Die Redaktionen setzen Kapitalismus auf "Sell"

Wie im Crash die Mainstream-Medien zu Vorreitern der Kapitalismuskritik werden

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Der möglicherweise fundamentalste und überraschendste Kommentar eines Mainstream-Mediums ist sehr gut versteckt. Unter dem Titel "Heiliger Zorn der Welt" schreibt der Jurist und Rechtsspezialist Heribert Prantl, stellvertretender Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, scheinbar über die englischen riots. Nicht nur seine Kollegen vom Wirtschaftsteil, sondern auch die süddeutsche Geld- und Finanzelite, durchweg Abonnenten der Süddeutschen, konnten darin folgende Passage lesen, die hier ausgiebig zitiert werden soll:

Der Kapitalismus ist eine ähnlich frevlerische Wirtschaftsform, wie sie der Kommunismus war. Er frevelt heute auf Kosten von Menschen und Staaten. Zuletzt vermochte er es gar, den Staat davon zu überzeugen, dass dieser die vom Kapitalismus angehäuften Schulden tragen muss - wegen der staatlichen Verantwortung für das Große und Ganze......Die Kosten dieses Systems trägt die Mittelschicht, die sich geschunden wähnt von der Unterschicht, weil die von den Steuern der Mittelschicht lebt und weil sie betrogen wird von Reichen, die keine Steuern zahlen. Die Regierungen könnten an der Schonung des Reichtums etwas ändern; aber sie tun es nicht. In der Finanzkrise vor drei Jahren glaubte man, ein Fegefeuer des Kapitalismus zu erleben. Das war eine Täuschung. Genauso enttäuscht wurde die Erwartung, dass dem Markt durch Gesetze strikte Regeln auferlegt werden. Von der international-sozialen Marktwirtschaft, von einem menschlichen Kapitalismus also, ist man heute so weit weg wie 2008.

Heribert Prantl

Selten hat ein Kommentator die Dinge so auf den Punkt gebracht.

Auch Spiegel-Miteigentümer Jakob Augstein hängt seine wenigen Wirtschaftsthesen an den englischen riots auf. Fast wörtlich identisch und sicher ohne Rücksprache mit Prantl schreibt Augstein am 18. August 2011:

Die Neoliberalen können jetzt neben den Linken ihren Platz auf dem Scherbenhaufen der Ideologien einnehmen. … Kapitalismus bedeutet, einer besitzt die Yacht mit Swimmingpool und Hangar für den Heli, und Millionen haben seit Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen.

Jakob Augstein

Letzteres stimmt übrigens für Deutschland, nicht aber für das Vereinigte Königreich.

Da möchte auch die Frankfurter Sonntags Zeitung nicht mehr zurückstehen. Unter dem Titel "Kirchhof beklagt 'Feudalismus' im deutschen Steuerrecht" veröffentlicht sie am 21.8. ein Interview mit Paul Kirchhof. Um zu zeigen, dass sie doch noch nicht in der Kapitalismuskritik angekommen ist, setzt sie "Feudalismus" in Anführungsstrichen wie einst Springer die DDR. In der Printausgabe dann sind die Anführungsstriche auch noch gefallen. Dick prangt nun auf der Titelseite der FAS "Kirchhof beklagt Feudalismus". Für die FAZ ist das eine Revolution, die geliebte, vernünftige Marktwirtschaft mit einem marxistischen Kampfbegriff abzuqualifizieren.

Eine wahnwitzige Erklärung für die Schuldenkrise gibt ebenfalls in der FAZ Patrick Bernau. Danach sei die Schuldenkrise eine Folge "des Terrors" von 9/11. Kostprobe:

Amerika und die ganze westliche Welt stecken in der tiefsten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren, und Usama Bin Ladin hat sie mit seinen Anschlägen zum Teil ausgelöst. Für die Schuldenkrise, in der die Welt versinkt und die allerorten Schrecken erzeugt, ist er mit verantwortlich.

Patrick Bernau

Das hätte wohl gut in Anders Breiviks Dossier gepasst.

Das Handelsblatt bringt ein Interview mit Star-Analyst Marc Faber, dessen Hauptsatz auch den Titel bildet: "US-Staatsanleihen sind finanzieller Selbstmord". Das klingt gut, aber deren Zinsen steigen trotzdem nicht. Und die verbliebenen Käufer sind Staaten und Großbanken, nicht Spekulanten und Hedge-Fonds.

Handelsblatt-Kommentator Jochen Riecke hat eine ganz besondere Erklärung: "Das Börsenbeben zum Wochenausklang ist ein weiteres Warnsignal der Märkte". Ein Börsenbeben, Herr Riecke, ist nicht das Warnsignal für das Beben, sondern es ist bereits das Beben.

Die taz hat nun einen prominenten Chronisten dafür gewonnen, dass die Linke Recht hat: FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher. Das politische System, so Schirrmacher, diene nur den Reichen.

Wenn nun taz, SZ, FAZ und Spiegel einträchtig gegen den bösen Finanzkapitalismus sind - wer verteidigt ihn dann noch?

Olaf Gersemann schreibt in der Welt gegen eine europäische Wirtschaftsregierung: "Märkte sind bessere Zuchtmeister". Nach seiner Ansicht würden höhere Zinsen den Staaten schon die Lust am Schuldenmachen vermiesen. Allerdings auch einiges andere: Bei griechischen 18 Prozent dürften wir Deutschen dann 360 Milliarden Euro Zinsen pro Jahr bezahlen, etwa 70 Prozent unserer Steuereinnahmen. Ein couragierter Vorschlag immerhin.

Und BILD? "Warum drehen jetzt alle durch?" fragt die BILD-Zeitung. Die erste Erklärung: "Vor dem Wochenende wollen viele Investoren traditionsgemäß ihre Aktien los werden - um sich gegen schlechte Nachrichten zu rüsten." Crash um Ruhe beim Segeln, Sauvignon und Carpaccio zu haben - eine ebenso witzige wie geistreiche Erklärung.

Am Ende zitiert BILD auch noch den Autor dieser Zeilen:"Das Vertrauen in die Stabilität von neu gedrucktem Geld ist weiter gesunken. Jeder fürchtet, wertlose Schuldtitel in der Hand zu halten", erklärt Dr. Alexander Dill, Direktor des Basel Institute of Commons and Economics, gegenüber BILD.de.

Was auffällt: In Spiegel, FAZ und SZ mischen sich zunehmend die Politikredaktionen in das vormals der Wirtschaft zugehörige Thema ein. Fazit: So, wie viele Anleger nun panikartig ihre Aktien verkaufen, lassen nun die Redaktionen den Kapitalismus fallen. Er bekommt nun die geballte Klassenkeile gerade von jenen zu spüren, die ihn seit 1990 stets für absolut alternativlos hielten. Wann wird Kapitalismus wieder als "Strong buy" aufs Börsenparkett zurückkehren?