"Qualifikationsbedingte Lohnunterschiede"

Laut einer aktuellen Studie bewegen sich die Reallöhne von Geringqualifizierten in Deutschland auf dem Niveau der 80er Jahre. Aber auch andere Beschäftigte haben Probleme auf dem vermeintlich boomenden Arbeitsmarkt

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Wenn das persönliche Wohlbefinden auch von der Vergleichbarkeit der Lebensumstände abhängt, dann haben Geringqualifizierte hierzulande ein Problem, das über finanzielle Schwierigkeiten hinausweist. Wer weder das Abitur noch eine Berufs- oder Hochschulausbildung vorweisen kann, ist von der Zunahme des gesellschaftlichen Wohlstands offenbar komplett abgekoppelt.

Diese Vermutung legt eine Studie von Joachim Möller nahe, die Anfang der Woche vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung veröffentlicht wurde und auf dem umfangreichen Datenmaterial der "Stichprobe der integrierten Arbeitsmarktbiographien" basiert. Analysiert wird ausschließlich die Lage von vollzeitbeschäftigten 40-jährigen Männer aus Westdeutschland, da die Verdienste von Frauen nach Angaben des Autors schwerer zu vergleichen sind und Daten aus dem Osten der Republik erst seit 1992 erhoben werden.

Möller ist Direktor der Forschungseinrichtung, die als eigene Dienststelle zur Bundesagentur für Arbeit gehört. Kein linker Ideologe also, der da behauptet, dass sich die Reallöhne von Geringqualifizierten in etwa auf dem Niveau des Jahres 1984 bewegen. Allen anderen Beschäftigten geht es zumindest in dieser Hinsicht deutlich besser. Universitäts- und Fachhochschulabsolventen, Arbeitnehmer mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung, aber auch Beschäftigte, die nur das Abitur vorweisen können, verdienen nicht nur deutlich mehr als Geringqualifizierte. Sie können auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Abstand zur untersten Qualifikations- und Lohnebene stetig wächst. Wer 1984 eine Berufsausbildung abgeschlossen hatte, konnte durchschnittlich 19 Prozent mehr verdienen als ein gleichaltriger Ungelernter. Bis 2008 stieg diese qualifikatorische Rendite auf 26,7 Prozent. Für Universitätsabsolventen zahlte sich die Ausbildung in noch größerem Umfang aus. 1984 verdienten sie 112,6 Prozent mehr als ein Geringqualifizierter, bis 2008 wuchs der Vorsprung um 45,7 auf 158,3 Prozent.

Für die Entwicklung der Reallöhne hatte diese Ungleichheit naturgemäß erhebliche Konsequenzen. Abiturienten (plus 27 Prozent), Universitätsabsolventen (plus 22 Prozent), Arbeitnehmer mit Berufsausbildung (plus 7 Prozent) sowie Meister, Abiturienten mit Berufsausbildung und Fachhochschulabsolventen (plus 17-18 Prozent) konnten allesamt einen spürbaren realen Verdienstzuwachs verzeichnen.

Die Geringqualifizierten mussten dagegen – nach einem vorübergehenden Anstieg in der zweiten Hälfte der 80er Jahre – einen Rückfall auf das Niveau hinnehmen, das bereits vor einem Vierteljahrhundert erreicht wurde. Glaubt man den jüngst publik gewordenen Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, teilen die Geringqualifizierten dieses Schicksal mit der nicht zwingend identischen Gruppe der Geringverdiener. Ihr Reallohn soll 2010 um 16 bis 22 Prozent niedriger gelegen haben als noch im Jahr 2000.

Dabei entwickelten sich die verschiedenen Qualifikationsgruppen keineswegs einheitlich. Die Lohnspreizung vergrößerte sich auch innerhalb der einzelnen Segmente.

In Deutschland (…) galt der Niedriglohnsektor lange Zeit als unterentwickelt. Dies hat sich inzwischen erheblich gewandelt. Deutschland gilt heute als eines der OECD-Länder mit dem höchsten Anstieg der Lohnungleichheit. Bemerkenswert ist, dass die Lohnunterschiede nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Qualifikationsgruppen gewachsen sind. Dabei haben sich die Löhne sowohl im unteren als auch im oberen Bereich der Einkommensverteilung aufgefächert.

Joachim Möller

Ursachenforschung

Der technische Fortschritt bietet allein keine ausreichende Erklärung für die kritische Situation der Geringqualifizierten, meint Joachim Möller und verweist auf die Einführung der Fließbandproduktion, die den gegenteiligen Effekt zur Folge hatte. Nun aber wirkt sich das Grundprinzip Angebot und Nachfrage nicht mehr zum "Vorteil" der Ungelernten aus, denen nach Einschätzung des Autors grundlegende Qualifikationsmerkmale fehlen, die vom Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts verlangt werden. Möller nennt in diesem Zusammenhang den organisatorischen Wandel mit den Notwendigkeiten des Multitasking, den Ausbau flacher Unternehmenshierarchien, die höhere Anforderungen für die Arbeitnehmer mit sich bringen und – wie so oft – die Globalisierung.

Durch die stärkere Integration der Entwicklungs- und Schwellenländer in die Weltwirtschaft ist das Potenzial an Arbeitskräften mit einfachen Kenntnissen enorm gestiegen. Diese "Reservearmee" billiger Arbeitskräfte wird von international agierenden Unternehmen immer stärker genutzt. Die Produktion, die auf Routinetätigkeiten beruht, steht deshalb in den Hochlohnländern auf verlorenem Posten.

Joachim Möller

Dass die fortschreitende Lohnspreizung und der exzessive Ausbau eines Billiglohnsektors diese sehr allgemeinen Faktoren vor Ort begünstigt haben und nach wie vor politisch gewollt sein könnten, steht nicht in Möllers Studie. Auch die Frage, inwieweit ein effektiveres Bildungssystem ohne soziale Auslese mögliche Qualifikationsnachteile egalisieren könnte, wird hier nicht diskutiert. Das Fazit des IAB-Direktors endet in einem anderen Konjunktiv.

Die Lohnungleichheit ist sowohl im oberen als auch im unteren Bereich der Lohnskala deutlich angestiegen. Ob dieses Mehr an Ungleichheit notwendig war, um Personen mit niedriger Produktivität rentabel beschäftigen zu können, ist zumindest umstritten. Auch für Deutschland könnte das Verdikt des amerikanischen Ökonomen Alan Krueger über den Anstieg der Ungleichheit in den USA gelten: "Zuviel des Guten".

Joachim Möller

Politische Konsequenzen

Jutta Krellmann mag es deutlicher. "Es muss endlich Schluss damit sein, dass die Beschäftigten den Lohndumping-Strategien der Unternehmen ohne gesetzlichen Schutz ausgeliefert sind", meint die Sprecherin für Arbeit und Mitbestimmung der Linksfraktion mit Blick auf die neuesten Zahlen es IAB. Sie fordert deshalb erneut einen gesetzlichen Mindestlohn nebst einer "handfesten Regulierung des Niedriglohnsektors".

Dabei geht es nicht nur um eine Gerechtigkeitslücke, weil die Löhne seit Jahren von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt sind. Diese Lohnentwicklung ist überdies pures Gift für die Binnenwirtschaft und schadet den Sozialversicherungssystemen des Landes. Die Zahl der sogenannten Hartz-Aufstocker steigt ebenso wie das Heer der Arbeitnehmer, die sich in Folge ihrer geringen Löhne auf Altersarmut einstellen müssen.

Jutta Krellmann

Auch die Grünen fordern seit geraumer Zeit mehr Fördermöglichkeiten für Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte, und bei der SPD stehen viele gute Absichten sogar in einem aktuellen Regierungsprogramm, "denn für gering Qualifizierte bietet der Arbeitsmarkt in Zukunft noch weniger Möglichkeiten als heute".

Stadtteile mit hohen Anteilen von Familien mit geringem Einkommen oder Migrationshintergrund müssen exzellent ausgestattete Kindertagesstätten, Horte und Schulen haben, um die soziale und kulturelle Integrationsaufgabe meistern zu können.

SPD-Regierungsprogramm für Hamburg

Eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten neue Chancen eröffnet, gilt vielen Beobachtern ebenfalls als probates Mittel, um die Gesamtsituation sozial ausgewogener zu gestalten. Doch mit der Unterstützung der Bundesregierung werden sie vorerst nicht rechnen können. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) will hier bis 2015 rund acht Milliarden Euro einsparen.

Risikogruppen

Dass die Lage für Geringqualifizierte besonders kritisch ist, zeigt auch eine neue Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Demnach arbeiten derzeit rund 4 Millionen Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Doch allein im ersten Halbjahr 2011 wurden etwa 10 Prozent von ihnen arbeitslos. Die Unsicherheit in Form einer hohen Fluktuation betrifft auch alle anderen Qualifikationsgruppen, aber in durchaus unterschiedlicher Intensität.

Das Zugangsrisiko in Arbeitslosigkeit ist für Beschäftigte ohne Berufsabschluss fast doppelt so hoch wie für Beschäftigte mit Berufsausbildung und sogar fast dreimal so hoch wie für Beschäftigte mit akademischer Ausbildung.

Wilhelm Adamy: DGB-Analyse - Arbeitsplatzverlust 2011

Das eine Risiko zieht das andere nach sich, denn im Falle der Arbeitslosigkeit droht vielen Geringqualifizierten Hartz IV – und das ohne jeden Zeitverzug. Nach DGB-Berechnungen werden nur 58,5 Prozent zunächst von der Arbeitslosenversicherung aufgefangen.

Im Hartz-IV-System versammeln sich die Probleme dann zu einem Dauerzustand der Mangelerscheinungen: Arbeitslosigkeit trifft auf Armut und fehlende Qualifikationen für den modernen Arbeitsmarkt. Über 50 Prozent der Arbeitslosen Hartz IV-Empfänger haben keine Berufsausbildung.

Der DGB plädiert deshalb für eine steuerfinanzierte Weiterbildungsinitiative im Sinne einer "2. Chance für Erwachsene ohne Berufsabschluss". Damit soll nicht nur der Verarmung und Ausgrenzung ganzer Bevölkerungskreise entgegengewirkt, sondern auch der viel und kontrovers diskutierte Fachkräftemangel eingedämmt werden. Wenn es ihn denn in der von Arbeitgeberseite beschworenen Form überhaupt gibt. Schließlich haben im ersten Halbjahr 2011 auch 908.000 Beschäftigte mit betrieblicher Ausbildung ihren angestammten Job verloren.

In einem Punkt wird man der Gewerkschaft kaum widersprechen können. "Die Defizite in der Aus- und Weiterbildung vergangener Jahre werden sich keinesfalls von selbst lösen", sagt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach.

Im Juli 2011 wurden im Hartz IV-System bereits 28 Prozent weniger Personen gefördert als noch ein Jahr zuvor. Wenn nicht gegengesteuert wird, droht ein Fachkräftemangel bei gleichzeitiger Verhärtung der Arbeitslosigkeit.

Annelie Buntenbach

Unzufriedene Arbeitnehmer

Dass sich die Schwierigkeiten nicht auf die unteren Qualifikations- und Einkommensgruppen des deutschen Arbeitsmarkts beschränken, beweist eine dritte Untersuchung, die fast zeitgleich mit den Studien von IAB und DGB veröffentlicht wurde.

Das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen analysiert darin die Arbeitszufriedenheit in Deutschland im Zeitraum von 1984 bis 2009. Demnach sank der Durchschnittswert auf einer Skala von 0 bis 10 von 7,6 Punkten (1984) auf 6,8 Punkte (2009), wobei die geringsten Werte durch Erwerbstätige mit niedrigen Bildungsabschlüssen erzielt wurden. Deutschland liegt im europäischen Vergleich auf Platz 18, nur die Menschen in der Slowakei, der Ukraine, Bulgarien und Russland sind mit ihren Arbeitsbedingungen noch unzufriedener.

Das Autorenteam um den Soziologen Marcel Erlinghagen macht die zunehmende Arbeitsbelastung, Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch geringe Lohnsteigerungen und die wachsende Unsicherheit über die berufliche Zukunft für die ernüchternden Befunde verantwortlich. Gleichzeitig warnen die Forscher vor Wettbewerbsnachteilen für den Wirtschaftsstandort Deutschland, die in der bisherigen Diskussion offenbar zu wenig berücksichtigt wurden.

Möglicherweise ist die langfristig abnehmende Arbeitszufriedenheit auf ein im internationalen Vergleich sehr niedriges Niveau ein Ergebnis der Standortdebatte der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, in denen der Wirtschaftsstandort Deutschland nach innen systematisch schlecht geredet worden ist. Kurzfristig mag das Kalkül aufgegangen sein, durch die Drohungen mit Standortverlagerungen eine Intensivierung der Arbeit und niedrige Löhne durchzusetzen. Das Ergebnis könnte jedoch für deutsche Unternehmen langfristig fatal sein, wenn nicht endlich eine längst überfällige Debatte um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Betrieben einsetzt. Dazu gehört nicht nur eine verbesserte Lohnentwicklung, sondern auch die Reduktion von Stress und die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind dringend anzugehen.

IAQ-Report 2011-03