"Totaler Krieg" um Stuttgart21

Fronten verhärten sich immer weiter, Schlichter Geißler und S21-Befürworter versuchen, das Ergebnis des Stresstests schönzureden

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Das Schlichtungsverfahren um Stuttgart 21 ist beendet. Ein Ergebnis gibt es allerdings nicht. Das letzte Zusammenkommen von Projektbefürwortern und S21-Gegnern geriet vielmehr zu einer Inszenierung, in der sich Schlichter Heiner Geißler mit einem unerwarteten Lösungsvorschlag in den Mittelpunkt stellte, den er innerhalb kürzester Zeit selbst wieder aufgab. Während dem verbissen geführten Schlagabtausch gelang es dem Moderator Geißler nicht, durchgehend neutral zu bleiben. Den Projektgegnern unterstellte er gar, den totalen Krieg zu wollen - dabei zeigten sich diese kompromissbereiter als die Vertreter von CDU und Bahn.

Schon in den ersten Minuten zeigte sich, wie angespannt die Stimmung ist. Einfache Verfahrensfragen sorgen immer wieder für Diskussionen: so wollen die Kritiker des Bahnhofneubaus zunächst die Prämissen, die die Bahn für den Stresstest festgesetzt hat, einem Faktencheck unterziehen, und der Bahn am Ende die Gelegenheit geben, zu den strittigen Punkten Stellung zu beziehen. Geißler interveniert. Es sei ausgemacht, dass die Bahn nach jedem einzelnen Punkt antworten könne. Die S21-Gegner protestieren, doch Geißler setzt sich durch. Erscheint dieser Konflikt zunächst noch harmlos, so wird doch bald deutlich: Heiner Geißler fällt es zunehmend schwer, die Rolle des neutralen Mittlers nach außen hin glaubhaft darzustellen.

Deutlich sichtbar wurde die mangelnde Neutralität Geißlers, der von kritischen Beobachtern des Schlichtungsverfahrens schon lange als das Trojanische Pferd der S21-Befürworter angesehen wird, an seiner Reaktion auf die Schilderung von Brigitte Dahlbender, die für die Bahnhofsgegner erläuterte, wie die Deutsche Bahn sie bei der Erstellung der Prämissen des Faktenchecks systematisch ausgegrenzt habe. Das Bündnis gegen Stuttgart 21 hätte an der Erarbeitung des Fahrplans, der die Grundlage für den Stresstest darstellt, beteiligt werden müssen, so Dahlbender. Das Bündnis hätte seine Beteiligung immer wieder bei der Bahn eingefordert, sei aber systematisch ausgegrenzt worden, so Dahlbender.

Auch eine Offenlegung der Prämissen des Stresstests habe es nicht gegeben, so die Vorsitzende des BUND Baden-Württemberg weiter. Statt sich direkt an die Schweizer Gutachertfirma SMA wenden zu können, um Auskünfte über Details zum Stresstest zu erhalten, hätte die Bahn darauf bestanden, dass die Kommunikation über sie läuft. Doch Zeit, die Informationen auszuwerten, hätte das Bündnis nicht bekommen. Manche Informationen hätte die Bahn lediglich in einem dreistündigen Termin in einem Datenraum zur Einsicht freigegeben, anderes sei gar erst am Donnerstagabend bei den Bahnhofsgegnern eingetroffen.

Heiner Geißler. Foto: Inforadio. Lizenz: Public Domain.

Geißler reagierte auf die schweren Vorwürfe Dahlbenders lapidar damit, dass sie sich ja nicht wie duldende Lämmer an das halten müsse, was die Bahn von ihr verlange, sondern mehr "auf Zack" sein müssen. Die BUND-Landeschefin reagiert entsetzt: die Vertreter des Bündnisses seien halt ehrliche Makler.

Der Technikvorstand der Bahn, Volker Kefer, wollte von einem Verbot der Bahn an die Bahnhofsgegner, sich direkt mit SMA in Verbindung zu setzen, nichts wissen. Die Bahn habe lediglich angeboten, dass die Kommunikation über sie laufen könne. Auch über die Prämissen sei diskutiert worden, dazu habe es eine ganze Reihe von Sitzungen gegeben, an denen das Land und Gerd Hickmann teilgenommen hätten.

Der Grüne Verkehrsminister Winfried Hermann hat für diese Ausführungen erkennbar wenig Verständnis. Immerhin habe sich Hickmann nicht als Vertreter des Bündnisses mit am Tisch befunden, sondern als Mitarbeiter seines Ministeriums. Über die geführten Gespräche allerdings hatten die Beteiligten im Vorfeld Vertraulichkeit vereinbart - und Hickmann, der vor der Wahl als S21-Gegner aktiv war, hat sich daran offenbar penibel gehalten und seinen Mitstreitern nichts aus den Verhandlungen berichtet. Die CDU hätte ein Theater gemacht, wären vertrauliche Informationen an das Bündnis weitergegeben worden, so Hermann, der auf die strikte Trennung zwischen Regierung und der Protestbewegung großen Wert legt. Wenn die Bahn also das Bündnis informieren wolle, dann solle sie das direkt tun, und nicht über den Umweg der Landesregierung, so Hermann weiter.

Frau Dahlbender erklärte, dass das Bündnis offen agiere, während die Gegenseite anscheinend erwarte, dass man mauschele und sich nicht an die Abmachungen halte. Doch anstatt Fairness anzumahnen, kommentiert Geißler das Foulspiel der Bahn mit einem lakonischen "Null zu Null".

Doch auch der Stresstest selbst geht von eher mäßig stressigen Vorgaben aus. Werner Stohler, der als Verkehrsplaner von SMA für die Durchführung des Stresstests verantwortlich ist, nutzte die Sitzung, um einen der unpünktlichsten Züge vorzustellen, der in der Simulation vorkam. Dieser trifft, so die Annahme in der Simulation, mit einer Verspätung von 15 Minuten in Tübingen ein, und wird durch einen vorausfahrenden, langsamen Zug um weitere zehn Minuten verzögert, so dass sich bis zum Stuttgarter Hauptbahnhof eine Verspätung von insgesamt 25 Minuten ergibt. Dort angekommen, kann er jedoch ganze neun Minuten seiner Verspätung wieder gut machen - denn SMA rechnet für diesen Zug mit einer planmäßigen Haltezeit von elf Minuten, die im Falle einer Verspätung entsprechend verkürzt werden kann. Im weiteren Streckenverlauf wird der simulierte Zug jedoch erneut von mehreren Zügen aufgehalten, so dass sich am Ende eine Gesamtverspätung von über 22 Minuten ergibt. Der Tiefbahnhof selbst, so soll das Beispiel zeigen, kann Verspätungen abbauen. Wenn etwas Probleme bereitet, dann die Infrastruktur ringsum.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne), kann derartigen Rechnungen nichts abgewinnen. Da sei kein Stress im Test, so Palmer. Wenn ein Zug elf Minuten im Bahnhof stehen soll, dann könne man auch beim Kopfbahnhof bleiben und die dortigen Wartezeiten in Kauf nehmen. Zudem könnten nicht alle Züge elf Minuten lang im Bahnhof stehen, es sei denn, die Gleise würden doppelt belegt. Er warf der Bahn daher Trickserei vor. In seinem Vortrag listete Palmer eine Reihe weiterer Probleme auf, die auch die SMA in der Auswertung des Stresstests benennt. So würden einige Anschlusszüge, die bisher existieren, für die Fahrgäste durch Stuttgart21 verloren gehen, zusätzliche, vom Land geforderte Zugverbindungen könnten aus Kapazitätsgründen nicht angeboten werden und bei der Verbindung von Pforzheim nach Stuttgart würden zwei Züge im Abstand von fünf Minuten fahren - und danach 55 Minuten lang nichts mehr. Eine derartige Zugfolge jedoch ist für die Fahrgäste nicht sinnvoll. Schließlich kritisierte Palmer, dass in der Spitzenstunde sogar drei Fernzüge, ein TGV sowie zwei Intercity, entfallen müssten.

Der Technikvorstand der Bahn versuchte, die Vorwürfe Palmers insgesamt beiseite zu schieben, diese gehörten ins Reich der Fabel. Immer wieder unterbricht er Palmers Vortrag - ein Verhalten, dass Geißler bei den Projektgegnern umgehend kritisiert, bei der Gegenseite jedoch oft durchgehen lässt. Insbesondere der Wegfall der Intercity-Verbindungen ist für Kefer kein Problem. IC-Züge seien nicht einfach weggelassen worden, sondern im Fahrplan als Regionalexpress enthalten. Die Verbindungen seien daher nicht gestrichen, die heißen nur anders, so Kefer. Doch die Umbenennung hat einen Grund, denn ein Regionalexpress ist in der Regel kürzer als ein Intercity - für die Bahn wird es so leichter, zwei Züge gleichzeitig hintereinander auf ein Gleis zu stellen. Für das Land hat diese Lösung jedoch einen entscheidenden Nachteil. Während die ICs von der Bahn selbst wirtschaftlich betrieben werden müssen, müssen Regionalzüge vom Land bestellt und auch bezahlt werden.

Auch größere Störungen, von Stohler Notfälle genannt, waren nicht Bestandteil des Stresstests. Nur Probleme, die zu einer Verzögerung von maximal 15 Minuten führen, wurden simuliert. Welche Auswirkungen beispielsweise ein Lokbrand im Bahnhof, wie erst in der vergangenen Woche in Berlin geschehen, und damit der Ausfall von einem oder gar mehreren Gleisen auf den Zugverkehr hat, wurde überhaupt nicht in Erwägung gezogen.

Kompromissvorschlag Kopf- und Tiefbahnhof

Während die Probleme von Stuttgart21 im Laufe der Sitzung immer deutlicher wurden, unternahm Schlichter Geißler den Versuch, die SMA-Gutachten noch positiver zu bewerten, als es die Bahn und die Projektbefürworter selbst taten. So ist im Bericht lediglich davon die Rede, dass ein wirtschaftlich optimaler Betrieb gewährleistet sei - was bedeutet, dass im Betrieb keine Verspätungen abgebaut werden. Verzögerungen bleiben also bestenfalls bestehen und erhöhen sich allenfalls minimal. Geißler hingegen nutzte das von Stohler eingebrachte Beispiel, um dem Tiefbahnhof Premiumqualität zu unterstellen - immerhin könne ja im Bahnhof die Verspätung reduziert werden.

In der Schlichtungsrunde entbrannte darüber eine teils hitzige Diskussion, in der Gangolf Stocker für die S21-Gegner erklärte, dass er nicht dabei mitmachen könne, die attestierte wirtschaftlich optimale Betriebsqualität zu Premiumqualität umzuerklären. Woraufhin Geißler, leicht eingeschnappt, erklärte, dass man das sehr wohl könne. Auch Dahlbender erklärte, dass diese Debatte auf da falsche Gleis führe - und kündigte an, dass die S21-Gegner den Verhandlungstisch verlassen würden.

Doch Geißler konnte den Ausstieg der Projektgegner aus dem Gespräch zunächst verhindern, indem er überraschend einen Kompromissvorschlag mit dem Titel Frieden in Stuttgart präsentierte. Dieser sieht vor, dass ein Teil des Kopfbahnhofes erhalten bleibt, aber auch der Tiefbahnhof in einer kleinen Variante gebaut wird. Damit, so der Schlichter, wolle er seine Aufgabe erfüllen, einen Kompromiss herbeizuführen. Gleichzeitig warf er den Projektgegnern, die sich gerade aufmachten, den Raum zu verlassen, vor, den "totalen Krieg" zu wollen.

Nach einer Besprechungspause, in der sich alle an der Schlichtung beteiligten überrascht von dem plötzlichen Vorstoß Geißlers zeigten, waren die Projektgegner zunächst bereit, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Doch Geißlers Kompromissvorschlag entpuppte sich als Nebelkerze. Während die Projektgegner und der Verkehrsminister sich bereit zeigten, Geißlers Vorschlag zu überdenken und auf dessen Basis einen Kompromiss zu schließen, schlossen die Vertreter von Bahn und CDU die Annahme des Vorschlags kategorisch aus. Auf die Forderung der Projektgegner, bis zur Entscheidung über den Kompromissvorschlag die Auftragsvergabe und den Weiterbau von Stuttgart21 ruhen zu lassen, wolle selbst der Schlichter nicht eingehen. Ein Bau- und Vergabestopp sei indiskutabel. Daraufhin verließen die S21-Gegner endgültig den Verhandlungstisch, hatte doch Geißler gezeigt, dass ihm selbst nichts an seinem eigenen Papier gelegen ist.

Boris Palmer. Foto: Björn Láczay. Lizenz: CC-BY 2.0.

Lediglich Boris Palmer blieb noch für die S21-Gegner am Verhandlungstisch. Er sehe nur zwei Lösungsmöglichkeiten, erklärte er: die ernsthafte Prüfung von Geißlers Vorschlag, oder aber ein erneuter Durchlauf des Stresstests, in dem auch die Vorgaben des Landes an den Fahrplan berücksichtigt werden. Dies jedoch lehnte Kefer ab. Der Stresstest sei bereits bestanden und Grundlage für das weitere Handeln der Bahn. Es könne nicht sein, dass mit einem Bündel an Behauptungen 15.000 Arbeitsstunden einfach so weggewischt werden, so der Technikvorstand der Deutschen Bahn.

Eine Lösung des Bahnhofsstreites in Stuttgart ist nach wie vor nicht in Sicht, was auch die lautstarken Proteste der Bahnhofsgegner zeigten, die bis in das Stuttgarter Rathaus hinein zu hören waren. Geißler aber erklärte, die Schlichtung sei von Erfolg gekrönt - ein absolut unverständliches Fazit angesichts der Tatsache, dass die Projektgegner die Runde vorzeitig verlassen hatten. Das aber sprach Geißler mit keinem Wort an. Es kam nur noch auf den Schein einer ernsthaften Konfliktlösung an - und der war mit dem überraschenden, aber chancenlosen und nicht ernsthaft verfolgten Alternativvorschlag nach Geißlers Ansicht offenbar ausreichend gewahrt. Das Schlichtungsverfahren um Stuttgart21 entlarvt sich damit selbst: als oberflächliche Inszenierung von Bürgerbeteiligung, einzig durchgeführt zu dem Zweck, die Projektgegner zu schwächen und das unbeliebte Projekt letztlich doch noch durchzusetzen.

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