Armut ist falsch verteilter Reichtum

Gespräch mit Thomas Beyer, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, über soziales Gewissen und gute Arbeit

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Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat kein Vermögen - immer mehr Menschen sind verschuldet. Doch Armut wird verdrängt in einer Gesellschaft, in der Gewinner alles bekommen und Verlierer in der Versenkung verschwinden. Kein Wunder, dass vor diesem Hintergrund nur wenige die Nationale Armutskonferenz (nak) kennen - die sozialpolitische Lobby deutscher Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften, die auch Mitglied des Europäischen Netzwerkes zur Armutsbekämpfung (EAPN) ist.

Thomas Beyer ist stellvertretender Vorsitzender des Landesverbandes der SPD in Bayern und seit 2011 Sprecher der Nationalen Armutskonferenz. Zum Anlass des 20-jährigen Bestehens der nak sprach Telepolis mit Beyer über Glaubwürdigkeitsprobleme von SPD-Politikern, sich als Anwalt von sozial Benachteiligten zu profilieren, die Verarmung von Kindern, Alleinstehenden und Rentnern und falsche Signale Deutschlands an die europäischen Nachbarländer.

Auf Ihrer Homepage taucht das Wort "Armut" kaum auf. Stehen Sie als Abgeordneter nicht zu Ihrem Engagement als Lobbyist für die Armen?

Thomas Beyer: Selbstverständlich stehe ich zu meinem Engagement. In meinem ehrenamtlichen Engagement bei der Nationalen Armutskonferenz bin ich übrigens nicht als SPD-Landespolitiker tätig, sondern als Mitglied des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt.

Bayern gilt als reiches Bundesland. Gibt es für die Nationale Armutskonferenz in Bayern überhaupt etwas zu tun?

Thomas Beyer: Die Nationale Armutskonferenz engagiert sich bundesweit. Das Thema Armut beschäftigt uns jedoch auch in Bayern. Es gibt nach dem Armuts- und Reichtumsbericht des Bayerischen Sozialministeriums rund 1,6 Millionen Menschen, also rund 13,6 Prozent, die in Bayern in Armut leben. Dabei verzeichnet das Land ein besonders hohes Maß an Armut bei Alleinerziehenden.

Und was viele nicht wissen: Bayern ist ein Land, in dem Rentner überdurchschnittlich hoch von Altersarmut betroffen sind, da es über lange Jahre ein durch landwirtschaftliche Kultur geprägtes Land war. Zusammen mit Rheinland-Pfalz hat Bayern das niedrigste Rentenniveau in Deutschland. "Laptop und Lederhose", Industrie und Hightech haben sich erst seit wenigen Jahrzehnten im Zuge des Strukturwandels entwickelt.

Welche Form der Armut regt Sie auf?

Thomas Beyer: Mich persönlich regt Kinderarmut auf, weil es ein Skandal ist, wenn etwa in einem so reichen Bundesland wie Bayern zur Zeit rund 135.000 Kinder unter 15 Jahren im Regelbezug von Hartz-IV sind.

In der AWO Langzeit-Studie kamen Sozialwissenschaftler schon vor Jahren zu dem Ergebnis, dass Kinder aus armen Familien bei gleichen schulischen Leistungen eine mehrfach geringere Chance haben, gute Bildungsabschlüsse zu bekommen; sie sind von vielen sozialen Kontakten ausgeschlossen, in der Schule auffälliger und kränker.

Weite Bereiche der konservativen Politik verschließen vor diesen Tatsachen die Augen, obwohl kein Kind kann etwas für die Verhältnisse kann, in die es hineingeboren ist.

Im Jahr 2003 kommentierte N-TV die Pläne der Rot-Grünen Koalition, den Sozialstaat umzubauen: "SPD macht arm". Selbst der damalige Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, Paul Saatkamp, rechnete damit, dass durch den Umbau etwa 15 Millionen Menschen in Deutschland verarmen würden. Wie glaubwürdig ist es, wenn ein SPD-Politiker heutzutage noch als Anwalt für die Armen auftritt?

Thomas Beyer: Ich bin tatsächlich klischeebehafteten Vorbehalten begegnet. Doch innerhalb weniger Monate der Arbeit für die Nationale Armutskonferenz habe ich deutlich machen können, dass es mir ein wirkliches Anliegen ist, für die Belange sozial benachteiligter Menschen einzutreten.

Es war ja die Arbeiterwohlfahrt, die die Agenda 2010 der damaligen Rot-Grünen Koalition unter Gerhard Schröder sehr kritisch kommentiert hat. Die Arbeiterwohlfahrt ist nach wie vor das soziale Gewissen der Arbeiterbewegung. Leider ist es so, dass man innerhalb der SPD nicht immer mit offenen Armen empfangen wird, wenn man dezidiert sozialpolitische Themen vertritt.

Warum nicht?

Thomas Beyer: Weil die Frage, welcher Kurs die SPD erfolgreich macht, seit Gerhard Schröder sehr umstritten ist. Doch gerade ein sozialpolitisches Ehrenamt auszuüben und eine so wichtige Aufgabe für die Nationale Armutskonferenz wahrzunehmen, kann der SPD heutzutage nur gut tun.

Sozial kann nur sein, was gute Arbeit schafft

Wie stark schätzen Sie die Kräfte in der SPD ein, die sich wirklich für das Armutsproblem interessieren?

Thomas Beyer: Beim Landesparteitag der SPD in Bayern vor drei Wochen habe ich den Antrag vorgestellt, die Vermögenssteuer wieder einzuführen - es gab nur zwei Gegenstimmen. Damit will ich sagen: Die Basis der Landespartei will meiner Meinung nach zweifelsfrei die Partei des sozialen Gewissens sein. Die bayerische SPD gilt in den Medien als linker Landesverband. Das macht uns beim Parteivorstand in Berlin nicht gerade unverdächtig.

Aber darauf kommt es nicht an. Nur das immer neue Ringen um Entscheidungen, die einmal getroffen wurden, die Überprüfung beispielsweise der Agenda-Politik, gibt der Partei die Chance, die Belange der Menschen wahrzunehmen.

Das Nettovermögen ist ungleich verteilt. Das reichste Zehntel der Bevölkerung hält über 60 Prozent des gesamten Vermögens. Ist es nur der Reichtum, der falsch verteilt ist, oder müssen mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, damit mehr Menschen am Wohlstand teilhaben?

Thomas Beyer: Die Mehrheit der Bevölkerung hat wenig Vermögen, minimales Vermögen oder sogar Schulden. In der Breite ist die deutsche Bevölkerung vermögenslos. Das kann auf Dauer gesellschaftlich nicht gut gehen. Das Motto der Nationalen Armutskonferenz lautet dementsprechend: Armut ist falsch verteilter Reichtum. Das heißt, es bedarf eines sozialen Ausgleichs für sozial benachteiligte Menschen. Diejenigen, die sehr viel besitzen, müssen stärker an der Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben beteiligt werden.

Dabei gilt: Nicht jede Arbeit ist sozial. Sozial kann nur sein, was gute Arbeit schafft. Gegenwärtig haben wir das Problem, dass im wirtschaftlichen Aufschwung weitaus mehr Menschen beschäftigt sind als vor der Finanzkrise. Aber die Beschäftigungszuwächse wurden nicht mit regulären Arbeitsverhältnissen erzielt.

Wir verzeichnen Rekorde bei geringfügigen Beschäftigungen, bei Teilzeitbeschäftigungen, bei befristeten Arbeitsverhältnissen und bei Leiharbeit. Die Haltung der Bundesregierung, die Menschen irgendwie in Arbeit zu bringen, wirkt sich fatal aus, insbesondere weil die meisten mit geringen Löhnen beschäftigt sind - damit wird das Problem der Altersarmut in Zukunft massiv verschärft.

Deutschland gibt falsche Signale

Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer. Steckt Deutschland mit seiner Sozialpolitik auch andere Länder der Europäischen Union an?

Thomas Beyer: Wenn es schon das reichste Land Europas nicht schafft, dass die Schere zwischen Armen und Reichen weniger auseinandergeht, mit welcher Berechtigung schaut es dann auf andere Länder herab?

Deutschland wird in zweifacher Hinsicht seiner Verantwortung nicht gerecht: Wir schaffen es nicht, im eigenen Land die gesellschaftlichen Verhältnisse sozial gerecht zu ordnen - und wir geben damit anderen EU-Ländern die falschen Signale.

Im Dezember 2011 kann die Nationale Armutskonferenz auf ihr 20 jähriges Bestehen zurückschauen. Wie arbeitet sie?

Thomas Beyer: Die Nationale Armutskonferenz arbeitet demokratisch, das heißt, sie gibt allen Mitgliedern die Möglichkeit, mitzusprechen. In den vergangenen 20 Jahren ist es uns mal mehr und mal weniger gut gelungen die öffentliche Meinung mit unseren Themen zu erreichen.

Da, wo man sie hört, wird sie als glaubwürdiger Anwalt der Betroffenen verstanden. Wir arbeiten daran, die öffentliche Diskussion mehr zu durchdringen, nicht nur Mahner zu sein, sondern auch lautstarker Anwalt. Wir wollen der Regierung lästig sein.

Nur wenige kennen die Nationale Armutskonferenz. Welches politische Gewicht hat sie derzeit?

Thomas Beyer: Die gegenwärtige politische Situation lässt nicht den Eindruck zu, dass die Nationale Armutskonferenz der erste Ansprechpartner der Bundesregierung in sozialen Fragen ist. Doch zum ersten Mal sind wir zum nationalen Rentendialog im Herbst 2011 eingeladen.

Wir haben außerdem erreicht, dass wir am Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mitarbeiten können. Es muss selbstverständlich werden, dass solche Berichte nicht mehr ohne das Sprachrohr der Betroffenen geschrieben werden.