten Genozid der Menschen gehandelt haben könne (Neandertaler: Fand der erste Weltkrieg vor 40.000 Jahren statt?). Haben sie zusammengelebt? Waren die Menschen technisch, kognitiv, körperlich und genetisch einfach überlegen? Spielte das Klima eine Rolle? Oder haben die Menschen einfach durch ihre größere Fruchtbarkeit die Neandertaler verdrängt? Die Population der Neandertaler dürfte ziemlich klein gewesen sein, so dass auch Krankheiten eine Rolle gespielt haben können, zumal wenn die Menschen die Neandertaler in karge Gebiete vertrieben haben sollten. Dass das Verschwinden des Neandertalers mit dem Auftritt der Menschen zusammenhängt, ist allerdings sehr wahrscheinlich. Zuletzt könnte er in Südspanien gelebt haben (Letzte Zuflucht Gibraltar).

Rekonstruktion des Neandertalerkindes Gibraltar 2 vom Fundort Devil's Tower (Gibraltar) durch Christoph Zollikofer vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich. Bild: Zollikofer/Public Domain

Die Archäologen Paul Mellars und Jennifer French von der Cambridge University haben im Südwesten Frankreich, in der Region Perigord, wo es die meisten Ausgrabungsstätten von Neandertalern und gleichzeitig dort lebenden Menschen gibt, die archäologischen Funde genau statistisch ausgewertet, wie sie in ihrem Artikel schreiben, der in Science erschienen ist. Konzentriert haben sich auf die drei Zeitabschnitte, die von 55.000 bis zu 35.000 Jahren vor unserer Zeit reichen und die Periode des Übergangs von den Neandertalern zum Menschen umfasst: MTA (Moustérien in der Tradition des Acheuléen), das vor 40.000 Jahren zu Ende ging und in Europa von den Neandertalern bestimmt war, Châtelperronien, die Zeit in der Neandertaler und Menschen nebeneinander lebten, und Aurignacien, wo der Neandertaler ausstirbt und die Menschen sich durchsetzen.

Allein schon die explodierende Zahl der Fundstätten von Orten, wo Menschen oder Neandertaler lebten, macht deutlich, dass die Menschen schlicht an Masse die Neandertaler übertrumpft haben. Im Châtelperronien wurden vom Neandertaler in dem Gebiet 30 Stätten in Höhlen/Felsnischen und 7 an offenen Orten gefunden, bei den Menschen im Aurignacien waren es bereits 108 in Höhlen/Felsnischen und 39 an offenen Orten. Zudem waren die von den Menschen mit 500-600 Quadratmeter bewohnten Flächen gegenüber den 100-250 Quadratmeter der Neandertaler großen deutlich größer, was darauf hindeutet, dass die Menschen größere Gruppen bildeten als die Neandertaler. Ähnliches zeigt sich, jeweils für 1000 Jahre, für die Dichte an gefundenen Steinwerkzeugen pro Quadratmeter oder an dem geschätzten Körpergewicht der hier gefundenen Überreste von Tieren, beides bei den Menschen fast doppelt so hoch. In der Übergangszeit wuchs nach den Archäologen die Zahl der Menschen um den Faktor 10.

Für die Archäologen sprechen diese Zahlen dafür, dass unabhängig von allen anderen Gründen die reine zahlenmäßige Überlegenheit ein "wichtiger, wenn nicht überwältigender Faktor in der direkten demografischen und territorialen Konkurrenz zwischen modernen Menschen und Neandertalern" darstellt. Menschen und Neandertaler standen in Konkurrenz, die sicher auch zu Kämpfen führte, um dieselben Ressourcen, um Gebiete zum Leben, um Jagdgebiete und Wild und Nahrungsmittel, um die harten Winter zu überstehen. Zudem könnten für die Verdrängung der Neandertalern eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle spielen, die auch damit zu tun haben, dass die Menschen in größeren Gemeinschaften leben und sich schneller vermehren konnten: von verbesserten Jagd- und Zubereitungstechniken für Nahrung über bessere soziale Integration und Kohäsion bis zu übergreifenden Allianzen und neuen kulturellen Leistungen. Möglicherweise hat auch eine plötzliche Klimaabkühlung vor etwa 40.000 Jahren eine entscheidende Rolle gespielt.

Für Mellars haben die zahlreichen menschlichen Innovationen im Bereich des Verhaltens und der Technik den Menschen ermöglicht, in Europa einzuwandern und sich dort in viel größeren Populationen auszubreiten, als dies bei den Neandertalern der Fall war: "Konfrontiert mit dieser Konkurrenz scheinen sich die Neandertaler zunächst in weniger attraktive Gebiete des Kontinents zurückgezogen zu haben." Innerhalb von ein paar tausend Jahren sind sie dann ausgestorben. Ob allein die große zahlenmäßige Überlegenheit der Menschen der Grund für den Niedergang der Neandertaler war oder ob das nur eine Folge zahlreicher anderer Faktoren ist, darüber kann man auch weiterhin diskutieren.