Gefährlicher Internetaktivismus

In den Aufständen des "Arabischen Frühlings" spielte das Internet eine mobilisierende Rolle. Aber seit die Bevölkerung ihre Regierungen in die Enge treibt, schlagen diese zurück

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"Die Revolution revolutionierte die Konterrevolution." So formulierte der französische Schriftsteller und Kampfgenosse Che Gueveras Régis Debray seine Erfahrung, dass der Guerillakampf in Südamerika vor allem dazu führte, dass die von ihnen bekämpften Diktaturen ihrerseits neue, wirksamere Methoden der Repression fanden. An die Auseinandersetzung um die Kontrolle des Internets dachte Debray dabei nicht. Aber seine Erkenntnis passt darauf ebenso gut. Die Aufstände in Iran, Tunesien, Libyen oder Syrien führen dazu, dass die Regime ihre Methoden verfeinern, um den Informationsfluss zu kontrollieren.

Wie wichtig die Kommunikation über das Netz, soziale Medien und mit Mobiltelefonen für die Welle der Aufständen war, ist zurecht umstritten ("Der Backlash gegen WikiLeaks war zu erwarten!"). Auf Tunesien oder Ägypten gemünzt ist der Ausdruck "Facebook-Revolution" jedenfalls gleich doppelt falsch - denn bis jetzt handelt es sich weder um erfolgreiche Umstürze, noch war die Kommunikation über das Netz wirklich entscheidend. Mehr Sorgen als die räsonierenden Kommentatoren im Netz dürfte den Regierungen die kurzfristige Koordination auf der Straße mit Mobiltelefonen machen. Aber die Regierungen in der Region verstärken auch die Überwachung und Repression von missliebigen Netznutzern.

Ein gesäubertes Netz?

Besonders ehrgeizig ist die iranische Regierung. Ihr Vorhaben, ein "nationales Internet" zu errichten, macht scheinbar Fortschritte. Noch in diesem Monat soll eine Testversion in Betrieb genommen werden, gab das iranische Ministerium für Kommunikations- und Informationstechnologie jetzt bekannt. Ziel des "nationalen Netzes" sei, "Emails und Informationssuche im Land besser zu verwalten und die Sicherheit zu erhöhen", sagte der zuständige Minister Reza Taqipour Anvari. Er kündigte außerdem an, Anfang 2012 werde eine iranische Suchmaschine in Betrieb gehen. Sie soll "Ya Haq" ("Oh Wahrheit!") heißen.

Regierungsvertreter sprechen in diesem Zusammenhang gerne von einem "sauberen Internet". "Unmoralische Inhalte" wie Pornographie, Glücksspiel und das Werben für andere Glaubensrichtungen als den Islam hätten dann im Netz keinen Platz mehr - ebenso wenig wie Kritik am Regime der Mullahs. Übrigens wird die iranische Regierung angeblich bei diesem Projekt von nicht namentlich genannten "ausländischen Beratern" unterstützt.

Für die internationale Organisation "Reporter ohne Grenzen" zeigen die Pläne, "dass das Regime eine vollständige Zensur über alle Kanäle der Informationsverbreitung verhängen will". Sie vermutet, das neue System werde zunächst parallel zum Internet eingeführt, um es zu einem späteren Zeitpunkt zu ersetzen. Lediglich Banken und staatliche Einrichtungen, die aus politischen und wirtschaftlichen Gründen auf internationale Nachrichten angewiesen sind, würden weiterhin Zugang zum Netz haben.

Wie das "nationale Internet" technisch funktionieren soll, ist unklar. Möglich wäre, die Nutzer zu zwingen, nur inländische Server zu benutzen, die wiederum mit Whitelists erlaubter Internetseiten aus dem Ausland arbeiten würden. Möglicherweise hält sich die Regierung über die technische Funktionsweise bedeckt, damit die Maßnahme nicht schon vor dem Start kompromittiert wird.

Neben der technischen Aufrüstung überzieht das Regime Kritiker weiterhin mit Repressalien. Laut "Reporter ohne Grenzen" sind im Iran gegenwärtig mindestens 16 Cyberaktivisten und 25 Journalisten im Gefängnis.

"Internet aus dem Koffer"?

Das radikale Projekt der iranischen Regierung ist wahrscheinlich auch ein Ausdruck ihrer Frustration darüber, dass sie beim Katz-und-Maus-Spiel zwischen Nutzern und Zensoren immer nur für kurze Zeit einen Vorsprung erzielt. Aber auch das Abklemmen des Landes vom Internet wäre möglicherweise nicht völlig erfolgreich. Als die Mubarak-Regierung das Internet abschaltete, kramten manche Ägyptern ihre alten Modems aus und wählten sich über normale Telefonverbindungen bei Servern im Ausland ein.

Die amerikanische Regierung bemüht sich unterdessen, ihrer Lieblingsrolle als Vorkämpferin für die Freiheit des Netzes gerecht zu werden. Teil dieser Politik ist das Projekt "Internet im Koffer", berichtete die New York Times im Juni.

Auch wenn eine Regierung das Telefonnetz des Landes vollständig unter ihre Kontrolle bringt, so die Idee, könnte man mit einem eigenständigen Funknetz aus verschiedenen Endgeräten den Zugang zum Internet sichern. "Wir werden eine separate Infrastruktur bauen, die fast unmöglich abgeschaltet, kontrolliert oder überwacht werden kann", zitiert die NYT den technischen Leiter des Projekts Sascha Meinrath, Direktor der Open Technology Initiative. Das Außenministerium fördert das "Internet im Koffer" angeblich mit 2 Millionen Dollar.

Seinen Namen trägt das Projekt, weil das nötige Equipment in einen Koffer passen soll. Dabei handelt es sich um Funkverstärker, Kabel und USB-Sticks, CDs mit Software, die die Nutzer auf ihren Geräten installieren müssen, außerdem Software zur Verschlüsselung der Kommunikation und ein Notebook, das das anspruchsvolle Routing des Netzes übernimmt.

Diese Geräte müssten ins Landesinnere geschmuggelt werden. Computer, Mobiltelefone und andere mobile Endgeräte würden ein eigenständiges "vermaschtes" Netz bilden, bei dem jeder Teilnehmer Datenpakete an die anderen weiterleitet. Mittels einer Mobilfunkverbindung über die Landesgrenze zu einem Server im Ausland könnten die Nutzer dann das Internet erreichen.

Die iranische Regierung behauptet allerdings, sie habe bereits die nötigen Gegenmaßnahmen getroffen und ihre Nachrichtendienste hätten "eine gute Kontrolle über das Internet". In der regierungsnahen Nachrichtenagentur FARS rechtfertigt sie ihre Zensurmaßnahmen damit, das Ziel des US-amerikanischen Projekts sei lediglich, die Verbindungen zwischen inländischen Dissidenten und der CIA zu verbessern.

Sorglosigkeit trotz Repression

Nicht alle Regime gehen so weit wie der Iran, aber sicherlich beobachten sie das Experiment eines eingehegten Netzes mit großem Interesse. Bisher verlassen sie sich auf die gängigen Methoden der Internetzensur: Sie identifizieren Dissidenten, überwachen ihre Kommunikation und versuchen, sie zum Schweigen zu bringen.

In vielen Ländern im Nahen Osten und Nordafrika ist es für Netznutzer deutlich riskanter, sich regierungskritisch zu äußern: "Digitale Kommunikation ist eine gefährliche Angelegenheit geworden, besonders für Aktivisten, politische Dissidenten und unabhängige Medien." Das jedenfalls behauptet das Berkman Center for Internet & Society.

Dieses Forschungsinstitut ist an der Harvard University angesiedelt und wird von fast allen namhaften amerikanischen Internetkonzernen finanziell unterstützt. Die (http://) Studie Online Security in the Middle East and North Africa: A Survey of Perceptions, Knowledge, and Practice wurde außerdem unter anderem vom Außenministerium der Vereinigten Staaten gesponsert.

580 Blogger aus dem Nahen Osten und Nordafrika wurden kontaktiert. 98 füllten den Fragebogen aus und berichteten über ihre Erfahrungen mit staatlicher Zensur und wie sie sich dagegen zu schützen versuchen. Die Fragen behandelten vor allem das Nutzungsverhalten von Internet und Mobilfunk.

Bei den Teilnehmern handelt es sich überwiegend um Angehörige der Mittelschicht, die (wenigstens zum Teil) auf Englisch publizieren und auch Leser im Ausland erreichen wollen. Mehr als 90 Prozent haben einen Universitätsabschluss. Frauen sind fast so häufig vertreten wie Männer. Drei Viertel nutzen Gmail und/oder Facebook - denn dort sind fast alle ihrer Bekannten. Interessanterweise gaben viele von ihnen an, sie stünden weniger im Fokus der Behörden, weil sie nicht in der Landessprache berichten und kommentieren.

Bei ihrer Wahl der Plattformen sind Sicherheitserwägungen zweitrangig. Wichtig ist den Bloggern vor allem, wie bedienungsfreundlich die Angebote sind. Erstaunlicherweise sind sich fast alle der Gefahr bewusst, wegen ihrer Aktivitäten negative Konsequenzen zu erleiden - aber nur eine Minderheit versucht aktiv, sich vor ihr zu schützen! Fast die Hälfte gibt ihren vollständigen Namen und die persönliche Email-Adresse preis. 42 Prozent veröffentlichen ein Foto von sich und vier Prozent sogar die private Telefonnummer.

Dass sie kaum versuchen, ihre Identität zu verbergen, begründen einige politisch. Statt auf Anonymität setzen sie auf politischen Druck, indem sie in aller Öffentlichkeit für ihre Meinung einstehen. In den repressivsten Ländern der Region wie in Syrien sind die Blogger allerdings weniger freigiebig mit ihren persönlichen Informationen.

Die wenigsten nutzen kryptographische Software. Das sorglose Verhalten im Netz macht den Autoren der Studie auch deshalb Sorgen, weil Polizei und Geheimdienste verstärkt versuchen würden, die Computer mit Malware in Email-Anhängen zu kompromittieren.

Dabei hatten erstaunlich viele der Interviewten selbst schon unter Repressalien zu leiden! Jeder fünfte erklärt, seine Online-Accounts seien einmal oder mehrmals gehackt worden. Neun Prozent der Befragten wurden sogar schon einmal verhaftet oder von Polizei verhört. Ein Drittel wurde von offiziellen Stellen oder Unbekannten bedroht. Viele sagen außerdem, wegen ihres Internetaktivismus hätten sie ihre Arbeitsstelle verloren oder seien dort verwarnt worden.