Die Protokolle der Weisen von Mekka

Dass die Terroranschläge von Oslo und Utoya nicht von einem "islamistischen", sondern von einem rechtsextremistischen Fanatiker begangen wurden, hat nicht nur den "Al-Qaida"- Automatismus der notorischen Terrorexperten irritiert

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Auch die medialen Platzhirsche der Deutungs- und Meinungshoheit ringen noch um die Sprachregelung. Da der Täter überlebt hat, kommt "Selbstmordbomber" nicht in Frage, der Begriff "Terrorist" ist seit 9/11 stramm mit dem Islamismus konnotiert und scheint den Leitartiklern bei einem blonden Norweger wohl noch eher unpassend, weshalb z.B. "Bild" von Anders Behring Breivik nur als "Massenmörder" oder "Killer" spricht. Weiterhin kursieren mit "einsamer Wolf", "Wahnsinniger", "Bestie" viele weitere Begrifflichkeiten, die das Massaker in die Richtung eines pathologischen Einzeltäters rücken.

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass Breivik völlig allein gehandelt hat - wenn er es tat, dann wäre er der Phänotyp jenes unauffällig mitten unter uns lauernden und planenden Terroristen, den "Sicherheitsexperten" und Politiker seit Jahren als gefährlichste Spezies des internationalen Terrorismus porträtieren: ein "Schläfer". Er wäre sogar der erste entdeckte und überführte Täter dieser besonders heimtückischen Terror-Spezies, vor der seit 9/11 so eindringlich gewarnt wird, weil sie jederzeit die heimische Fußgängerzone in die Luft jagen könnte. Dass es jetzt ein sozialdemokratisches Ferienlager in Norwegen war, passt da zwar noch irgendwie ins Bild; nicht aber, dass es sich bei dem Täter statt um eine bärtige Wickelmütze mit direktem Draht nach Tora Bora um einen glattrasierten, pro-amerikanischen, pro-israelischen Freund von Chanel, Technomusik, Web 2.0 und Designerdrogen handelt. Kein bildungsferner, mit ein paar Koransuren aufgehetzter Attentäter, der sich auf Jungfrauen im Jenseits freut, sondern ein lesender, analysierender Kopf, der sich die Rettung Europas auf die Tempelritter-Fahne geschrieben hat. Kein dumpfer, rassistischer Nazi in Knobelbechern und Glatze, sondern ein militanter Hardcore-Zionist, auf dessen Abschussliste liberale Juden ebenso stehen wie "Kulturmarxisten" und "Multikulturalisten" jeder Couleur.

Auch wenn es sich bei dem Massaker eindeutig um "Terrorismus" handelt - eine gewalttätige Schreckenstat um Aufmerksamkeit zu erzielen - und bei dem Täter um einen "Terroristen" im klassischen Sinne, der mit einem Bekennerschreiben auf sein Anliegen aufmerksam macht, werden diese eindeutigen Begriffe in den Medien irgendwie umschifft, und die übliche Alarmismus-Welle vor weiteren "Terrorgefahren" oder gar vor "Schläfern" gleich um die Ecke blieb ganz aus. Auch diese scheint, seit die Chiffre "9/11=Osama" tief in das Weltgedächtnis penetriert wurde, nur noch auf "Taliban" abonniert - sieht der "Terrorischt" mal anders aus, verschlägt es den Schäubles dieser Welt erstmal die Sprache.

Wahnsystem als Gebrauchsanweisung

Was weiterhin auffällt an der medialen Behandlung dieser Terroranschläge ist das völlige Ausbleiben eines Kampfbegriffs, der seit 9/11 zum festen Repertoire des "Kriegs gegen den Terror" gehört: "Verschwörungstheorie". Das ist umso erstaunlicher, als der Täter seinen Anschlag mit einem 1500-seitigen Elaborat gekrönt hat (bzw. umgekehrt), das nichts anderes ist als ein verschwörungstheoretischen "Manifest", das zum Kampf gegen einen bedrohlichen, alles verschlingenden Weltfeind (den Islam) aufruft. Die Autoren der berüchtigten "Protokolle der Weisen von Zion" nutzten einst machiavellistische, machtpolitische Traktate, um daraus den angeblichen Plan einer jüdischen Weltverschwörung zu schustern; Breivik setzte sein Manifest aus Zitaten rechtspopulistischer, islamophober Literatur und Blogs zusammen und zimmerte daraus die "Protokolle der Weisen von Mekka". Einer Weltverschwörung, deren Tentakel nun auch schon Norwegen erreicht hat - und die nur noch mit Gewalt gestoppt werden kann.

Auch wenn die ruhige, scheinbar rationale Kaltblütigkeit des Terroristen Breivik auf den ersten Blick nicht darauf schließen lässt, ist die psychologische Ursache solcher Gewaltausbrüche immer Angst. Zu fragen wäre also, welche Umstände einem "normalen" jungen Mann im saturierten Nordeuropa derart Angst machen können, dass er sich zu einem solchen Massenmord getrieben fühlt. Ein mandschurischer Kandidat, der von dämonischen Geheimdiensten herangezüchtet wurde? Okay, wir warten auf den entsprechenden Thriller. Ein von islamophoben Hasspredigern und militanten Laptop-Bombern indoktriniertes, ungeliebtes, narzisstisches Muttersöhnchen, das in von Speed angetriebenen Größenwahn ein unübersehbares Ausrufezeichen setzen muss? Wir warten auf die erste Biografie. Ein moderner Faschist, der Schwule und Juden am Leben lassen will sofern sie sich dem Kampf anschließen, und der nach dem Fanal seines "Putschversuchs" und der "Festungshaft" zum Held der "Bewegung" zu werden hofft?

Für's erste sind seine Gesinnungsgenossen über den "Bärendienst" schockiert. Der Islamhass, der die rechte Front von dumpfen Neonazis bis zu geföhnten Neocons, von fundamentalistischen Christen bis zu militanten Israelisten als ideologischer Kitt zusammenhielt, ist für's erste desavouiert; ebenso wie die hiesigen Chefideologen der moslemischen Weltverschwörungstheorie, die sich indessen - ganz brandstiftertypisch-biedermännisch geben: Thilo Sarrazin und seine Fanboys mokieren sich aktuell über mangelnde Meinungsfreiheit, wenn ihnen auf dem Türken-Markt in Kreuzberg der Stinkefinger gezeigt wird, von jenen Gemüsehändlern, die er für die Apokalypse Deutschlands verantwortlich macht. Und Henryk Broder, dessen Witzigkeit wie sein Lieblingsland bekanntlich keine Grenzen kennt, sorgt sich nicht um die Mordopfer seines Fanboys Breivik, sondern um die Ersatzteile seines alten Morris.

Dass jemand die paranoiden Fiktionen von der drohenden Machtübernahme des Islam in Euoropa für bare Münze nimmt und seine wahnsinnigen Konsequenzen zieht, kann man den Autoren nicht vorwerfen - derart haltlose Verschwörungstheorien in die Welt zu setzen und zu propagieren aber sehr wohl. Ohne diesen geistigen Werkzeugkasten, ohne die Propaganda-Phrasen vom "Kampf der Zivilisationen", ohne die Angstmache vor den "islamischen Horden" und dem "Tod des Westens" ist das Wahn- und Weltbild des Terroristen Breivik nicht vorstellbar

"Verschwörungstheoretiker" sind freilich immer die andern - und "Terroristen" immer nur Moslems. Dass laut Europol von den 249 terroristischen Straftaten im Jahr 2010 ganze drei einen "islamistischen" Hintergrund hatten - geschenkt. Der Muselmann weiß sich eben zu tarnen und arbeitet heimtückisch an der demographischen Lawine, der iranischen Atombombe und der Unterwerfung des gesamten Abendlands - eine unsichtbare, tödliche Gefahr, die von beschwichtigenden "Gutmenschen", linken "Kultur-Marxisten" und friedlichen "Multi-Kulturalisten" gefördert wird. Und das wird man doch wohl noch sagen dürfen! In der Tat, Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut - auch paranoiden, islamophoben Psychopathen steht ihre Meinung zu. Verhindert werden muss jedoch, dass ihr Wahnsystem als Gebrauchsanweisung verstanden wird. Die "Protokolle der Weisen von Mekka" des Anders Behring Breivik sollten deshalb dringend zum Gegenstand von Forschung und Lehre werden.