"Wind of Change"?

Überlegungen zu Umgangsformen mit Geschichte im Web 2.0

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Veränderungen der Vergangenheit in der Gegenwart: "Listening to the wind of change" klingt es aus den Lautsprechern des Computers. Auf dem Bildschirm ist in historischen Filmaufnahmen zunächst der Bau und anschließend der Fall der Berliner Mauer zu sehen. Die Mühen der Herstellung und des Einstellens im Portal lohnen sich offensichtlich für die 'Produzenten' solcher Darstellungen, einmal, so lässt sich vermuten, durch die Freude an der Erstellung, dann durch die Resonanz, die von Nutzerinnen und Nutzern des Portals kommt und die eine solche Seite aufrufen.

Gut 280.000 Klicks (Stand: 19. August 2011) in rund dreieinhalb Jahren gab es bereits auf die Filmzusammenstellung von Webnutzer 'ScorpionKirstie' mit dem Titel "Berlin Wall 1961-1989". Darin wird über die sieben Minuten Dauer des Videos das Lied der Scorpions mit dem Titel "Wind of Change" genutzt, um einen emotional besonders aufgeladenen Moment der jüngeren deutschen Geschichte zu untermalen und herauszustellen. Dazu bietet da Video neben Fakten zur Berliner Mauer vor allem Aufnahmen aus dem Landesarchiv Berlin aus den sechziger Jahren, als die Mauer errichtet wurde, ergänzt um einige Passagen aus dem deutschen Fernsehen, die erstmals in den Berichten über die Wende 1989 und 1990 zu sehen waren.

In wachsender Zahl, größerer thematischer Bandbreite und variationsreicherer Darstellungsweise sind solche "historischen" Videos auf Videoportalen im Internet wie YouTube inzwischen immer häufiger zu finden. Geschichte im Internet ist in Zeiten des Web 2.0 nicht nur gefragt, sondern wird dort, so eine wichtige Neuerung, vor allem von Nicht-Historikern verbreitet. Welche Themen und Ereignisse spielen eine Rolle, was interessiert die Menschen an der Vergangenheit? Welche Folgen hat das für den Umgang der Menschen mit Geschichte? Was bedeuten die neuen Formen und Medien im Umgang mit Geschichte für die Wissenschaft? Bergen sie eher Risiken oder neue Chancen und Potenziale, die es zu nutzen gilt?

Fragen wie diese lassen sich letztlich nur mit einem Blick in das tatsächliche Angebot an Geschichte im World Wide Web beantworten. Nur so wird ersichtlich, wie stark der "Wind of Change" tatsächlich durch die Geschichtspopularisierung weht.

Geschichte und ihre Popularisierungsinstanzen

Geschichte ist keineswegs erst seit der Zeit des Internets populär. Als Themenfeld erfreut sie sich großer Beliebtheit schon seit der Antike. Im 19. Jahrhundert, als sich Geschichte als moderne Wissenschaftsdisziplin etablierte, erhielt sie den uns heute bekannten Charakter. Zudem sorgten neue Vervielfältigungsmethoden und steigende Alphabetisierungsrate dafür, dass sie erstmals ein wirkliches Massenpublikum erreichten. Dazu trugen etwa namhafte Wochen- und Familienzeitschriften von der in Deutschland millionenfach gelesenen Gartenlaube über das britische penny magazine bis zu l‘illustration in Frankreich bei.

Solche Zeitschriften griffen in Text und Bild immer häufiger historische Ereignisse auf und fanden damit Absatz und Anklang bei ihren Leserinnen und Lesern. Im letzten Jahrhundert gesellten sich zu der bis heute existierenden Popularisierung in Zeitschriftenform erst der Film, dann das Radio und schließlich das Fernsehen mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Formaten hinzu. Spätestens seit dem Übergang zum 21. Jahrhundert übernehmen die digitalen Medien die Rolle der jüngsten und innovativsten Popularisierungsinstanz, fügen Infotainmentprogramme, Computerspiele (vgl. Potenziell bessere Vermittlungsinstanz) und nicht zuletzt Webseiten als neue mediale Träger von Geschichtsvermittlung hinzu.

Neben den Medien, mit denen sich Geschichte einer breiten Öffentlichkeit präsentieren lässt, spielt zugleich die Art der Vermittlung eine Rolle. Sie kann vom Fach- oder Sachbuchtext bis zum Historischen Roman reichen, von der wissenschaftlich aufbereiteten mehrteiligen Dokumentation bis zum monumentalen Filmspektakel im Hollywood-Stil.

Der Hollywood-Film dient ausschließlich der Unterhaltung, will in der Regel eigentlich gar keine Geschichte vermitteln, tut aber genau das, bzw. inszeniert ein bestimmtes Bild von Geschichte. Ob das Publikum nun glaubt, Geschichte zu sehen oder nur ein Bild von Geschichte, wurde bisher zu wenig empirisch untersucht, doch ist zu vermuten, dass gerade der Film mit seiner optischen Deutungsmacht Bilder im Kopf generiert, die in Ermangelung wirklich zeitgenössischer Bilder haften bleiben. Das geschieht, obwohl den meisten Zuschauerinnen und Zuschauern klar ist, dass ein Film eben nicht "Realität" widerspiegelt.

Das World Wide Web bietet darüber hinaus eine weitere Form der Vermittlung an: die Wiedergabe der eigentlichen Quelle. Bilder, Töne und Filme, die als Quelle historischer Forschung und Darstellung zu betrachten sind, finden sich vermehrt im Internet und hier besonders oft in Kontexten, die dem Web 2.0 zugerechnet werden können. Spezielle Plattformen für das Einstellen von Quellen aller Art wie Wikisource bzw. Wikimedia Commons, aber auch Portale wie YouTube oder Flickr bieten die Gelegenheit, Quellen nicht nur schnell und einfach online verfügbar zu machen, sondern, wie etwa im Fall von Texten und Bildern zu nur im privaten Bereich bedeutsamen Ereignissen, überhaupt erst als - potenzielle - Quelle historischer Forschung sichtbar werden zu lassen.

Geschichtspopularisierung vs. Geschichtswissenschaft

Solche "Quellen im Netz" sind für die Geschichtswissenschaft nicht nur ein Gewinn, sondern ebenso eine Herausforderung. Dass in vielen Fällen eher Zurückhaltung geübt wird, eingestellte Bilder oder Texte aus einem vergangenen Kontext sowie aktuelle Einschätzungen von ihnen heranzuziehen, kann nicht verwundern angesichts der Anonymität der Urheber, die die Einordnung vieler Quellen schwierig, wenn nicht unmöglich macht.

Hier ist klar zu unterscheiden zwischen einerseits dem Dokument oder Filmmaterial, das bislang nur im Archiv einzusehen war und nun per Mausklick abrufbar ist, und andererseits dem Material, das engagierte Hobbyhistoriker, geschichtlich Interessierte oder mitteilsame Menschen im Netz einer Öffentlichkeit überhaupt zum ersten Mal zugänglich machen. Beide Arten sind für die Geschichtswissenschaft interessante Quellenbereiche, obschon sich gerade in dem letzteren aufgrund einer besonderen Heterogenität der Materialien der Weg zu einer schlüssigen Fragestellung noch einmal erschwert hat und die Historikerzunft insgesamt den weiten Weg zum Web 2.0 noch lange nicht bis zum Ende beschritten hat 1.

Wenn die Forschungsfrage bzw. die Art des wissenschaftlichen Zugangs festgelegt ist, eröffnen sich wichtige Möglichkeiten. So erleichtert die Digitalisierung von Quellen nach wissenschaftlichen Standards die Arbeit der geschichtswissenschaftlichen Forschung merklich. Selbst die eher zufällig zustande gekommenen "Bestände" haben ihren Reiz für die Forschung, etwa in alltags-, mentalitäts- oder mediengeschichtlichen Kontexten. Schließlich verweist die Aufbereitung historischer Themen, die früher den Experten vorbehalten blieb, auf die Besonderheiten einer Popularisierung von Geschichte im Zeitalter eines verhältnismäßig leicht zu nutzenden Mediums.

Die Fragen an das von Privatpersonen aus dem eigenen Fundus eingestellte Material nach Verfasser, Zeit, Motivation, Zielgruppe, also die klassische Quellenkritik, sind der Geschichtswissenschaft durchaus vertraut und stellt deshalb trotz der bekannten Schwierigkeiten kein prinzipiell unüberwindliches Hindernis für eine Berücksichtigung bestimmter (Internet-)Quellen dar. Es sollte der Disziplin möglich sein, Methoden zu entwickeln, wie mit dieser Art von Anonymität umzugehen ist.

Alles neu im Web 2.0?

Was bedeutet nun aber speziell das Web 2.0, das sog. Social Networking, das 'Mitmach-Netz' für die Geschichte, ihre Darstellung und Rezeption. Ohne an dieser Stelle erneut auf die Bedeutung von Begriff und Phänomen Web 2.0 einzugehen, sei noch einmal die Möglichkeit für fast jeden betont, in diesem Mitmachmedium eigenes 'historisches' Material in Text, Bild oder Ton auf bestehenden Plattformen im Internet zugänglich zu machen. Damit ist zugleich bereits das wesentliche 'Neue' angesprochen, die Möglichkeit, dass jedermann seine eigene Wahrnehmung und Deutung geschichtlicher Ereignisse, selbst seine eigenen historischen Dokumente, seine 'Quellen' einbringen kann.

Die von Historikerseite in diesem Zusammenhang oft vorgebrachte Kritik, dabei handle es sich zumeist um einen unkritischen Umgang mit Geschichte, ist zwar sachlich richtig, führt aber weg von der Tatsache, dass es den wenigsten Nutzerinnen und Nutzern um eine wissenschaftliche Aufbereitung von Geschichte geht. Sie wollen eine persönliche Aussage zu einem historischen Ereignis oder über eine bestimmte Zeit treffen und diese mit anderen Internetnutzerinnen und -nutzern teilen - und das macht sie für die Geschichtswissenschaft wieder interessant.

In der Regel werden bei solchen Netzinhalten kaum Informationen über den Urheber gegeben, Informationen, die zur Dekodierung des Dargestellten und Geschriebenen in wissenschaftlichem Sinne wichtig wären. Allerdings ist die Bandbreite dessen groß, was über die eigene Person über die eingestellten Inhalte transportiert wird. Wer etwa seine privaten Schmalspurfilme digitalisiert und in einem Projekt wie dem Internet Archive zur Verfügung stellt, gibt sicher einige Hintergrundinformationen über die Herkunft und Inhalte des Archivmaterials an (z.B. hier oder ein anders gelagertes Beispiel dort). Diese sind, selbst wenn sie den Standards wissenschaftlicher Archive nicht genügen sollten, doch wesentlich, um die jeweilige Quelle leichter bzw. überhaupt erschließen zu können.

Screenshot Disneyland 1963

Noch anders verhält es sich mit privaten oder institutionellen Webseiten, die sich bestimmten, oft recht speziellen Themen der Geschichte widmen und diese gezielt einem interessierten Publikum präsentieren. Derartige Seiten sind allerdings keine Erfindung des Web 2.0, denn sie existieren seit der Einrichtung des World Wide Web. Das Angebot an Materialien oder Informationen bleibt aber in den meisten Fällen noch überschaubar - wie die Zahl der an den Seiten beteiligten Autorinnen und Autoren.

Ein Beispiel für eine solche Seite mit institutioneller Urheberschaft ist das Lebendige Museum Online, das Ende der 1990er Jahre vom Deutschen Historischen Museum in Berlin in Kooperation mit dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn eingerichtet wurde und sich in Form einer kommentierten Präsentation von Exponaten aus beiden Museen der Geschichte Deutschlands nach der Revolution von 1848/49 widmet. Private Initiativen gibt es unzählige, wobei hier die thematischen Schwerpunkte meist viel enger gefasst sind, so etwa die Berliner Verkehrsseiten, die sich seit 1999 als private Webseite mit der Geschichte des ÖPNV in der deutschen Hauptstadt beschäftigen, und dabei neben Informationstexten auch ein eigenes Medienarchiv bereitstellen.

Im Gegensatz zu diesen reinen Angebotsseiten stehen die Technologien des Web 2.0, deren Hauptaufgabe das Sammeln von Daten zu sein scheint, seien es Videos wie bei YouTube & Co., Fotografien in den Bilddatenbanden von Flickr u.ä. oder vornehmlich Texte enzyklopädischen Wissens, wie sie beispielsweise die Wikipedia anbietet. Das wirklich Innovative daran aus geschichtswissenschaftlicher Sicht besteht in dem Umstand, dass diese Seiten eben nicht für Geschichte gedacht und gemacht sind, dass die Nutzerinnen und Nutzer dort ihre Inhalte nicht einmal einstellen müssen, um damit Geschichte vermitteln zu wollen. Dennoch kann dies passieren, eben weil es ein breites Interesse an der Rezeption verschiedener historischer Themen gibt, die sich dann in den Nutzungszahlen der Angebote widerspiegeln.

Geschichte als Angebot im WWW

Wie sehen sie nun aus, die Angebote an Geschichte im weltweiten Datennetz? Unabhängig davon, ob es sich um Web 2.0-Anwendungen handelt oder nicht, muss man zwischen zwei generellen Ansätzen unterscheiden: Einmal gibt es die gezielt aufbereitete Geschichte, zu der einerseits der gesamte dokumentarische Bereich zu zählen ist, andererseits der fiktive Bereich von Romanen, Fernseh- und Spielfilmen. Beiden sonst so unterschiedlichen Ansätzen ist gemein, dass sie sich in der Gegenwart mit der Vergangenheit befassen, also mit aktuellen Interessen ein Bild der Geschichte konstruieren oder rekonstruieren.

Dieser Ansatz findet im Netz etwa bei Medienanstalten Verwendung, die eigene Sendungen oder die Jahrestage historischer Ereignisse mit gesonderten Webauftritten begleiten, so etwa das ZDF für die Sendereihe Die Deutschen oder der Sender arte mit Blick auf den 20. Jahrestag der Leipziger Montagsdemonstrationen mit der Präsentation Das Wunder von Leipzig.

Auf der anderen Seite stehen historische Dokumente, die ursprünglich in der Vergangenheit als Zeugnis der damaligen Gegenwart entstanden sind und erst durch ihr Alter heute als historische Dokumente zu gelten haben. Solche Daten haben Quellencharakter, obschon sie durch die digitale Aufbereitung natürlich nicht mehr im Originalzustand vorliegen. In inhaltlicher Hinsicht sind sie überdies ebenfalls verändert, ebenfalls aufbereitet, wenn auch ihren Urhebern in der Zeit ihrer Entstehung. Eine Auswahl oder Interpretation treffen solche Zeugnisse, die später als historische Quellen herangezogen werden, generell.

Zu den Webseiten, die Dateien in der Form bereithalten, gehören neben dem schon erwähnten 'Internet-Archive', das nicht direkt dem Web 2.0 Bereich zuzuordnen ist, aber dennoch Sammlungen aus Privatbesitz archiviert, institutionelle Angebote wie die Digitale Sammlung der Library of Congress oder die Digitalisate der Museumsstiftung Post und Telekommunikation.

Sie enthalten allerdings nur reine Abrufangebote, die es ausschließen, dass die Nutzerin oder der Nutzer eigene Materialien einbringen. Eigenen Content einstellen, eigenes Wissen mit anderen im Netz teilen, erforderte lange Zeit die Einrichtung einer privaten Homepage, eine Option, die selbst heute noch vielfach genutzt wird. Dabei ist die eigene (Lebens-)Geschichte ein gerne genutzter Stoff, der textlich und vor allem bildlich dargeboten wird: Kindheit, Urlaub, die Kinder, Familienfeiern und gesellschaftliche Feste sind dabei wiederkehrende Motive. Vereine oder andere Organisationen nutzen die Webseite ebenso, um über die eigene Geschichte zu informieren.

Alles dies sind Formen einer allgemeinen Erinnerungskultur, ein Teil unserer Alltagsgeschichte, wie sie von den jeweiligen Autorinnen und Autoren der Seiten in der Rückschau wahrgenommen wird. Für die Geschichtswissenschaft ist diese Art der Dokumentation des Alltäglichen nicht neu, denn jeder sammelt private Erinnerungsstücke in der einen oder anderen Form: die Arbeitsgrundlage der Disziplin. Die Erinnerungen von Menschen jenseits der ‚großen Geschichte‘ standen dabei lange Zeit nicht im Vordergrund, vieles wurde überhaupt nicht bewahrt, galt aufgrund der Ferne vieler Menschen zu den politisch bedeutsamen Entscheidungen als nicht bewahrenswert.

Hier vollzog sich im 20. Jahrhundert ein auffälliger Wandel, was unter anderem einer besonderen Form der Bewahrung, der der "Oral History", zum Aufstieg verholfen hat. Seit den siebziger Jahren sammelt sie in mündlicher Überlieferungsform Erinnerungen von Menschen zu ihrem Leben, etwa zu Kindheit, Arbeitsalltag oder dem Leben im Nationalsozialismus. Sie werden erfasst, verschriftlicht und anschließend ausgewertet. Dass die Erinnerungen von scheinbar bedeutungslosen Einzelpersonen Aufmerksamkeit finden, ist für die Geschichtswissenschaft demnach nicht neu.

Neu an den Präsentationen im World Wide Web ist allerdings die gestiegene Zahl derer, die sichtbar Materialien hinterlassen. Hinzu kommt der potenziell weltweite Rezipientenkreis und die Motivation bzw. Intention solcher Seiten. Die neuen technischen Möglichkeiten des ‚social networking‘ haben diesen Trend noch einmal verstärkt, weil die Hemmschwellen für das Einstellen eigener Materialien merklich reduziert wurden. Wer zuvor nicht die Möglichkeiten hatte, eine eigene Webseite einzurichten, sondern auf die Nutzung vorhandener Systeme angewiesen war, kann nun der 'Einladung zur jeweils eigenen Geschichte' ins Web 2.0 folgen.

Der Reiz einer Do it yourself-Geschichte

Das Besondere an Portalen wie Flickr, YouTube und Wikis wie Wikipedia ist eben die Tatsache, dass man eigene Inhalte ins Netz bringen kann. Das war von Anfang an vorgesehen und möglich. Die Seiten, die man heute dem Web 2.0 zurechnet, haben die Zugangsmöglichkeiten überaus vereinfacht, ein leichter zugängliches World Wide Web entstehen lassen, als es noch vor der Jahrtausendwende existierte. Davon profitieren natürlich alle Themen, die im Netz zu finden sind, darunter auch jene, die sich mit Darstellung und Interpretation von Geschichte befassen.

Mittlerweile kann eine breitere geschichtlich interessierte Öffentlichkeit selbst Geschichte(n) schreiben, kommentieren, bebildern, vertonen. Die Motive dafür dürften wohl äußerst vielfältig sein, obwohl ein gemeinsames Erinnern an bestimmte Ereignisse, die Erzeugung eines kollektiven digitalen Gedächtnisses durchaus eine Rolle spielen könnte. Indiz dafür ist die Tatsache, dass zeithistorische und positiv besetzte Themen, die eine Person selbst erlebt hat - und die in den Medien überdurchschnittlich präsent sind -, einen großen Anteil an den aufgearbeiteten Ereignissen haben, darunter auch die bereits angesprochenen Ereignisse um den Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in den Jahren 1989 und 1990.

Aber selbst alternative Geschichtsverläufe oder gar die Umdeutung bekannter Geschichtsverläufe finden im World Wide Web ihren Raum, wie schon in der dazugehörigen Literatur ebenfalls mit einer Konzentration auf ganz bestimmte Abschnitte der Vergangenheit. Das verweist bereits auf die Inhalte von Geschichte im Web 2.0, die so vielfältig sind wie die Nutzerinnen und Nutzer. Dennoch lassen sich gewisse Vorlieben ausmachen.

Interessen und Themen

Nimmt man die Videos mit historischen Inhalten - was angesichts des Primats des Visuellen in der heutigen Zeit durchaus dem Wahrnehmungsmuster vieler Menschen entsprechen dürfte - auf YouTube als Muster für die Präsenz von Geschichte im Netz, so kann man allein schon an den Zugriffszahlen ablesen, welche Themen die Menschen besonders faszinieren. Auffallend ist in diesem Zusammenhang die Vielzahl von Werbefilmen: Fernseh- aber auch Kinowerbung ist auf YouTube sehr häufig zu finden. Etwa aus dem Bereich der Autowerbung gibt es zahlreiche Varianten, nicht nur aus West-, sondern ebenso aus Ostdeutschland (vgl. Werbung VW und Wartburg).

Bekannte Werbefiguren wie etwa ‚Bruno‘, das HB-Männchen, haben ebenfalls ihren festen Platz in zahlreichen Varianten verschiedener Spots, Ausdruck einer medialen Aufbereitung vergangener Populärkultur - zumeist zum "Kult" stilisiert.

Von Mauerfall und Wiedervereinigung als Beispiel für politisch markante Großereignisse als weitere zentrale Themen war schon die Rede. Mit der Wende von 1989/90 beschäftigen sich verständlicherweise vor allem deutsche Nutzerinnen und Nutzer, doch viele englischsprachige Kommentare zeigen, dass die Ereignisse von 1989/90 ebenso auf internationales Interesse stoßen, so wie etwa der Besuch des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher in der Prager Botschaft am 30. September 1989 oder der eigens mit englischen Untertiteln versehene Bericht über die Ereignisse an der Bornholmer Straße in den Abendstunden des 9. November 1989 (mit mehr als 477.000 Zugriffen, Stand: 19.08.2011).

Der große Moment, das singuläre historische Ereignis, so deuten es zumindest die Zugriffszahlen an, fasziniert viele Menschen immer wieder. Sie bilden zeitliche Marker im Verlauf der eigenen Biographie. Poltische Ereignisse firmieren hier ebenso wie andere, etwa Sportereignisse, wobei die ersteren allerdings die großen Zugriffszahlen erreichen. So erfreuen sich etwa die 'großen' Reden der US-Präsidenten offenkundiger Beliebtheit, so Kennedys Rede vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin 1963 (mehr als 960.000 Zugriffe, Stand: 19.08.2011), Ronald Reagans Ansprache vor dem Brandenburger Tor 1987 ( 800.000 Zugriffe, Stand: 19.08.2011) oder Barack Obamas vielbeachtete Rede in Kairo 2009 (mehr als 845.000 Zugriffe, Stand: 19.08.2011). Die einzigen Videos historischer Relevanz, die noch stärker nachgefragt sind, bilden die zum 11. September 2001, also jene von den Terroranschlägen in New York und Washington. Hier gehen die Zugriffe bei einer Vielzahl der Videos in die Millionen.

Tradition im Netz oder digitaler Überrest? Die Absichten der Urheber

Das wachsende Interesse ist zugleich Reflex einer stärkeren Ausdifferenzierung der Erwartungen an das Medium. Die Materialien zu 9/11 sind ein illustratives Beispiel dafür. Während die Bilder im Wesentlichen nicht viel Neues zeigen, oft identisch sind mit dem Material, was in jedem Tagen in allen Fernsehanstalten rund um den Globus zu sehen war, kann man die Intention des einstellenden Nutzers nicht selten schon an der Namensgebung für das Video ablesen.

Während sich die einen auf die Erinnerung, die Mahnung nicht zu vergessen festlegen (z.B. In Memoriam - Remembering September 11, 2001), bieten andere Nutzer diverse Theorien an, das vermeintlich Unerklärliche zu erklären (so etwa ein Beitrag unter dem Titel 9/11: Total Proof That Bombs Were Planted In The Buildings!, ein Film betitelt mit Missile hits world trade center! oder eine Version, die gleich übernatürliche Mächte bemüht: satan's face seen in WTC plane crash explosion 9 11 2001). Diese Videos sind offensichtlich in einer bestimmten Absicht publiziert worden, wollen die Geschichte in einer ganz bestimmten Form deuten und gedeutet sehen.

Das gilt ebenfalls, wenngleich mit anderer Intention, für Filme, die als Werbemittel eingesetzt werden. Diese dienen dazu, potentielle Kunden anzusprechen, denen man dann historische Stadtführer oder die Digitalisierung des eigenen alten Schmalspurfilmmaterials offerieren möchte.

So bewirbt die Firma Pastfinder ihren historischen Stadtführer für Berlin mit einem Video über den ersten Jahrestag des Mauerbaus im Jahr 1962, und der Überspieldienst für private Filmaufnahmen MUVIG bietet Proben seiner Arbeit auf YouTube an, darunter naturgemäß vor allem Filme aus der Hochzeit des Schmalspurfilms, also den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Absichten sind in solchen Fällen weit weg von allem, was mit Geschichte im engeren Sinne zu tun hat, doch stehen die Videos zugleich für sich selbst, und die Nutzerin oder der Nutzer wie die Historikerin oder der Historiker können sie anschauen und wissenschaftlich auswerten.

Privatfilme, die zumeist ohne bestimmten Zweck außer dem der eigenen Erinnerung entstanden sind, finden zwar oft viel weniger Zuspruch, können aber wegen ihrer Einzigartigkeit für die Erforschung der Alltagsgeschichte vor allem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wertvolle Dienste leisten. Mitunter erlangen solche Aufnahmen später noch eine weit über die ursprünglichen persönlichen Interessen hinausgehende Relevanz, wie etwa die Erinnerungen an eine Berliner Stadtrundfahrt von 1973, die ein damals in Tempelhof stationierter amerikanischer Soldat im Bild festhielt und damit ein Zeitdokument aus der damals noch geteilten Stadt schuf.

Der Nutzerkommentar: Geschichte im ‚basisdemokratischen Diskurs‘

Von besonderem Interesse für den Blick darauf, wie Geschichte in der Öffentlichkeit erscheint und wahrgenommen wird, sind die Kommentare, die etwa bei YouTube zu jedem Video notiert werden können. Hier ist anzunehmen, dass sie von solchen Nutzerinnen und Nutzern abgegeben werden, die eine Beziehung zu dem Thema mitbringen oder sich durch die Aufbereitung zu einer Reaktion veranlasst sehen.

Bei der Verbundenheit über das Thema wirkt ein ähnlicher Vorstellungs- oder Erwartungshorizont als zusätzliches Bindeglied. Ein Austausch über die Sache wird möglich. Denn über Nachfragen und Ergänzungen können Urheber und Nutzer miteinander kommunizieren.

Für eher kontroversen Diskussionsstoff sorgen zumeist jene Filme, die sich mit den großen politischen Ereignissen auseinandersetzen. Dabei geht es keineswegs immer nur um das Thema des Videos. Bei dem genannten Beispiel von Reagans Rede in Berlin reichen die Kommentare inhaltlich von der Diskussion über gute und schlechte Präsidenten sowie deren Vergleiche untereinander, über die Frage nach der wirtschaftlichen Entwicklung der USA in der Ära Franklin D. Roosevelt bis hin zu den aktuellen Ereignissen in der arabischen Welt Nordafrikas.

Daraus lässt sich nicht nur ein generelles geschichtliches Interesse zumindest bei einzelnen Kommentatoren ableiten, sondern auch mehr oder minder stark vorhandene Vorkenntnisse über andere historischen Themen. Die inhaltliche Verbindung mit dem gezeigten Video ist eher lose, entscheidend ist hingegen die Möglichkeit, dass sich jeder mit seinen Ansichten in diese Debatte einschalten kann, Geschichte folglich zum basisdemokratischen Verhandlungsgegenstand wird.

Geschichte im Web 2.0: Fluch oder Segen für die Wissenschaft?

Geschichte präsentiert sich folglich im Web 2.0 als Spiegelbild der Interessen und Diskussionen in der allgemeinen Öffentlichkeit, und zwar viel stärker, individueller und heterogener als in den bislang genutzten Medien. Die beliebtesten Themen im Web 2.0 aus dem Kreis der großen Ereignisse unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht nicht wesentlich von denen, die in anderen Popularisierungen von Geschichte erscheinen.

Das verwundert auch nicht, denn gerade die kommerziellen Medien orientieren sich natürlich an den Interessen ihrer Adressaten und diese wiederum werden in ihren Vorstellungen von den Medien mit geprägt, eine permanente Wechselbeziehung. Für die Nutzerinnen und Nutzer besteht aber im Netz die Möglichkeit, durch das Einstellen eigenen Privatmaterials ihre persönlichen Erinnerungen mit anderen Menschen zu teilen, völlig fremde Menschen, die aber ähnliche Interessen hegen. Für Historikerinnen und Historiker hingegen bieten gerade diese privaten Erinnerungen, ob in Form von Videos, Tondokumenten, Fotografien oder Texten, den Zugang zu einer Vielzahl sonst nicht zugänglicher ‚Ego-Dokumente‘, aus denen sich Erkenntnisse über Alltag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und des frühen 21. Jahrhunderts gewinnen lassen.

Zugleich lassen sich besonders über Geschichte im Web 2.0 Rückschlüsse über den Umgang der Öffentlichkeit mit Geschichte und geschichtlichen Vorstellungen ziehen. Zu diesen gelangt die Wissenschaft aufgrund der Kommentierung und Diskussion der Menschen über die popularisierten historischen Themen einfacher, als dies bei anderen Medien und Formaten erfolgen kann. Eine Gefahr der ‚Geschichtsklitterung‘ in den Vorstellungen des Einzelnen durch den starken Nutzen dieser Art der Geschichtspräsentation ist dagegen weniger wahrscheinlich als manche Historikerin oder mancher Historiker es befürchten mag, denn auch ältere etablierte Formen der Geschichtspopularisierung sind in diesem Sinne problematisch (und wurden und werden deswegen von der Geschichtswissenschaft kritisiert).

Dennoch sind die unterschiedlichen Vorstellungen über Geschichte zwischen Wissenschaft und vielen Laien ohnehin vorhanden und werden nicht erst durch die neue Form des Umgangs mit Geschichte im Netz geschaffen oder zusätzlich verstärkt. Im Gegenteil bietet die potentielle Offenheit des Web 2.0 viel eher die Chance, dass Menschen voneinander erfahren und sich austauschen.

Die Geschichtswissenschaft sollte diese Diskussion um Texte, Bilder und Videos zur Geschichte im World Wide Web nicht an sich vorbeigehen lassen, sondern sich eingehend mit ihr und dem dadurch erfolgenden veränderten Umgang mit der Geschichte, der inzwischen zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen dazugehört, befassen. Denn der "Wind of Change" und die Bemühungen der Menschen, sich in ihm zu orientieren, zählen von jeher zu den spannendsten Phänomenen ihres Arbeitsgebietes.


Angela Schwarz ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen.