Wie beweist ein nackter Mann, dass er keine Kleidung an sich hat?

Warten auf Tag X

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Kommt sie oder kommt sie nicht? Das war die Frage der letzten Monate, als es um die Griechenlandpleite ging. Offenbar geht es nunmehr nicht um die Frage ob die Pleite kommt, sie ist bereits da. Es geht in den Köpfen der meisten Beobachter nur noch um das wann und wie.

Viele Griechen sehnen sich zurzeit nur danach, dass sie endlich kommt. Die Menschen auf der Strasse haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Für sie ist die Zeit bis zum Knall vergleichbar mit dem Warten auf eine notwendige Operation im Krankenhaus. Man möchte, dass alles so schnell wie möglich vorbei ist. Was danach kommt oder an weiterem Unbill kommen könnte, das wird von einheimischen und internationalen Medien seit nunmehr fast zwei Jahren so intensiv ausgebreitet, dass es keinen mehr erschreckt. Was Wunder.

Kaum einer der durchschnittlichen Griechen hat mehr Geld

In mittlerweile fünfter Auflage erleben sie die Diskussion um die Zahlung der nächsten Kredittranche des IWF, der EZB und der EU. Die Prüfer der Troika waren vor knapp zwei Wochen überstürzt aus dem Land geeilt. Erneut versagte die regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit. Alles sei planmäßig verlaufen, verkündete der griechische Regierungssprecher, während internationale Medien und Politiker entsetzt Schreckensszenarien an die Wand malten.

Vollkommen naiv wettete Regierungssprecher Professor Ilias Mossialos, dass man ihm glauben müsse. Doch dieses Vertrauen hat sich die Regierung endgültig verspielt. Offen drohen EU-Politiker dem Land, sollte es die Planvorgaben nicht erfüllen, mit einem Zahlungsstopp. Finanzminister Venizelos verkündete in der Nacht des 6. September eiligst einen Notfallzusatzsparplan. Mit diesem und den damit verbundenen Beamtenentlassungen würde man der Lage Herr werden.

Bereits vor dem letzten Wochenende spekulierte Bloomberg aufgrund von vorliegenden Informationen über die baldige Pleiteerklärung, des Landes. Schon zum vergangenen Wochenende könnte es so weit sein, hieß es. Fast sämtliche anderen Medien griffen dies auf.

"Bösartige Gerüchte von Spekulanten", antwortete die griechische Regierung. Fieberhaft bereitete sich die Ministermannschaft auf die jährliche internationale Messe von Thessaloniki vor. Dort redet der Premier traditionsgemäß anlässlich der Eröffnung zur Lage der Nation und beendet die Sommerpause.

Alte Traditionen gehen, neue kommen

Bislang sah die Tradition vor, dass der jeweilig Regierende eine Reihe von Erleichterungen für Steuerzahler, neue Investitionsprojekte oder zumindest einen Zukunftsplan in Aussicht stellt. Diesmal kam alles anders. Griechische Medien berichteten in äußerst ironischer Weise über den "liebenswerten Empfang, den die Wähler ihrem verehrten Premier bereiteten".

Tausende Griechen waren aus allen Landesteilen und vor allem aus der Hauptstadt Athen angereist, um die zweitgrößte Stadt des Landes für ein paar Tage in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Wie es sich für Protestler gehört wurden zusammen mit der Gezahlt wird nicht Bewegung die Mautstationen auf den griechischen Autobahnen besetzt.

In Thessaloniki selbst kamen viele Demonstranten nicht weit. Tausende Einsatzpolizisten, deren Zahl mit bis zu 10.000 angegeben wird, kontrollierten jeden, der sich der Innenstadt nähern wollte. Geschäfte wurden geschlossen, der Autoverkehr unterbunden. Es kam zu vorbeugenden Festnahmen von verdächtig erscheinenden Personen. Trotz dieser polizeilichen Maßnahmen kam es über das Wochenende in Thessaloniki zu den seit dem IWF-Gang mittlerweile traditionellen Straßenschlachten.

Bei diesen taten sich jedoch nicht nur die Sparkursgegner hervor. Vielmehr beklagten sich die üblichen Verdächtigen, dass sie es gar nicht bis zum Messegelände geschafft hätten. Dort prügelten sich bereits die streikenden Taxifahrer mit der Polizei. In der Warteschlange standen Anhänger des auf seltsamen Wegen in die dritte Fußballliga geschickten ehemaligen Fußballerstligisten Iraklis Thessaloniki, gegen Hochschulreformen protestierende Studenten und weitere Bürgergruppen. Vielleicht begründet auch dies eine neue Tradition im Land, denn bisher stellten sich die Hellenen selten in Schlangen an.

Ein falscher Regisseur bei der Messe

Statt unter dem Schutz der Polizeistreitmacht zumindest das übliche Programm durchzuziehen und somit für etwas Ruhe zu sorgen, lieferte ausgerechnet die griechische Regierung den nächsten Anhaltspunkt für Gerüchte. Premier Papandreou hatte am Samstagabend in seiner Eröffnungsrede vom Krieg geredet, in dem sich sein Land befände. Mehrmals appellierte er an das Vaterlandsgefühl der Hellenen und rief die Auslandsgriechen dazu auf, Spendenfreudigkeit zu zeigen.

In der ermüdenden Ansprache betonte er darüber hinaus, dass es für ihn ein erstrebenswertes Ziel sei, wenn er es fertig bringen würde, dass es in jedem Haushalt einen Erwerbstätigen gibt. Die Opposition reagierte entsetzt, zumal bei der derzeitigen Inflations- und Abgabenentwicklung ein normales Arbeitnehmergehalt kaum für Miete, Strom und Steuern reicht. Papandreou betonte darüber hinaus, dass er alles unternehmen würde, damit Krankenhäuser und Schulen offen bleiben würden.

Da bereits bekannt war, dass am Montag das griechische Schuljahr ohne Schulbücher und wie sich trotz gegenteiliger Beteuerungen zeigte auch ohne Schulbuchersatz oder Lehrer eröffnet wurde, schwante den Griechen Schreckliches.

Papandreou beklagte sich bitterlich über die Justiz des Landes. Diese habe die Verfolgung von den Schuldigen am Desaster so weit verzögert, dass sie nun nicht mehr möglich wäre. Dass vor allem die schuldigen Politiker aufgrund eines von seiner Partei Anfang des Jahrtausends initiierten Verfassungsregelung in Griechenland nur von Parlamentariern angeklagt werden können, vergaß der smarte Politiker ebenso wie die noch nicht einmal theoretisch erfasste Möglichkeit, korrupte Politiker auch in Europa anzuklagen. Denn schließlich hat die griechische politische Skandalindustrie ihren Schaden über die Rettungsschirme in alle EU-Länder exportiert.

Papandreou unterließ jedoch nicht, anzudeuten, dass in seinen Augen andere europäische Regierungen eine Mitschuld an der hellenischen Tragikomödie hätten. Namen nannte er nicht, jedoch deuteten fast alle Kommentatoren dies als Fingerzeig auf Deutschland. "Pleite made in Germany" titelte zum Beispiel die linksliberale Eleftherotypia.

"Fahrt in nie kartographisierte Gewässer"

Papandreou beschrieb den zukünftigen Weg des Landes als "Fahrt in nie kartographisierte Gewässer". Noch im April 2010 hatte er anlässlich des IWF-Gangs getönt, der Weg des Landes sei mit Karten vorgezeichnet.

Gespenstisch wurde die Situation am Wochenende als sich die traditionell für den Mittag terminierte Pressekonferenz des Regierungschefs immer mehr verschob. Die Griechen erfuhren auf allen Rundfunkkanälen, dass eine eilige Ministerratssitzung einberufen worden war. Statt wie angekündigt zu sparen und Thessaloniki mit einem kleinen Kernteam zu besuchen hatte Papandreou seine gesammelte Regierungsmannschaft anreisen lassen. "Hatte Bloomberg vielleicht doch Recht?", fragten sich Kommentatoren.

Wer bei einer solchen Nachrichtenlage Panik vermuten würde, sah sich getäuscht. Weder rannten die Hellenen noch mal kurz zum Geldautomaten, um so die letzten Euros zu bunkern, noch bemerkte man eine andere Reaktion außer einem zynischen Fluchen. Die Griechen haben sich offenbar in ihre Wohnungen zurückgezogen und warten auf das Ende. Es interessiert kaum jemanden mehr welcher Staatsbetrieb feilgeboten werden soll. Denn fast niemand glaubt mehr an etwas anderes als das baldige Ende.

Unter diesen Umständen zeigte sich auch kaum Regung als Finanzminister Venizelos am Sonntagnachmittag mit dreistündiger Verspätung die Pressekonferenz einläutete. Langatmig erklärte er warum man wieder gescheitert wäre und was dies alles verursacht hätte. Er räumte eine Woche nach seiner Schockprophezeiung von knapp über fünf Prozent Rezession nun eine Rezession knapp über 5,3 Prozent ein.

Ebenso wie Papandreou konnte er außer den "ausländischen Regierungen und Märkten" allerlei Entschuldigungen für das erneute Versagen anführen. Je länger die Ansprache sich zog, umso mehr erwarteten die Zuschauer endlich die Ansage der Pleite. Stattdessen gab es ein unhappy End. Es gibt innerhalb von fünf Tagen das nächste Notfallsparprogramm. Diesmal wird es von einer Sondersteuer auf Wohnraum bestimmt. Bis zu zehn Euro pro Quadratmeter müssen die Griechen nun mit den nächsten Stromrechnungen entrichten. Wie es sich für eine neue Tradition gebührt, lies der Minister die Tür für weitere Notfallmaßnahmen offen.

Galgenhumor

In der nachfolgenden Pressekonferenz seines Chefs konnten die Griechen erneut erleben, dass Papandreou auf direkte, nicht vorher abgesprochene oder unpassende Fragen nie antwortet. Eine Frage, warum er nicht endlich die paar Tausend Reichen besteuere, die achtzig Prozent des griechischen Reichtums gebunkert hätten beantwortete er trotz plastischen Beispiels mit nichts sagenden Phrasen. Doch auch dies hat niemanden mehr wirklich aufgeregt, es ist Tradition.

Die nächste Tranche des Hilfskredits wird offensichtlich kommen. Noch mag keiner der Verantwortlichen eingestehen, dass die griechischen Bürger der berühmte "nackte Mann, dem man nicht in die Tasche greifen kann" sind. Allerdings soll Presseberichten zufolge diesmal die Tranche selbst tranchiert werden. Bis Mitte Oktober hat Hellas maximal noch Geld um zumindest, wie einige der wenigen aktiven Lehrer erfahren durften, "alle fünfzehn Tage 300 Euro statt des Gehalts zu überweisen."

"Na und?", fragen viele Griechen in Diskussionen, "wenn ich die Steuern nicht mehr zahlen kann, dann gehe ich in den Knast und werde bei wohliger Wärme umsonst gefüttert." Mit Galgenhumor positiv sehen einige auch das Fehlen der Schulbücher. "Schau, in den Geschichtsbüchern steht, dass wir die Türken unter anderem verscheucht haben, weil sie uns den Zehnten nahmen", meinte Thanassis, ein Journalist heute scherzhaft im Privatgespräch.

Wie in Gottes Namen soll die Lehrerin den Kids erklären, dass der Zehnte der Türkten schlimmer war als das heutige Ausbluten der arbeitenden Eltern und das Tätscheln der steuerflüchtigen oberen Zehntausend samt der Spekulantenbande? Was für ein Glück für die Regierung, dass dies nun nicht eintreten kann. (lächelnd) Ein Verschwörungstheoretiker könnte mit diesem Fakt ein ganzes Buch füllen.