Überlegungen zum demokratischen Potential des Web 2.0

Medien verändern Öffentlichkeit und Demokratie

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Öffentlichkeit und Demokratie stehen aus der Sicht der Politik- und Kommunikationswissenschaft in einem direkten Zusammenhang.1 Das Internet im Allgemeinen, und seit einigen Jahren nun das Web 2.0 im Besonderen, wird von vielen als eine Art Demokratisierungsmaschine betrachtet, gerade weil es Öffentlichkeit herstellt und weil die Verknüpfung von Öffentlichkeit mit Demokratie nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit gängig ist.

Da es schon häufiger zu Revolutionen in der medialen Welt kam und auch einige Skeptiker den Nexus von Öffentlichkeit, Demokratie und Internet in Frage stellen, sollen hier diesbezüglich zwei zentrale Fragen gestellt und beantwortet werden. Die erste ist die, ob das Phänomen der Medialisierung, das den Zusammenhang von Öffentlichkeit, Demokratie und Medien mal positiv mal negativ beschwört, tatsächlich ein neues Phänomen darstellt, oder ob es doch nur ein immer schon dagewesenes Phänomen neu formuliert. Diese Frage sollte sich im Laufe dieses Artikels von alleine klären. Die zweite Frage lautet: Inwiefern wird das Verhältnis von Öffentlichkeit und Demokratie von den Medien beeinflusst? Um dieses Thema zu erörtern, werde ich mit einer ideengeschichtlichen Rückschau beginnen, um dann vor diesem Hintergrund mich mit dem Web 2.0 und dem Zusammenhang von Öffentlichkeit und Demokratie auseinandersetzen.

Das aufgeklärte Publikum und seine Medien

Hierzu möchte ich historisch etwas ausholen. In der Berlinischen Monatsschrift tobte seit 1783 eine Auseinandersetzung über die Frage "Was ist Aufklärung?" Die Berlinische Monatsschrift stellte im absolutistischen Preußen Friedrich II. eine Art literarische Bühne der Aufklärung dar, die das gebildete Bürgertum auch über weite Räume versammelte und so die bürgerlichen Salons in Berlin und anderen Städten kurzschloss.2 Diese Zeitschriften waren, mit McLuhan gesprochen, eine "Extension of Man" in der Hinsicht, dass sie die mündlichen Debatten in privaten geschlossenen Räumen nach außen in die Öffentlichkeit trugen und weit entfernte Bürger zusammenführte zu einem aufgeklärten, politischen Publikum.

Was heißt das? Mit einem Mal gab es also eine bürgerliche Öffentlichkeit, die sich über politische Fragen stritt. An dieser bürgerlichen Öffentlichkeit hatten u.a. auch bekannte Persönlichkeiten wie Kant, Fichte und Schlegel ihren Anteil und trugen wohl zu deren Popularisierung bei.

Was aber hatte die Entstehung einer solchen Öffentlichkeit für Konsequenzen? Eine intellektuelle Öffentlichkeit, die über politische Fragen stritt, nicht mehr nur über ästhetische oder philosophische!

Das gebildete Bürgertum eroberte sich einen Raum öffentlicher Meinungsbildung und Kritik, den später parlamentarische Versammlungen übernahmen und zu einem beträchtlichen Teil absorbierten.

Andreas Frei

Die fehlenden politischen Institutionen wurden durch eigene Institutionen wechselseitiger Kommunikation ersetzt. Und dort wurden Fragen bezüglich des Verhältnisses von Kirche, Aufklärung und Staat kontrovers diskutiert. Dadurch musste sich der monistische Staat herausgefordert fühlen - immerhin ging es hier darum, ob die Gesetze, Handlungen und auch die Verfasstheit des absoluten Staates gut oder schlecht seien.

Die Einführung des unabhängigen Maßstabs eines Natur- bzw. Vernunftrechts ermöglichte der bürgerlichen Öffentlichkeit eine kritische Distanz zu dem bestehenden Staatswesen. Die Frage, die sich nun stellte, war die: unterminierte eine solche öffentlich betriebene Aufklärung die öffentliche Ordnung oder stärkte sie sie durch vernünftige Vorschläge?

Letzten Endes ging es um die Frage: Lässt der Staat sich von einer bürgerlichen Öffentlichkeit öffentlich "zurechtweisen" oder verbittet er sich das? Es ging um mehr als um die Frage Meinungsfreiheit oder Zensur, es ging um die Frage Republikanismus oder Absolutismus.

Bürgerliche Öffentlichkeit als Korrektiv der Staatsmacht

Für Kant war klar, dass sich im öffentlichen Vernunftgebrauch eine Pflicht der Bürger verbirgt, die auf lange Sicht das Entstehen einer Republik bewirkt. Dass das erstrebenswert ist, wird spätestens in Kants Streit der Fakultäten deutlich: Kant sieht die Französische Revolution und den Republikanismus als Fortschritt an - aus moralischer und politischer Perspektive.

Kants Demokratiekonzept, wenn ich das mal so sagen darf, ist mit der Einteilung von Renate Martinsen in ihrem Aufsatz "Öffentlichkeit in der Mediendemokratie aus der Perspektive konkurrierender Demokratietheorien" dem liberalen Paradigma zuzuordnen. Die bürgerliche Öffentlichkeit soll natürlich nach Kant nur als "Resonanzboden" fungieren und die "Publikumswünsche" an die legitimen Vertreter herantragen.3

Die Zeitschriften des preußischen intellektuellen Bürgertums haben eine Medialisierung betrieben. Sie haben eine vorher nicht existente Öffentlichkeit hergestellt und eine Politisierung mit sich gebracht. Der Staat und seine Politik wurden nun beobachtet und der Staat war sich dessen bewusst und reagierte darauf. Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II. wurden die Zensurbeschränkungen verstärkt - und damit wurde klar: Er hatte die Botschaft des politisch räsonierenden Publikums gehört, aber nicht verstanden!