Tyler Durden empfiehlt den Dow Zero

Wie ein bulgarischer Blogger der Wall Street den Kapitalismus lehrt

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"Wer ist Tyler Durden?" "Eine Hauptfigur in Chuck Palahniuks Roman 'Fight Club', im Film verkörpert von Brad Pitt", meinen Cineasten zu wissen und liegen damit nicht falsch. Seit Frühjahr 2009 aber gaben sich Investmentbanker und Börsenmakler an der Wall Street mit dieser Antwort nicht mehr zufrieden. "Wer, zur Hölle, ist nur dieser anonyme Blogger, der seine Kolumnen auf dem Finanzportal Zero Hedge (Null Absicherung) mit Tyler Durden zeichnet und ständig Marktgeheimnisse ausplaudert?", wollten sie wissen.

"Tyler Durden schreibt Tag und Nacht und reißt riesige, marktbewegende Geschichten los", lobte im April 2009 der Investmentberater Joshua Brown auf seinem Weblog "The reformed Broker". Zu dieser Zeit landete das im Januar 2009 ans Netz gegangene Zero Hedge (ZH) einen ersten Coup. Die Analyse wöchentlich von der der New York Stock Exchange (NYSE) veröffentlichter Handelsdaten hatte Tyler Durden eine seltsame Marktdominanz der Bank Goldman Sachs im Computerhandel der NYSE offenbart, die er über Wochen hinweg in penetranter Beharrlichkeit problematisierte. Damit nötigte er nicht nur Goldman Sachs-Sprecher Ed Canaday zu einer Erklärung der Handelspraktiken der Ivestmentbank, sondern erwarb sich auch eine stetig wachsende Beachtung in Fachkreisen und die Aufmerksamkeit seriöser Medien wie Bloomberg und New York Times.

"Goldman Sachs hat einen neuen Handelsprofit-Rekord aufgestellt und im letzten Quartal an 34 Handelstagen 100 Mio $ Profit generiert", meldete Tyler Durden am 6. Mai 2009 und stellte die Vermutung an, die Goldman-Sachs-Händler müssten über eine Art "Orakel von Delphi" verfügen. Die Erklärung für die außergewöhnliche Börsenfortune von Goldman Sachs stellte sich indes mit der Verhaftung von Sergej Alejnikov am 3. Juli 2009 als profaner heraus. Der Programmierer hatte bei seinem Weggang von Goldman Sachs im Juni 2009 den Code des firmeneigenen Programms zum elektronischen Hochfrequenzhandel entwendet, das er zuvor mitentwickelt hatte. Der ausgeklügelte Algorithmus hatte der Investmentbank erlaubt, quasi in Echtzeit auf Handelsbewegungen mit Kauf- und Verkaufsordern in großen Volumina zu reagieren. Die Bank soll dadurch einen den Börsenhandel manipulierenden Wettbewerbsvorteil gehabt haben. "Warum haben die Mainstream-Medien der Finanzwirtschaft die Korruption bei Goldman Sachs nicht bemerkt?", fragte Rolling Stone-Reporter Matt Taibbi in seinem im letzten Jahr erschienenen Buch Griftopia, in dem er das Verdienst von Tyler Durdens Zero Hedge ausdrücklich würdigt.

Etablierte die Goldman Sachs-Geschichte Zero Hedge als feste Größe im weißen Rauschen des Wall-Street-Diskurses, so verstärkten zuletzt weltweit zunehmende Börsenturbulenzen und Staatsverschuldungen den Besucherstrom weiter. Angesichts täglicher 1,5 bis 2 Millionen Page Impressions, der Online-Statistik-Dienst Alexa.Com listet www.zerohedge.com inzwischen an 755. Stelle in den USA, sahen sich die Blogebetreiber vor einigen Tagen zum Umzug auf einen neuen leistungsstärkeren Server veranlasst. "Wir sind jetzt in einem Zustand, wo uns hoffentlich selbst ein Rückgang des Standard & Poor's-Index um 500 Punkte nicht zum Absturz bringen wird", schrieb Tyler Durden am 18. August 2011.

"Daniel Ivandjiiski ist Tyler Durden", verriet das New York Magazine bereits im September 2009. Dies bestritt der damals dreißigjährige Bulgare Ivandjiiski und erklärte Tyler Durden zum Kollektivwesen mehrerer Autoren. Wie viele Autoren unter diesem Pseudonym und anderen Alias-Namen wie Marla Singer, Durdens One-Night-Stand aus Fight Club, publizieren, darüber gibt es widersprüchliche Angaben in der Bandbreite von vier bis vierzig. Logisch erscheint aber, dass eine Person allein das tägliche Kanonenfeuer mehr oder weniger substanziell fundierter Wirtschaftsglossen kaum abschießen könnte, mit dem Zero Hedge die Leute von Wall Street informiert und unterhält. Zahlreiche Gastbeiträger, darunter auch George Washington, machen Zero Hedge mit teilweise extremem, zuweilen auch konspirativem Gedankengut zu einer disparaten, doch nie langweiligen Lektüre.

"Über eine hinreichend lange Zeitachse betrachtet strebt die Überlebensquote eines Jeden gegen Null", hat Tyler Durden in Fight Club ein großes Wort gelassen ausgesprochen. Es ziert heute als fatalistisches Motto die Eingangsseite von Zero Hedge. Als dessen Mission nennt das Manifest des Blogs das Streben, der professionellen Öffentlichkeit erweiterten Zugang zu finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Information zu verschaffen, gegewärtige Prozesse mit angebrachter Skepsis zu untersuchen und - falls nötig - auch die "lasche Institution, zu der der Finanzjournalismus geworden ist" zu attackieren. Anonymität soll die Autoren nicht nur vor strafrechtlicher Verfolgung schützen, sondern auch vor Beeinflussung und politischen Zwängen bewahren. Dabei berufen sie auch auf Samuel Langhorne Clemens, der den Namen Mark Twain gewählt habe, um die "allgemeine Ignoranz zu kritisieren".

Seine aktive Urheberschaft für Zero Hedge kann David Ivandjiiski kaum mehr leugnen, nachdem die bulgarische Wochenzeitung Tornado nun die Registrierungsadresse der Domain www.zerohedge.com, nämlich die ABC Media Ltd. in der Jerusalemstraße im Sofioter Plattenbaubezirk Mladost (Jugend), genannt hat. Von hier aus gibt Daniel Ivandjiiskis Vater Krassimir seit 1993 eine Zeitung heraus, die den verschwörerischen Titel trägt "Strogo Sekretno" (Streng geheim). Das Blatt lobt sich selber, "eine einzigartige Publikation" zu sein, die hinter die Kulissen der "höheren Politik, Geopolitik, Spionage und des Fianzverbrechens" blicke.

Ursprünglich, so berichtet Tornado, sei Daniel Ivandjiiski in die USA gekommen, um Molekularbiologie und anschließend Medizin zu studieren. Seit 2005 habe er sich seinen Lebensunterhalt zunächst bei der Imperial Capital Bank in Los Angeles verdient, anschließend bei bei Miller Buckfire in New York angeheuert, schließlich sei er als Hedge Fonds-Analyst bei der von einem früheren Goldman-Makler gegründeten Firma Wexford Capital in Connecticut gelandet.

Neigung zu Verschwörungstheorien

Aus einer Presseerklärung der US-amerikanischen Finanz-Regulierungsbehörde FINRA vom 11. September 2008 geht das unfreiwillige Ende von Invandjiskis kurzer Börsenlaufbahn hervor. Die Wettbewerbshüter entzogen dem jungen Bulgaren unter dem Vorwurf des Insiderhandels die Lizenz zum Wertpapierhandel. Dabei hatte sich Ivandjiiski eines vergleichsweise kleinen Dalaveras (bulgarisch für schmutziges Geschäft) schuldig gemacht. Nachdem er bereits vor der öffentlichen Verkündigung Kennnis davon bekommen hatte, dass eine Kreditlinie für die zur Hawaiian Holdings Inc. gehörenden Hawaiian Airlines um 91 Mio $ erhöht werden würde, erwarb er 1000 Anteile der Hawaiian Holdings Inc zum Stückpreis von 4,75 $. Diese konnte er nach Bekanntgabe der Kreditgewährung zum Preis von jeweils 5,53 $ abstoßen und so einen Profit von 780 $ machen.

Wird der finanzpolitische Sachverstand der Autoren von Zero Hedge auch allgemein anerkannt, so werfen Kritiker dem Weblog eine gewisse Tendenz zu Verschwörungstheorien und eine apokalyptische Weltsicht vor. Nicht alle schätzen Tyler Durdens kathartische Vision eines "Dow Zero", eines "Marktkollaps, der zur Eliminierung der großen Banken führt und einen freien Marktkapitalismus erweckt". Selbst wenn sie sich vielleicht über die Aussage des Fight Club-Tyler Durden amüsierten: "Durch diese Fenster werden wir den Kollaps der Finanzgeschichte sehen. Einen Schritt näher zum wirtschaftlichen Gleichgewicht."

Zuletzt war es Boyd Erman von der kanadischen Tageszeitung The Globe and Mail, der sich fragte: "Wer ist dieser Tyler Durden und soll man ernstnehmen, was er schreibt?" Erman reagierte damit darauf, dass Tyler Durden am 18. August 2011 die Bonität kanadischer Banken in Zweifel zog. Er tat dies zu Unrecht, meinte Erman, der jedoch zugestand: "Was der schreibt, wird ziemlich weit verfolgt. Einige der großen Geldmanager verfolgen die Seite."