Autoritäre Wissenschaft und das Recht auf Placebo-Medizin

Wer darf entscheiden, was uns gesund macht?

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Obwohl ihr eine wissenschaftliche Basis fehlt, erfreut sich die alternative und komplementäre Medizin nach wie vor großer Beliebtheit - und zwar bei Patienten ebenso wie unter Ärzten. Im Kontext der wissenschaftlichen Medizin führt regelmäßig zu einem Streit, welche Heilverfahren angeboten werden sollen. Selbst wenn alternative Verfahren nur einen Placebo-Effekt auslösen, könnte damit vielen Patienten schon geholfen werden. Warum sollen die Betroffenen also nicht selbst darüber entscheiden dürfen, wessen Hilfe sie in Anspruch nehmen? Eine Herausforderung für eine auf Ausschließlichkeit pochende wissenschaftliche Autorität.

In der wissenschaftlichen Medizin gilt die randomisierte und kontrollierte Studie als der beste Nachweis für die Wirksamkeit einer Therapie. Das bedeutet, dass die Versuchspersonen nach dem Zufallsprinzip in eine von verschiedenen Behandlungsgruppen sortiert werden. Neben der Zielgruppe mit der zu testenden Therapie gibt es mindestens eine Kontrollgruppe, die die beste bisher bekannte Therapie, ein Placebo oder keine Behandlung erhält. Beim Placebo handelt es sich um eine Scheintherapie, die die Teilnehmer nicht von der Zielbehandlung unterscheiden können, beispielsweise eine Zuckerpille anstatt des zu testenden Medikaments. Diese Form der Kontrolle ist wichtig, da in vielen Fällen schon das Aufsuchen eines Arztes, die Gabe irgendeiner Substanz oder reines Warten den Gesundheitszustand verbessert.

Vertreter der wissenschaftlichen Medizin setzen sich dafür ein, dass nur solche Therapien, die einen Test wie die randomisierte und kontrollierte Studie überstanden haben, in der Praxis angewendet werden. Das richtet sich vor allem gegen die sogenannte alternative und komplementäre Medizin, wie beispielsweise Homöopathie oder Naturheilkunde, deren wissenschaftliche Basis umstritten ist. Aber auch viele Verfahren der Schulmedizin, wie sie an Universitäten gelehrt und von Ärzten praktiziert wird, sind nicht auf diese Weise getestet oder gelten als umstritten. Die Debatte darüber, wie wissenschaftlich die Medizin sein kann und muss, besteht schon seit Jahrzehnten und flammt sowohl in der Fachwelt als auch in der Gesellschaft immer wieder neu auf.

Eine Lanze für alternative Verfahren

Die August-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins GEO titelte mit einem Artikel "Die neue Heilkunst", in dem die Autorin positive Berichte über die Wirksamkeit von beispielsweise Akupunktur, Meditation oder Heilkräuterkuren vorstellte. Es dauerte nicht lange, bis dieser Bericht auf der Facebook-Seite des Magazins und in der Wissenschaftsblogosphäre stark kritisiert wurde. Beispielsweise äußerten sich Vertreter der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften stark ablehnend. Mancherorts war gar von "GEOGate" die Rede, da sich die Redaktion des Wissenschaftsmagazins nach der Konfrontation mit der Kritik hinter ihre Autorin stellte.

Historisch ist ein Anspruch von Vertretern der wissenschaftlichen Medizin gewachsen, nicht nur die beste Form der Medizin, sondern die einzige zu sein. Entsprechend argumentierte etwa Marcia Angell, frühere Chefredakteurin des New England Journal of Medicine, nur wissenschaftliches Vorgehen könne den Wirksamkeitsnachweis erbringen und daher könne es nur eine Medizin geben, nämlich die wissenschaftliche.1 Ähnlich äußert sich Michael Baum, emeritierter Professor für Chirurgie des University College London, im Interview mit Richard Dawkins. Sobald ein Wirksamkeitsnachweis erbracht sei, höre etwas auf, eine Alternative zu sein und werde als Medizin anerkannt. In Reaktion auf den GEO-Artikel argumentierte jüngst auch Anatol Stefanowitsch, Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg, die Bedeutung von "Medizin" schließe nur die wissenschaftliche ein und daher könne es gar keine alternative Medizin geben.