Geknickte Optik

Von den falschen Bildern, die sich dauerhaft in unsern Köpfen festsetzen

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Man sagt: "Oh, sieh mal, dieses Bild hier? Es ist eine Fälschung. Und dieses Bild? Auch eine Fälschung." Aber wissen Sie, woran die Leute sich erinnern? Sie erinnern sich nicht daran, "Es ist eine Fälschung." Sie erinnern sich an das Bild.

Hany Farid

Vor einiger Zeit schickte mir eine Freundin aus Amerika ein dramatisches Foto. Als Überschrift der Mail stand zu lesen: "Japan Desaster...eine halbe Sekunde vor dem Tsunami...Schnappschuss aus einer gefundenen Kamera." Das Foto zeigte eine ruhige Wohngegend in irgendeinem Vorort, über den sich soeben eine riesige ... Welle ... ergießen wollte. So sah es zumindest im ersten Augenblick aus. Darüber stand: "Dieses Bild wurde in einer Kamera gefunden während der nachfolgenden Aufräumarbeiten. Es ist ein unfassliches Foto. Erstaunlich, dass der Film immer noch gut war - oder der Memory Stick. Was auch immer, dieses Bild hier zeigt, wie es wirklich war. Seht nur, wie hoch diese Wand aus Wasser ist!!" Darunter stand, in fetten Buchstaben: "Eine halbe Sekunde vor dem Tsunami."

Ich konnte gut verstehen, warum meine Freundin mir das Bild geschickt hatte. Es wirkte auch auf mich unmittelbar wie ein Schock. Darunter stand zu lesen: "Dieses Bild wurde an der Küste der Insel Sumatra aufgenommen. (Die Höhe der Wellen war schätzungsweise 32 m = 105 Fuß.) Es hatte sich in einer Digitalkamera erhalten, die nach dem Unglück gefunden wurde. Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass derjenige, der das Bild aufnahm, nicht mehr am Leben ist. (Es war eine Angelegenheit von Sekunden.) Heute können wir das letzte Bild sehen, das der oder die Betreffende sah, bevor sein Leben endete."

Ich betrachtete das Foto einige Minuten lang mit jenem kuhdummen Blick, mit dem man auch Landschaftsgemälde in sich aufnimmt. Ein Wahnsinnsbild. Aber -- dass es in Japan so ähnlich aussieht, wie in Amerika oder Australien, fand ich doch irgendwie erstaunlich. Und dass es im Nordosten von Japan (Stichwort: Fukushima) eine Insel gibt, die Sumatra heißt, verwunderte mich auch ein wenig. Man muss schließlich kein Zigarrenraucher sein, um zu wissen, dass Sumatra üblicherweise in Indonesien liegt (selbst wenn man sich schwer tut, bei Wikipedia einen Hinweis auf "Zigarre" unter "Sumatra" oder "Indonesien" zu finden. Allerdings gibt es bei Wikipedia unter "Japan" auch keine Insel, die "Sumatra" heißt.) Okay, dachte ich, das sind möglicherweise eben die amerikanischen Geographiekenntnisse. (Siehe Sarah Palin)

Ich suchte ein wenig im Internet herum und fand bald eine Webseite, Snopes.com, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, solche Meldungen aufzuspüren und - wie Seifenblasen - zum Platzen zu bringen. Dort war zu lesen:

Das oben abgebildete Foto wurde nicht in Sumatra aufgenommen, es zeigt keinen Tsunami, es wurde nicht in einer geretteten Digitalkamera aufgefunden, und es stellt auch nicht das letzte Bild dar, das der Fotograf sah, bevor es mit ihm zu Ende ging. Aber, einmal von solchen Detail abgesehen, ist es durchaus echt...

Dass das Foto irgendwas mit Japan zu tun haben könnte, hatten die Leute von Snopes offenbar gleich mal beiseite gelassen. Stattdessen schrieben sie:

Dieses Bild entstand um ein paar Jahre früher als das mächtige Erdbeben (und die nachfolgende Flutwelle), das im Dezember 2004 im Indischen Ozean knapp vor der nördlichen Küste der indonesischen Insel Sumatra zuschlug. In Wirklichkeit ist es das Bild eines Sandsturmes, der im südlichen New South Wales, in Australien, im November 2002 tobte...

Und tatsächlich findet sich bei Snopes auch das Original des Fotos, mit Datumsstempel vom 12. 11. 2002, der im obigen Foto in deutlicher Fälscher- und Fälschungsabsicht gelöscht wurde. Und: Erst wenn man das Original sieht, erkennt man, wie plump hier gefälscht wurde.

Gut, es war also kein Tsunami, aber auch ein Sandsturm ist eine ziemlich dramatische Sache. Und wenn der oder die Betreffende, die das Original-Foto aufnahm, nicht ziemlich pronto im eigenen Haus verschwunden wäre, hätte er oder sie die eigene Lunge gleich wegschmeißen können, vom Kamera-Objektiv einmal ganz zu schweigen.

Hier ging es aber wohl irgendjemandem darum, anhand eines irgendwo gefundenen Fotos eine dramatische Falschmeldung in die Welt zu setzen, aus purem Daffke, einfach nur, um die Leute zu verarschen. Das sind so die falschen Bilder im Internet, auf die man immer wieder stößt, und die man dann nach einiger Zeit auch automatisch als Fälschungen erkennt - oder zu erkennen meint.

Wer, beispielsweise, "Vancouver Kiss" auf Googles Bilderseite eingibt, stößt auf eine Unmenge (angeblich über 2.5 Millionen) Hits mit Variationen des Vancouver Riot Kiss, der, wie der australische Staatsfunk ABC meint, im Begriff ist, ein "internet meme" zu werden, also ein erinnerungsträchtiges Symbolbild aus dem Internet. Er trennte das zentrale Kuss-Motiv denn auch gleich heraus und ließ es neben die berühmte Strand-Szene mit Burt Lancaster und Deborah Kerr aus dem Film "From Here to Eternity" (1953) und in zahlreiche andere Kontexte, inklusive dem "Floß der Meduse" einflechten. Wobei der "Kuss" beim Vancouver-Bild eher ein fragwürdiges Element darstellt. Was aber ganz unbezweifelbar den Blick auf sich lenkt, ist die klare Perspektive unter das Röckchen der jungen Frau, die da auf der Erde liegt.

Das Foto, aus dem dieser Ausschnitt herausgenommen wurde, zeigt die Szene einer unruhigen Begegnung zwischen hochaufgerüsteter Bereitschaftspolizei ("Riot Police") und sportbegeisterten Bürgern in Vancouver. Im Bildvordergrund nähert sich ein BePo mit Helm, Schlagstock und Schutzschild dem Fotografen, im Bildhintergrund treibt eine Gruppe von Riot Cops eine Menschenmenge in entgegen gesetzter Richtung davon. Im Bildmittelteil liegt das Paar auf der Straße, das sich zu umarmen und zu küssen scheint.

Ob das Foto echt oder gestellt war, beschäftigte unzählige Menschen im Internet, z.B. auch die Leser des Guardian. Dass das Bild gephotoshoppt sei, oder dass es dem Fotografen in erster Linie um einen Upskirt-Blick auf den Po der jungen Frau gegangen sei, wurde ebenfalls ganz selbstverständlich angenommen. Sogar aus dem Iran, wo man sich gerne dem Westen gegenüber als Sittenwächter aufspielt, gab es dazu die einschlägigen Kommentare ("Wenn er ihr nur helfen wollte, wieso ist dann sein Arm zur Hälfte unter ihrem Rock und zwischen ihren Beinen?") Und eine entsprechende Bild-Variante.

Wie es sich zeigen sollte, war das Foto durchaus "echt", man hatte also keine kleine Sexszene in das Bild vom Vancouver Riot "eingeflogen", so wie etwa auf den zahllosen gephotoshoppten Varianten der Szene, die man später sah. Trotzdem schaffte es der gigantische internationale Apparat des Internets offenbar nicht, über die seichteste Blödelei hinaus zu kommen. Was eigentlich mit diesen beiden Leuten im Bild passiert war, blieb so gut wie ungeklärt. Man hätte selbst mit Absicht keine bessere und umfassendere Desinformation bewerkstelligen können. Man fragt sich, ob das Internet hier jetzt so was wie den ultimativen Demokratismus bietet, wo jede Stimme gehört und jede Facette einer Situation erörtert wird, egal wie abwegig sie sein mag, oder ob eine komplette Desinformation wie in Orwells "1984" bereits gegeben ist, wo eben jede Situation ihrer faktischen Realität entkleidet und in zahllose andere Kontexte umgebettet werden kann. Wie virulent das Phänomen der gefakten Bilder im Internet bereits ist, kann man anhand einer Reihe bekannter Beispiele hier einsehen.

In der Vergangenheit, besonders etwa in der stalinistischen Phase der Ostblock-Länder, gab es die falschen Bilder als die nachträglich gefälschten Bilder, samt der damit einhergehenden Verfälschung und Um-Schreibung der Geschichte. Bekannt ist die Eröffnungsvignette aus Milan Kunderas Roman, "Das Buch vom Lachen und Vergessen", die ich, statt sie zu zitieren oder zu paraphrasieren, der Einfachheit halber "als Bild" an dieser Stelle aus dem Amazon Katalog hier einsetze.

Ein Text über stalinistische Bildfälschung, mit leiser Ironie geschrieben

Das Buch führt das "Lachen" nicht umsonst im Titel, der tschechische Autor Kundera trägt den "Schwejk" gewissermaßen im Handgepäck immer mit sich. Trotzdem ist es interessant, die textliche Bearbeitung dieser Bildfälschung mit den Bildern selber zu vergleichen, die man heutzutage leicht im Internet findet. Ist die Episode mit der Fellmütze letztlich nicht vielleicht auch nur eine kleine Erfindung Kunderas, ihrerseits eine kleine Geschichtsklitterung? Oder ein Prager Flüsterwitz, eine Flunkerei aus einer Serie von Döntjes, die man anderswo nicht kennt? Denn, dass die Fellmütze auf Gottwalds Kopf sitzt, sieht man wohl. Aber wenn sie zuvor auf dem Kopf des heraus retouchierten Clementis gesessen haben soll, dann fragt man sich doch - wieso trägt er auf dem Foto einen Hut? Kunderas Darstellung einer stalinistischen Bildfälschung wirkt wie eine Umfälschung im Gegenzug, wie die gefälschte Erwiderung auf eine vorausgegangene Fälschung, eine Rücknahme der Fälschung hin auf eine andersgeartete Unrichtigkeit. Geschichte bleibt Interpretationssache.

Und es sind nicht nur die Fotos, die geändert und gefälscht werden, sondern auch die Bilder, die wir uns im eigenen Kopf zurechtlegen. Letzthin bekam ich einen Text zugeschickt, der den Titel trug, "Artikel eines 14jährigen Palästinensischen Mädchens, veröffentlicht von Amerikanischen Juden."

Nun muss ich vielleicht dazu sagen, dass ich schon seit längstem für die Ein-Staaten-Lösung in Israel eintrete -- und die wird sicher nur über ein friedliches Nebeneinander in einem säkularisierten Staat funktionieren; allein schon deswegen sind mir die Aufhetzungen der einen oder anderen Seite, die Instrumentalisierungen irgendwelcher Leute jeweils gegen oder für die andere oder die eigene Sache immer schon sehr suspekt gewesen. Dass vorgeblich "amerikanische Juden" ein in Richtung auf eine palästinensische "Anne Frank" oder "Edith Velmans" gestyltes vierzehnjähriges Mädchen als Zeugin gegen die israelische Siedlungspolitik aufrufen, hat daher für mich von vornherein einen propagandistischen Beigeschmack, wobei ich das Wort "propagandistisch" hier eher als höflichen Euphemismus verwende. Ich gehe jedenfalls geradezu naturgemäß davon aus, dass ein solcher Bericht, samt allem drum und dran, "gefälscht" ist -- und zwar systematisch, berufsmäßig gefälscht, von einer größeren Organisation, die dafür die Mittel hat.

In dem "Artikel" passiert nun also folgendes: Die israelischen Soldaten brechen nachts um eins in die Wohnung der palästinensischen Familie ein. Die vierzehnjährige Nai Barghouti beschreibt das Ereignis:

Wir fingen an, ihnen Fragen zu stellen, ohne Unterlass. "Wir hoffen doch sehr, dass ihr nicht unsere Wertsachen aus den Zimmern stehlen werdet?" - "Wir nehmen nie etwas, das uns nicht gehört", brüllte einer von ihnen empört. Hanin antwortete, "Außer, dass ihr uns jeden Tag unser Land stehlt, habt ihr bei früheren Hausfriedensbrüchen dieser Art ja auch schon Wertgegenstände aus palästinensischen Wohnungen gestohlen!" Ihr Kommandeur erschien wieder, und gab ihnen neue Befehle. Ich konnte mich nicht zurückhalten, ihnen zu sagen: "Ihr erinnert mich so sehr an Schafe. Er ist euer Viehtrieber, und ihr alle befolgt einfach seine Befehle, ohne jeden Verstand." Einer von ihnen zielte mit seiner M16 auf mich und sagte: "Halt deine verfickte Fresse!" Also sagte ich: "Wenn ihr die Wahrheit so sehr hasst, warum weigert ihr euch dann nicht, seinen Befehlen zu folgen? Warum besteht ihr darauf, uns zu terrorisieren?" Er wiederholte noch einmal seine Lieblingsbeleidigung, und rückte näher, während er seine Waffe auf mein Gesicht gerichtet hielt. Suha sprang vor und schrie ihn an: "Sie ist bloß vierzehn, habt ihr denn keine Spur von Menschlichkeit mehr in eurem Leib?"

Unter dem Bericht der jungen Frau finden sich zahlreiche Kommentare von LeserInnen, die der Bewunderung voll sind, wie in diesen beiden Beispielen:

Wir können uns glücklich schätzen, diese eindrucksvolle Beschreibung hier zu haben. So viel Integrität, Mut und Tapferkeit. Und erst 14.

Diese Leute sind diebischer Abschaum und Feiglinge, meine Liebe. Sie werden nie die Würde und den Mut besitzen von Menschen wie du.

Gibt man sich den Text in seiner Gesamtheit, bemerkt man bald, dass kein szenischer Holzschnitt ausgespart wurde. Die Clichés werden sämtlich bedient, die Israelis sind "wie" die Nazis. Die Gefühlsebene wird hochgekitzelt, ähnlich wie bei dem Tsunami-Bild, das ich eingangs anführte. Auch dort meldeten sich natürlich LeserInnen, die gefühlsmäßig reagierten, und ihrem anonymen Mitgefühl ins Blaue hinein Ausdruck verliehen.

Man fühlt sich erinnert an die Brutkastenlüge der jungen Nayirah, die im Oktober 1990 schluchzend zu Protokoll gab, dass irakische Soldaten kleine Frühchens aus kuwaitischen Brutkästen gerissen hätten, und sie auf dem kalten Fußboden des al-Adan Krankenhauses in Kuwait City zum Sterben liegen ließen. Unzählige Male von der amerikanischen Politik wiederholt, diente die Geschichte schließlich als Initialzündung für den amerikanischen Einmarsch beim ersten Golfkrieg. Nayirah, weit entfernt davon, eine kuwaitische Krankenschwester zu sein, stellte sich als die fünfzehnjährige Tochter des kuwaitischen Botschafters in Washington heraus, die von einer PR-Firma für ihren Auftritt gecoached und dann auch gefilmt worden war. Eine Kurzfassung der Ereignisse kann man auf einem Youtube-Filmchen hier sehen. Die gefakte Zeugenaussage von Nayirah wurde von der PR-Firma Hill & Knowlton an 700 amerikanische Fernsehstationen geliefert und soll damals in den USA zwischen 35 und 53 Millionen TV-Zuschauer erreicht haben.

In einem längeren (und recht diskussionswürdigen) Artikel in der New York Times, betitelt "Fotografie als Waffe" berichtet der Autor und Filmemacher von Errol Morris ausführlich darüber, wie einige gefälschte Fotos - das amüsante Wort dafür, Fauxtography, gibt es offenbar mittlerweile auch auf Deutsch, als Fauxtografie in der amerikanischen Presse verwendet wurden. Oft reicht es schon, wenn ein an sich belangloses Foto mit einer entsprechend aufgeladenen Beschriftung versehen wird, meinte Morris.

Die gelben Beschriftungen beeinflussen die Art und Weise, wie wir die Bilder betrachten. Ein "chemischer Munitionsbunker" ist etwas anderes als ein "leeres Warendepot", und das ist wiederum was anderes als ein "internationales Pfannkuchenhaus". Das Bild bleibt das gleiche, aber wir sehen es mit anderen Augen.

Und Morris weiter:

Ändere die gelben Aufkleber, ändere die Beschriftung, und du veränderst die Bedeutung der Fotos. Du brauchst dazu keinen Photoshop. Das ist der bestürzende Teil der Sache. Was die Täuschung betrifft, so leistet die Beschriftung bereits die Schwerarbeit. Die Bilder sind dabei nichts weiter als die Schaufensterdekoration...

Die Foto-Serie, die der damalige amerikanische Außenminister Colin Powell 2003 vor der UNO präsentierte, um den Zweiten Golfkrieg zu rechtfertigen, und auf die sich Morris hier bezieht, sollte sich später als genau solch ein Fall von "irrtümlicher Beschriftung" herausstellen. Es gab weder Anzeichen für die Herstellung chemischer Waffen, noch für den Versuch, eine solche Herstellung zu verheimlichen. Powell, so darf man getrost vermuten, wusste das natürlich, aber er galt in der Regierung Bush II als so etwas wie der letzte unverbrauchte Saubermann. Deswegen war es nun an ihm, die Propaganda-Lügen des Bush-Klüngels an den Mann zu bringen. Interessant ist es an dieser Stelle, im Nachhinein, noch einmal genau hinzusehen. Was hat Colin Powell damals tatsächlich gesagt? Auf welche Weise hat er sein Schlangenöl an den Mann gebracht? Hier sieht man, wie er zunächst noch versucht, sich ein Hintertürchen offenzuhalten, damit er später sagen kann, er sei auf seine Experten reingefallen.

Lassen Sie mich ein Wort über Satellitenfotos sagen, bevor ich Ihnen ein paar davon zeige. Die Fotos, die ich Ihnen gleich zeigen werde, sind gelegentlich für eine Durchschnittsperson schwierig zu deuten, schwierig auch für mich. Die mühevolle Arbeit der Foto-Analysten verlangt nach Experten mit jahrelanger Erfahrung, die Stunden über Stunden über den Leuchttisch gebeugt verbringen. Aber wenn ich Ihnen diese Bilder jetzt zeige, werde ich versuchen, für Sie erfaßbar zu machen und zu erklären, was die Bilder bedeuten, welche Hinweise sie für unsere Bildspezialisten enthalten.

Colin Powell

Nach seinem anfänglichen Zögern zieht Powell dann aber doch deftig vom Leder, als wäre er eine kleine Nayirah, die für ihren Auftritt mit einem Sonderbonus rechnen darf.

Lassen Sie uns jetzt eines dieser Bilder betrachten. Dieses hier zeigt eine Waffenmunitionsanlage, eine Anlage, in der Munition gelagert wird, an einem Ort namens Tadschi. Dies ist eine von etwa 65 solcher Anlagen im Irak. Wir wissen, dass in dieser Anlage chemische Munition gelagert war... Tatsache ist, dass die Iraker erst vor kurzem an dieser Stelle vier zusätzliche Bunker für chemische Kampfmittel hochgezogen haben... Lassen Sie mich Ihnen eine nähere Ansicht davon zeigen. Sehen Sie sich das Bild links an. Links sehen Sie eine Vergrößerung von einem dieser vier chemischen Bunker. Die zwei Pfeile weisen auf die Anwesenheit zuverlässiger Anzeichen, dass in den Bunkern chemische Munition gelagert ist. Der Pfeil oben mit der Beschriftung 'Security (Sicherheit)' weist auf eine Anlage, die charakteristisch ist für diese Art von Bunkern. In den Anlagen befindet sich spezielles Wachpersonal und eine spezielle Ausrüstung zur Überwachung jeglicher Leckage, die aus dem Bunker austreten könnte. Auch der Lastwagen, den Sie dort sehen, ist ein charakteristisches Merkmal. Es ist ein Dekontaminationsfahrzeug für den Fall, dass etwas schief geht. Das ist charakteristisch für diese vier Bunker... Die spezielle Sicherheitsanlage und das Dekontaminationsfahrzeug wird sich in der Umgebung aufhalten, wenn auch nicht immer bei einem bestimmten Bunker oder bei einem der anderen, so bewegt es sich doch um diese vier herum, je nachdem, wie es gebraucht wird, während die Menschen, die in den verschiedenen Bunkern arbeiten, hin und her bewegt werden.

Colin Powell

Wenn man in der entsprechenden kabarettistischen Verfassung ist, kann man diese Auslassungen als durchaus erheiternd empfinden. Relevant ist indessen, dass und wie gefälschte Bilder eingesetzt werden - als Waffe, oder als kriegsvorbereitende Maßnahme. Im gleichen Artikel von Morris wurde auch ein offensichtlich fehlerhaft gefotoshopptes iranisches Bild gezeigt, das die Iraner in die Welt gesetzt hatten, um besonders Israel und den USA die Macht ihrer Raketen vorzuführen. Die Expertise der von Powell so hochgelobten amerikanischen Foto-Experten versagte an dieser Stelle offenbar, denn unzählige amerikanische Zeitungen veröffentlichten die Fotos. Hier bedurfte es einmal mehr des Scharfblicks eines Bloggers, ehe die iranische Fälschung als solche erkannt wurde.

Dann aber tobte ein veritabler Bilderkrieg im Internet, um die kriegslüsternen Iraner in ihre Schranken zu verweisen. Von Godzilla bis Uncle Sam wurden alle erdenklichen mythischen Wesen bemüht, um dem Iran den gestreckten Mittelfinger zu zeigen.

Ich vermute, die vier iranischen Raketen erinnerten Morris an eine berühmte Kollage, die gegen Adolf Hitler gerichtet war. Auf alle Fälle mischt sich an diesem Punkt in den Diskurs dann ein Exkurs über John Heartfield, den antifaschistischen (und sogar eindeutig kommunistischen) Berliner Foto-Montagisten, als ob die Photoshop-Bilder der amerikanischen Blogger auf einem vergleichbaren künstlerischen und politischen Niveau stünden, oder gar, als ob der Iran heute mit Nazi-Deutschland damals gleichzusetzen wäre.

Gleichviel. Es bleibt, in letzter Instanz, beachtenswert, was Morris über die Wirkung der falschen//gefälschten Bilder geschrieben hat. Er zitiert Hany Farid einen amerikanischen Professor am Dartmouth College in New Hampshire, und Experten in Sachen digitale Fotografie und digitale fotografische Irreführung.

Man fängt damit an, dass man es den Leuten vorlegt und man sagt, "Oh, sieh mal, dieses Bild hier? Es ist eine Fälschung. Und dieses Bild? Auch eine Fälschung." Aber wissen Sie, woran die Leute sich erinnern? Sie erinnern sich nicht daran, "Es ist eine Fälschung." Sie erinnern sich an das Bild. Und es gibt psychologische Studien, wenn man den Leuten erzählt, dass eine bestimmte Information falsch ist, dann vergessen sie, dass diese Information unrichtig ist. Sie erinnern sich bloß an die Fehlinformation. Sie vergessen die Etikettierung, die damit verbunden ist. Da hat man diese großartigen Studien angestellt, besonders mit älteren Leuten. Man vermittelt ihnen alle möglichen Informationen über Gesundheit, Medicare, Medicaid, und solche Sachen. Und dann sagt man ihnen: "All das Zeug, was sie gerade gehört haben? Ist alles falsch." Und was am Schluss passiert, ist, dass die Information sich in ihren Gehirnen festhakt, und selbst wenn man ihnen nachher sagt, dass das alles Blödsinn war, glauben sie’s zum Schluss trotzdem.

Hany Farid