Zurück in die Zukunft

Papst desertiert in ethischen Minimalismus

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Irgendwie verrückt, der Papst im Bundestag. Komisch schon der Auftritt in Berlin- Tegel, Donnerstag 10.16 MEZ: Bundespräsident Christian Wulff, römisch-katholisch, geschieden und in zweiter Ehe verheiratet, begrüßt devot den "Heiligen Vater". Gleich zweimal benutzt er die absurde Floskel (man vergleiche die Bibel, wo in Matthäus steht: "Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel" (Mt 23:9, Einheitsübersetzung).

"Besuch Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. Rede vor dem Deutschen Bundestag", so die BU des Bilderdienstes des Deutschen Bundestags. Bild: Deutscher Bundestag/Lichtblick/Achim Melde

"Willkommen zu Hause, Heiliger Vater". Zu Hause, das ist im Moment Deutschland. Da ist er also, der Heilige Vater. Gespannte Erwartung nachmittags im Plenum. Die Reihen links sind weniger gelichtet, als zuvor angenommen: die Kraft des Faktischen. Auch Gysi, Sohn einer Familie mit jüdischen Vorfahren, hat ihm brav die Hand geschüttelt. Benedikt ist nach Lammers Begrüßung dran, er bedankt sich artig, vergisst nicht zu sagen: Als Papst ist er gekommen, als Bischof von Rom. Weiße Soutane, goldenes Kreuz. Er nennt die Rolle des "Heiligen Stuhls": "Partner innerhalb der Staatengemeinschaft."

Dann wird klar: Nicht er, die Bibel will die Politiker belehren. Beispiel Salomo, Thronbesteigung. Es geht nicht um Erfolg! "Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit Untergeordnet." Salomo hatte ein "hörendes Herz". Das wünscht sich Ratzinger auch von den Abgeordneten im Bundestag.

Aber ist die Rede interessant? Eher nicht. Ratzinger kommt als Lehrmeister daher, Ton maßvolles Understatement, gelegentlich ein kleiner Anfall von Witz ("Im Ton des Oberseminars", schreibt die Welt). "Wie erkennt man, was recht ist?" Flüchtiger Ausflug in die abendländische Rechtsgeschichte. Außer dem Bibelbuch 1. Könige werden Kirchenvater Augustinus und der österreichische Rechtsphilosoph Hans Kelsen zitiert. Benedikt resümiert, beklagt die Herrschaft der positivistischen Vernunft. Im Bild: Wir sitzen in Betonbauten, "in denen wir uns Klima und Licht selber geben". Damit meint er bestimmt nicht den Vatikan. Was meint er dann? Er meint das funktionalistische Europa.

Ist das neu? Keineswegs. Der Papst zitiert nur sich selbst. Oder vielmehr, er zitiert Professor Ratzinger. Als Ordinarius für Fundamentaltheologie hielt er 1959 seine Antrittsvorlesung in Bonn: "Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen". Seit dieser Zeit widmet er sich dem Verhältnis von "fides et ratio", von Glaube und Vernunft. Das postmetaphysische Zeitalter, in dem Gott "im Ghetto der Funktionslosigkeit" angesiedelt ist, hat Ratzinger immer wieder kritisiert (so etwa Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum, München 3. Aufl. 2005, Zitat S.15). Es ist sein ureigenes Thema.

Nichts Neues also aus Rom? Benedikt taucht angesichts des Chaos in der Politik und in der Welt in die reine Luft akademischer Gelehrsamkeit ab. Ein Reflex, eine Flucht. Vor allem eine Flucht aus der Verbindlichkeit. Stehende Ovationen im Plenarsaal. Schulterschluss zwischen einer kopflos gewordenen Politik mit all ihren Ausweglosigkeiten und dem geistigen Lenker aus Rom, der auch nicht weiter weiß. Statt unbequemer Wahrheit - nur angestaubtes Ethos.

"Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss"

Dann doch ein interessanter Satz: "Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss." Unwillkürlich drängen sich die Meldungen des vergangenen Jahres auf. Tausende missbrauchte Kinder und Jugendliche, zahllose aufgedeckte Fälle in Amerika, Kanada, Europa. In den 27 deutschen Bistümern geht seit 2010 das Grausen um, immer neue Einzelheiten kommen ans Licht, eine unbekannte Dunkelziffer, hinter den Zahlen zerstörte Biografien. Benedikt kennt das "dunkle Gesicht der Kirche" (Stern), aber hier im Parlament bekennt er sich nicht dazu.

Dagegen: Als "Schrei nach frischer Luft" bezeichnet der Papst die ökologische Bewegung der Siebziger. Erster Applaus im Bundestag. Greenpeace ist begeistert. Veröffentlicht prompt den Wortlaut der Rede auf der eigenen Website. So leicht sind Politikerherzen zu bewegen.

Papst Benedikt XVI. bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag. Vorsitz: Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert. Bild: Deutscher Bundestag/Lichtblick/Achim Melde

Gut und Böse zu unterscheiden und der Gerechtigkeit zu dienen, das soll sein. Damit endet Benedikts XVI. alias Joseph Ratzingers Vortrag vor dem Bundestag. In der Natur - wie in der Vernunft - sind göttliche Prinzipien anwesend. Das ist eines der Axiome, nicht nur in dieser Rede. Genau das vermisst man in der Kirche. Statt gerechter Prinzipien erlebt die Welt, nicht nur im "christlichen" Europa, eine verstaubte Kirchenhierarchie, Menschenferne, rigide Kleriker und ausgehöhlte Traditionen, denen niemand mehr folgen will. Geht dieser Auftritt in die Geschichte ein? Wohl eher nicht.

"Wo Gott ist, da ist Zukunft", lautet das Motto der Papstvisite 2011. Weiße Soutane, goldenes Kreuz, die äußeren Zeichen von Spiritualität. Unverkennbar auch der Anspruch auf Mitwirkung im Orchester der Staatengemeinschaft. Genügt da ethischer Minimalismus, populärphilosophisch verpackt? Benedikts Leib- und Magenthema, seine bedächtige Klage über ein positivistisches, entgleistes (weil entgeistigtes) Universum - trifft sie auf hörende Ohren über einen maßvoll gefüllten Plenarsaal hinaus?

Zweiter Tag, Papst im Lutherland

In Sachen Ökumene auch nur Ausflüchte und alte Kartoffeln. Allenfalls Austausch von Höflichkeiten an historischer Stätte. Im Erfurter Augustinerkloster hatte seinerzeit Martin Luther gewirkt. Konkrete Schritte lehnt das Oberhaupt der Katholiken weiter ab. Die Rede von einem "Gastgeschenk" im Vorfeld seines Besuches bezeichnet der römische Pontifex als "Missverständnis".

Benedikt beschwört stattdessen "die großen Gemeinsamkeiten". Beim Thema Gemeinsamkeiten sind aber auch Andersgläubige sensibel. Was bekamen die zu hören? In Deutschland leben viele Muslime; ihre Zahl wird, je nach Quelle, auf 3,3 bis 4,3 Millionen geschätzt. Rund 45 Prozent sind deutsche Staatsbürger. Das ist auch in Rom nicht unbekannt.

Benedikt bleibt sich treu, er räsonniert auch hier ganz unverbindlich: Muslime, so erklärt er, sind ein "Merkmal dieses Landes" geworden. Klingt irgendwie komisch. Banal und nichtssagend.

Im Erfurter Priesterseminar trifft:www.welt.de/politik/article13622812/Papst-Benedikt-traf-Missbrauchsopfer.html der Papst Missbrauchsopfer. Er bekunde "tiefes Mitgefühl und Bedauern", so heißt es in einer Erklärung. Eine halbe Stunde starke Emotion abseits des Protokolls.

Mit dem Hubschrauber geht es weiter ins katholische Eichsfeld. Zum Abendgebet. An der Marienwallfahrtskapelle Etzelsbach warten loyale Gläubige: Es sind 90.000, Maria zieht immer. In Erfurt hielten Missbrauchsopfer Mahnwache, forderten eine Aufarbeitung der sexuellen Übergriffe katholischer Priester. Hier, in Eichsfeld, vor der sogenannten "Mutter Gottes", ist kein Platz für unliebsame Geschichten. Die Organisatoren hatten hier mit viel weniger Andrang gerechnet. Die Mariengläubigen sorgen für gute Stimmung.

Entgegengesetzt die Zahlen aus Berlin: Lediglich 9.000 Menschen demonstrierten dort. Gerechnet hatte man da mit bedeutend mehr. Irgendwie auch eine Art "Merkmal". Am Wochenende ist noch Freiburg dran, Abschluss der Deutschland-Visite. Ob Papst Benedikt zum Thema Missbrauch in Freiburg noch Stellung nehmen wird? Im Moment sieht es nicht danach aus.

Der Papst ist in der Heimat angekommen. Ein kraftloser Auftritt. Auch die vollmundigen Kritikerkasten zeigen sich eher kusch. Allem Anschein nach lautet das wahre Programm dieses Besuchs: Zurück in die Zukunft.