Chiles Jugend revoltiert gegen das Erbe Pinochets

Seit über drei Monaten dauern die Bildungsproteste an, die Regierung Piñeras reagiert mit einer Mischung aus Konzeptlosigkeit und Gewalt

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Nach drei Monaten permanenter Proteste von Schüler- und Studierendenorganisationen in Chile wird die Situation für die rechtskonservative Regierung unter Präsident Sebastián Piñera zunehmend kritisch. Wie offensichtlich sich der Unternehmer im Umgang mit den Bildungsprotesten verkalkuliert hat, beweisen die jungen Aktivisten tagtäglich. Am Donnerstag gingen in der Hauptstadt Santiago de Chile erneut 100.000 Demonstranten auf die Straße, um Reformen des soziale unausgewogenen Bildungssystems zu fordern. Die Polizei reagierte mit Schüssen. Angesichts der ignoranten bis aggressiven Haltung der Staatsführung bekommen die Schüler und Studierenden zunehmend auch Unterstützung vom Lehrpersonal, Angehörigen und anderen Teilen der Gesellschaft. Nun soll ein Verhandlungstisch die Situation unter Kontrolle bringen. Doch die Protestbewegung hat längst ein eigenes politisches Bewusstsein entwickelt und stellt weitreichende Forderungen.

Chile leidet seit Jahren unter dem sozial ungerechtesten Bildungssystem Lateinamerikas. Weite Teile der universitären Bildung wurden unter dem Pinochet-Faschismus (1973-1990) privatisiert, Proteste dagegen stets gewaltsam unterdrückt. Die verheerenden Folgen dieser neoliberalen Politik zeigt sich heute: Wer sein Kind in Chile zur Universität schicken will, muss mit monatlichen Gebühren zwischen 500 und 1000 US-Dollar rechnen. Die Folge ist, dass sich die soziale Kluft von Generation zu Generation massiv verbreitert.

Nach Auskunft der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kommt der Staat in Chile nur für 15 Prozent der Bildungskosten auf, 85 Prozent werden privat getragen. An den Teilnehmern der Demonstrationen zeigt sich, wie stark inzwischen die Mittelschicht von der sozialen Selektion im Bildungswesen betroffen ist. Eine Studie der Universität Chile lässt indes die Last auf arme Familien vermuten: Von den ärmsten 20 Prozent der Studierenden müssen demnach 65 Prozent ihre Ausbildung vorzeitig abbrechen. Bei den übrigen haben sich inzwischen Ausbildungsschulden von 20 Milliarden US-Dollar angehäuft, von denen niemand weiß, wie sie je beglichen werden sollen.

Probleme des Bildungssystems sorgen seit Jahren für Unruhe

So ist die Wut der jungen Leute zu erklären. Seit Jahren fordern Schüler- und Studierendenorganisationen soziale Reformen des Bildungssystems. 2006 waren die Proteste schon einmal außer Kontrolle geraten, die "Revolution der Pinguine" - benannt nach den schwarz-weißen Uniformen der Schülerinnen und Schüler - sorgte für Schlagzeilen. Das damals regierende Mitte-Rechts-Bündnis der Concertación hat die Probleme ebenso wenig lösen können wie die aktuelle rechtskonservative Piñera-Führung.

"Wir werden mit den Protesten nicht aufhören", bekräftigte Mitte vergangener Woche die charismatische Präsidentin des chilenischen Studierendenverbandes Confech, Camila Vallejo. Sowohl die Mittel- und Oberstufenschüler als auch die Studierenden würden weiter mobilisieren. Mehrere Aktivisten im Hungerstreik wurden indes in Krankenhäusern aufgenommen. Der verfahrenen Situation zum Trotz organisieren die Jugendverbände einen landesweiten Großprotest am 11. September, den Jahrestag des Putsches, der 1973 den Beginn der Pinochet-Diktatur markierte.

Zunächst hatte Regierung von Sebastián Piñera mit Demonstrationsverboten und Repression auf die wachsende Protestbewegung reagiert. Auf dem bisherigen Höhepunkt wurden nach offiziellen Angaben 1.270 Schüler und Studierende inhaftiert. Nachdem die Proteste andauerten, sollen nun ein neues Bildungsgesetz und ein Verhandlungstisch im Kongress zu einer Einigung verhelfen.

Doch die Forderungen der jugendlichen Aktivisten sind ebenso weiter gediehen wie ihr Selbstbewusstsein. Man lehne das Bildungsgesetz ab, weil es die Ungleichheit in den Schulen und Universitäten weiter vertiefe, lassen sie verlauten. Und solange die Forderungen der Protestbewegung nicht berücksichtigt werden, würde man sich auch nicht in Verhandlungen mit dem Kongress begeben, heißt es unisono von den Schul- und Universitätsverbänden, die im Gegensatz zum Regierungslager erstaunlich geschlossen und professionell auftreten. Sie halten damit das Ruder in der Hand und stellen die Forderungen: Die Regierung Piñera solle eine Volksabstimmung einberufen, um über die Struktur der Bildung in Chile zu befinden.

Umgang mit den Protesten wie zu Zeiten der Diktatur

Vertreter der Regierung, ihrer Parteien und anderer Teile der chilenischen Oligarchie haben sichtlich Probleme, mit einer solch selbstsicheren Bewegung umzugehen. Zu spüren bekam das vor allem die Confech-Präsidentin Vallejo. Als die 22-Jährige Mitte der zweiten Augustwoche über ihr Twitter-Account zu einer Mahnwache mit Kerzen im Zentrum von Santiago de Chile aufrief, konterte Juan Pablo Camiruaga, der Vizechef der Regierungspartei Renovación Nacional: "Hör auf, das Land in Unruhe zu bringen, Du Sch... Zicke."

Nach massiven Protesten von anderen Usern entfernte der Funktionär der Partei von Präsident Piñera den Eintrag wieder. Wenige Tage zuvor schon hatte Tatiana Acuña, eine hochrangige Mitarbeiterin des Kultusministeriums, die Confech-Präsidentin Vallejo massiv angegriffen: "Muerta la perra, se acaba la leva", postete die Funktionärin ebenfalls in Twitter, auf Deutsch etwa: "Ist die Hündin tot, beruhigt sich die Meute". Der Satz ist in Chile aus dem Funkverkehr zwischen dem späteren Diktator Pinochet und dem Kommando bekannt, das am 11. September 1973 den Präsidentenpalast La Moneda stürmte und über den Äther den Umgang mit dem verschanzen Präsidenten Allende diskutierte. Wenige Minuten später war Allende tot.

Inzwischen versuchen die Eltern der Studierendenaktivistin Camila Vallejo, über einstweilige Verfügungen die Klarnahmen von Usern zu erfahren, die weitaus direktere Morddrohungen gegen die 22-jährige Confech-Chefin verbreitet haben.

Politisch steht die Regierung Piñera mit dem Rücken zur Wand. Dazu trägt ohne Zweifel auch das Krisenmanagement bei, in dem etwa der Bürgermeister von Santiago de Chile, Pablo Zalaquett, - Mitglied der rechtsgerichteten Koalitionspartei UDI - im Interview mit der Tageszeitung La Tercera über den Einsatz des Militärs gegen die Studierenden am 11. September nachdenkt. Ein solcher Politikstil mag zu Zeiten der Diktatur "funktioniert" haben, heute könnte er sich für die amtierende Führung als Bumerang erweisen: In aktuellen Umfragen ist die Piñera-Regierung auf 26 Prozent abgestürzt, während 53 Prozent der Chileninnen und Chilenen sie ablehnen. Und im Oktober des kommenden Jahres stehen Regionalwahlen an, 2013 dann die nächsten Präsidentschaftswahlen.

Die amtierende Regierung muss dabei nicht nur die Proteste fürchten, sondern auch das Urteil etablierter Politiker. So hat Eduardo Frei, der christdemokratische Ex-Präsident, in harten Worten den Umgang mit den Studierendenprotesten kritisiert. Piñera begreife die Regierung offenbar als Unternehmen, so Frei: "Er wechselt seine Minister jede Woche, tritt im Fernsehen auf, ändert seine Meinung drei bis vier Mal täglich und er handelt vor allem wenig transparent", sagte der Christdemokrat, der Chile im Rahmen des Parteibündnisses Concertación von 1994 bis 2000 regierte. Nach den vergangenen Wochen befinde sich Chile "am Rande der Unregierbarkeit", fügte der Konservative in einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung La Nación an.