Die barbarische Moderne

Wie auf dem iPad der zivilisatorische Film rückwärts läuft

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im ersten Teil ging es um den Der Kapitalismus der Trostlosigkeit. Angesichts der waltenden Umstände hier der zweite neue Begriff: Nach der Moderne und der Postmoderne den der barbarischen Moderne. Sie ist charakterisiert durch eine Art Zeitschleife, mit der die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gleichzeitig zitiert als auch negiert werden, während man wieder an längst überwundene Praktiken anknüpft. Ein konkretes Beispiel: Das bloße Massakrieren von Zivilisten, darunter vielen Kindern, ist nur barbarisch. Entschuldigen sich aber danach die verantwortlichen Militärs wie jetzt jüngst in Afghanistan für jene Nato-Truppen, die zum wiederholten Male ein Massaker unter der Zivilbevölkerung anrichteten, so ist das die barbarische Moderne.

Sie lässt sich an verschiedenen Praktiken festmachen. So ist die Folter seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland aus dem Gerichtswesen verbannt, auch ein Ergebnis der Aufklärung. Bereits 1642 bezeichnete der calvinistische Geistliche Johannes Grevius die Folter als "barbarisch". Heute ist sie bekanntlich durch die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen geächtet.

Obwohl nie offiziell thematisiert, wurde Folter in allen Kriegen praktiziert, im Osten wie im Westen, auch die britische Armee und die US-Militärs unterhielten entsprechende Verhörzentren nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Neue an der barbarischen Moderne ist nun, dass Folter von offizieller Seite wieder wie vor dem 18. Jahrhundert zu den verhandelbaren Praktiken erhoben wird. Dazu gehört die Debatte um die Folterdrohungen des Frankfurter Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner im Herbst 2002, aber dazu gehören vor allem die Rechtfertigung der Folterpraxis durch die US-Regierung von Georg Bush jun. Während in Regimen wie im Irak unter Hussein und in Ägypten unter Mubarak die Folter in einer Dunkelzone praktiziert wurde, zeichnet sich die barbarische Moderne dadurch aus, dass die Misshandlungen von Menschen im Licht offizieller staatlicher Legitimierung geschieht.

Zur barbarischen Moderne gehört auch die Suspendierung von nationalen und internationalen Rechtsordnungen. Das Töten von angeblichen "Staatsfeinden" ohne Gerichtsverhandlungen durch ferngesteuerte Drohnen oder Killerkommandos gehört ebenso dazu wie die Einrichtung von quasi rechtsfreien Zonen wie in Guantanamo. Der im "Krieg gegen den Terrorismus" identifizierte "feindliche Kämpfer" ist weder ein Gesetzesbrecher, für den das Strafrecht gilt, noch ein Soldat, auf den die Genfer Konvention zutrifft. Er ist ein Mensch ohne jedwede Rechte. Das im Zuge der Terrorismusbekämpfung debattierte sogenannte "Feindstrafrecht" ist nicht anderes wie die völlige Entrechtung von Verdächtigen.

Suspendierung des Völkerrechts

Im internationalen Bereich zeichnet sich die barbarische Moderne durch die Suspendierung des Völkerrechts aus, was pikanter- oder perfiderweise durch den Verweis auf Menschenrechtsverletzungen geschieht. Sie zeigt sich etwa in der Bombardierung einer Großstadt wie Tripolis, deren Obszönität mittlerweile allerdings gar nicht mehr kaschiert wird.

Warum so in Libyen die Menschenrechte verteidigt werden, in Bahrein, Syrien oder dem Jemen aber nicht, ist dann nur noch eine Frage des (wirtschaftlichen?) Interesses der beteiligten Mächte. De facto erlaubt die angebliche Verteidigung von Menschenrechten künftig jeden Angriffskrieg, ein Anlass findet sich immer und wenn nicht, wird er inszeniert. Wo aber so das internationale Recht abgeschafft wird, herrscht eben nur noch das Recht des Stärken.

Dies macht sich auch in der Abschottung der wohlhabenden Länder gegenüber den Flüchtlingen aus den Elendszonen der Welt bemerkbar. Wie einst bei der Chinesischen Mauer werden etwa in Israel Großbauten errichtet, um unerwünschte Menschen fernzuhalten. Griechenland erwägt gar einen Wassergraben. Europas Grenzen sind längst zur Todeszone geworden, in denen Flüchtlinge ertrinken, verhungern, ersticken oder verdursten - weit mehr, als je am Eisernen Vorhang zu Tode kamen.

Ein weiteres Beispiel für die barbarische Moderne ist die Biologisierung sozialer Tatbestände, wie sie in den sozialrassistischen Ausführungen etwa von Gunnar Heinsohn oder Thilo Sarrazin aufscheinen. Auch hier wieder die Zeitschleife, die an die rassenhygienischen Vorstellungen der 1920er Jahre zurückführt. Das Barbarische ist die Unterscheidung von wünschenswerten und weniger wünschenswerten Kindern und das Moderne ist die Rechtfertigung dieses Vorgehens mit ökonomischen Kriterien.

Zertrümmerung des Soziaalstaats

Als barbarisch ließe sich auch die momentan stattfindende Zertrümmerung des Sozialstaates, eines der größten zivilisatorischen Errungenschaften der Neuzeit, bezeichnen. Unter dem Diktat des angeblichen Sparzwangs wird so in Ländern wie Irland, Griechenland und Portugal quasi die Demokratie suspendiert. Unter dem Spardiktat, das im eurounabhängigen Großbritannien genauso wie in Ungarn, Spanien, Italien oder Deutschland (vom Gesundheitsbereich bis Hartz IV) regiert, wird der kollektive Reichtum von Schwimmbädern bis Bibliotheken und die individuelle soziale Sicherheit zugunsten der Kapitalbesitzer zurückgefahren.

Verlängert sich dieser Trend beziehungsweise diese Politik, steht am Ende die Barbarei einer von tiefen Gräben und sozialer Verrohung gekennzeichneten Gesellschaft. Als deren blutigste Auswirkung können wir die Massenmorde von Oslo und das Phänomen der Amokläufer ansehen.

Die barbarische Moderne ist so wie ein rückwärtslaufender Film, in dem die verbannt geglaubten Alpträume der Vergangenheit erneut zum Leben erwachen und uns das Fürchten lehren. So wie Stefan Zweig in "Die Welt von Gestern" mit dem Ersten Weltkrieg das alte Europa untergehen sah, erleben wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Ende jener politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen, die aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges entstanden waren. Die Zeitschleife der barbarischen Moderne führt uns zurück in eine Situation, die an die 1930er Jahre erinnert: An eine krisenanfällige Wirtschaft, militärische Interventionen, einen schwachen Völkerbund, soziale Verwerfungen. Allerdings – und das ist das Moderne an der erneuten Barbarei - sehen wir uns heute diesen rückwärts laufenden Film auf einem iPad an.