Arktisches Meereis: Neues Rekordminus erreicht
Der Eisschwund auf dem Polarmeer setzt sich fort. Bereits ein bis zwei Wochen vor Ende der Schmelzsaison wurde erneut ein Minusrekord der Eisbedeckung aufgestellt
In den vergangenen Wochen ist hier mehrfach über den erneuten dramatischen Rückgang des Meereises auf dem arktischen Ozean berichtet worden (zum Beispiel Arktis: Eventuell neuer Minusrekord, Arktis: Nordwestpassage offen oder Polarstern am Nordpol). Nun ist es so weit:Wie das Institut für Umweltphysik der Universität Bremen mitteilt, zog sich das Eisgebiet am 8. September, ein bis zwei Wochen vor Ende der Schmelz-Saison in der Arktis, auf einen Wert zurück, der noch unter dem bisherigen Rekord aus dem Jahre 2007 lag.
Die Meereisbedeckung hat einen ausgeprägten Jahresgang. Auf ihrem Höhepunkt im März beträgt sie um die 15 Millionen Quadratkilometer, zur Zeit der niedrigsten Ausdehnung Mitte September, kurz bevor zur Zeit der herbstlichen Tag-und-Nachtgleiche auch am Nordpol die Sonne wieder hinterm Horizont versinkt, nur um die fünf Millionen Quadratkilometer.
Seit Jahren wird aber ein Rückgang sowohl der Minima, als auch -- im geringeren Umfang - der Maxima berichtet. 2007 war der Rückgang besonders drastisch, als sich das Eisgebiet - alle Zahlen beziehen sich auf die Flächen, die zu mindestens 15 Prozent mit Eis bedeckt sind - auf nur noch 4,267 Millionen Quadratkilometer zurückzog. Das waren rund 20 Prozent weniger, als das bis dahin kleinste Minimum, womit sich im Abwärtstrend ein regelrechter Sprung abzeichnete.
Dass das kein einmaliger Ausrutscher war, zeigt sich nun endgültig spätestens in diesem Jahr. Am 8. September wurde der bisherige Rekord erneut unterboten. Das Eisgebiet umfasste nur noch 4,24 Millionen Quadratkilometer und war an den Rändern so löchrig, dass auch für die nächsten Tage noch mit einem weiteren Verlust zu rechnen ist.
Aber die Meereisausdehnung im September ist nur einer der Parameter, die Auskunft über den Zustand des Meereises geben. Ein anderer ist die Dicke des Eises oder dessen Volumen, also das Produkt aus Dicke und Ausdehnung. In gewisser Weise ist dies sogar ein interessanteres Maß. Die Bedeckung wird nämlich nicht nur durch die Luft- und Wassertemperatur, sondern auch durch Wind und Strömungen stark beeinflusst. In einigen Jahren wird das Eis zusammengeschoben, die Fläche ist also klein, die Dicke dafür größer, in anderen Jahren kann es hingegen eher auseinander gezogen werden. Die Werte für die Bedeckung scheinen dann weniger bedenklich, aber tatsächlich ist das Eis dünner, womit es schneller tauen kann.
Die Daten, die wir über das Volumen haben, sind zwar weniger genau als die über die jeweilige Ausdehnung des Eises, zeigen aber eine ebenso bedenkliche Entwicklung wie die der Bedeckung. Der Trend zeigt sogar noch hartnäckiger als jener der Bedeckung nach unten. 2010 hat sich das Eis zum Beispiel lange nicht so weit wie 2007 zurückgezogen, das Eisvolumen erreichte aber seinen bisher niedrigsten Wert. Und dieser wiederum wurde in diesem Jahr bereits Ende August unterboten.
Alles in allem deutet manches darauf hin, dass der Rückgang nicht nur ständig weitergeht, sondern sich sogar beschleunigt. Ein gleich bleibender Rückgang - natürlich ist derlei immer mit "Rauschen", das heißt, in diesem Falle von jährlichen Schwankungen des Atmosphäre-Ozean-Eissystems, überlagert - entspräche einem linearen Trend.
Wie Lars Kaleschke, Juniorprofessor für Fernerkundung im Institut für Meereskunde am KlimaCampus der Universität Hamburg, hervorhebt, lässt sich aber an die Datenpunkte inzwischen besser als ein einfache Gerade, ein Polynom anpassen, also eine Kurve, die künftig einen noch schnelleren Rückgang erwarten ließe.
In der obigen Grafik ist das eine rote Kurve, deren Verlauf erahnen lässt, dass in den nächsten Jahren das Eis ziemlich schnell verschwinden könnte. Kaleschke betont allerdings, dass sich damit noch keine Vorhersage treffen lässt.
Wie auch beim linearen Trend handelt es sich lediglich um eine Beschreibung der vergangenen Abläufe. Konkrete Aussagen über die Zukunft lassen sich aus solch statistischen Betrachtung generell nicht machen, so lange nicht eine physikalische Gleichung formuliert werden kann, die den weiteren Verlauf vorhersagt. Sie geben allerdings eine Idee davon, welcher Art die Zusammenhänge sein könnten.
Unterdessen weist Dirk Notz vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg darauf hin, dass nicht nur auf das Jahresminimum geschaut werden sollte. Wichtiger noch sei der Bedeckungsgrad im Juli, wenn die Sonne noch sehr hoch steht.
Und um den ist es ebenfalls zunehmend schlechter bestellt, wie obige Grafik zeigt. Die Folge: Während die Sonne noch vergleichsweise hoch steht und in weiten Teilen der Arktis ganztägig scheint, ist heute deutlich mehr Wasser eisfrei als noch vor zehn oder gar 20 Jahren. Während das Eis aber rund 60 Prozent der Sonnenstrahlung zurückstrahlt, nimmt das unbedeckte Wasser nun die Energie auf und erwärmt sich. Der größte Teil davon wird umgehend in das Abtauen weiteren Eises umgesetzt und macht sich daher noch nicht in veränderten Temperaturen bemerkbar. Das wird sich aber mit dem weiteren und früheren Eisrückgang in den nächsten Jahrzehnten zunehmend ändern.
Fazit: Das Meereis in der Arktis ist durch die globale Erwärmung auf eine ziemlich schiefe Bahn geraten. Zwar zeigen Simulationen, von denen Dirk Notz bei Real Climate berichtet, dass der Prozess aufgehalten und umgekehrt werden könnte, wenn rechtzeitig der weitere Anstieg der Treibhausgasemissionen aufgehalten würde. Doch danach sieht es im Augenblick überhaupt nicht aus.
Daher ist zu befürchten, dass der Klimawandel in der Arktis irgendwann in einigen Jahrzehnten oder vielleicht auch erst gegen Ende des Jahrhunderts in eine zweite Phase übergeht, die in den Simulationen bisher nicht berücksichtigt ist, weil die damit verbundenen Prozesse mit ihren Zeit- und Mengenskalen erst noch richtig erforscht werden müssen. An den Rändern des arktischen Ozeans sind im Boden große Mengen Methan in Gashydraten gebunden. Mit zunehmender Erwärmung des Meerwassers könnten größere Mengen dieses höchst effektiven Klimagases freigesetzt werden.
Außerdem schlummern auch in den Permafrostböden Sibiriens und Nordamerikas riesige Mengen Kohlenstoff in Form eingefrorener Pflanzen und Tierkadaver. Sobald diese Böden auftauen, wird sich die Tundra in gewaltige Moor- und Sumpflandschaften verwandeln, in der dieses alte organische Material zu den Treibhausgasen Kohlendioxid und Methan zersetzt wird.