150 unverhoffte Halb-Geschwister

USA: Wie Fortschritte in der Reproduktionsmedizin und die Informationsgesellschaft neue Familienbande schaffen, für die es noch keine sozialen Regeln gibt

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Wie problematisch die Suche nach dem "unbekannten Vater" sein kann, weiß die abendländische Kultur schon lange. Weltliteratur ist daraus entstanden, etwa Ulysees. Mythen, wie im Fall Ödipus, standen am Anfang einer weit reichenden Kulturströmung, der Psychonanalyse. Und der "abwesende Vater" ist als Schlagwort in der Diskussion über gute Erziehung immer noch sehr lebendig, trotz der "neuen Väter", die ja oft genug unter althergebrachten Bedingungen und Zeitzwängen für den Lebensunterhalt sorgen. Ein anderer Typus des "neuen Vaters", der Samenspender, hat diese Verpflichtung nicht. Er ist kein Teil der Familie. Oder doch? Und wie?

Wie viele Kinder mit einem Samenspender als Vater in den USA jährlich geboren werden, wisse niemand, berichtet die New York Times. Schätzungen vermuten eine Zahl zwischen 30.000 und 60.000. Der Name des Vaters ist eine Ziffer. Die Anonymisierung hindert aber, wie sich in der Vergangenheit schon öfter gezeigt hat, nicht daran, mehr über den unbekannten Vater herauszufinden.

Das muss nicht dessen Identität sein, die Neugier kann sich, wie Beispiele aus dem Zeitungsbericht zeigen, auf den Wirkungskreis der Samenspenden beschränken. So haben sich in den USA Interessensgruppen zusammengeschlossen, die sich via Netz, zum Beispiel über die Website Donor Sibling-Register, auf die Suche nach Geschwistern eines mit gespendetem Samen gezeugten Kindes machen. Ihre Ergebnisse waren erstaunlich. So fand eine Mutter, die eine Online-Gruppe zur Recherche nach Geschwistern ihres Sohnes gegründet hat, 150 Halb-Brüder und Halb-Schwestern mit dem selben Samenspender als Vater:

It’s wild when we see them all together - they all look alike.

50 und mehr solcher Halb-Geschwister, die sich via Netz finden, untereinander kommunizieren und auch regelmäßig etwas gemeinsam unternehmen, keine Ausnahme. Es gibt laut Informationen der New York Times mehrere dieser Gruppen mit der eigenartigen Familienbande.

Anders als in europäischen Ländern ist die Vaterschaft von Samenspendern in den USA nicht begrenzt. Manche Samenspender, die davon ausgingen, dass ihre Spende nur eine kleine Zahl von Kindern zeugen sollte, sehen sich getäuscht und überrascht. Zitiert wird unter anderen der Fall eines Spenders, der auf Excel-Tabellen Informationen von mittlerweile 70 Kindern verbucht.

Neue "Familien" und Ängste

Wie es in den USA gar nicht anders erwartet werden kann, schürt das Phänomen einerseits die Bildung neuer Interessensgruppen mit einer spektakulär modernen Familien-Herkunft und andrerseits die Bildung sehr spezifischer Ängste. Zur sexuellen Aufklärung ihrer Tochter, wird eine Mutter zitiert, gehöre auch, dass sie die Identitätsnummer ihres Vaters kenne, um einem möglichen Inzest aus dem Wege zu gehen:

"My daughter knows her donor’s number for this very reason. She’s been in school with numerous kids who were born through donors. She’s had crushes on boys who are donor children."

Ob das Risiko statistisch tatsächlich eine relevante Größe hat - was nicht recht wahrscheinlich erscheint - kommt im Beitrag allerdings nicht zur Sprache. Es reicht den Experten, die sich dazu äußern, dass das Phänomen der durch Samenspenden gezeugten Kinder sich immer weiter verbreitet. So werden von ihnen - wie bei der Besprechung eines Filmskripts - Möglichkeiten erörtert, die von der genetischen Ausbreitung seltener Krankheiten durch solche Vielfachväter bis zur oben genannten Phantasie des Inzests zwischen Halbgeschwistern reichen:

Some experts are even calling attention to the increased odds of accidental incest between half sisters and half brothers, who often live close to one another.

Doch auch in den Reihen der Amercan Society for Reproductive Medicine (ASRM) äußert man sich vorsichtiger gegenüber alten, freizügigen Modellen zur Häufigkeit von Kindern vom selben Spender. Die früheren Schätzungen seien obsolet; man müsse die Kriterien und die Handhabung von Richtlinien, was die Zahl der Nachkommen anbelangt, neu justieren, wird der ASRM-Vorsitzende Bryski zitiert. Früher sei er skeptisch gewesen, dass es Spender mit mehr als 100 Kindern geben könnte. Nun sei es Zeit, neu über Regulierungen nachzudenken.

Das Fruchtbarkeitsbusiness, das gute Geschäfte damit mache, die Nachfrage nach "populären Samenspendern" zu stillen, ohne Rücksicht auf etwaige Risiken, müsse mehr reguliert werden, fordern Kritiker. Heikel wird es da, wo dies die Anonymität der Spender berührt, die laut Kritiker neu überdacht werden muss und dort, wo Fragen auftauchen, die durch die oben genannten Interessensgruppen aufgeworfen werden: Wie lebt sich in dieser ungewohnten Familie?

How do you make connections with so many siblings? What does family mean to these children?